Dienstag, 28. Juni 2016


Tatbestand Genozidleugnung


Rafal Lemkin ist heute kaum jemandem mehr ein Begriff, bestenfalls Völkerrechtler erinnern sich noch an den 1900 im Nirgendwo des heutigen Weißrussland geborenen polnisch-jüdischen Juristen. Dabei war er es, der unser Bewusstsein für die wohl größte nur denkbare menschliche Ungeheuerlichkeit schärfte. Und sie bei ihrem Namen nannte: Genozid. Völkermord.

Ein Attentat im fernen Berlin markierte den entscheidenden Wendepunkt seines Lebens: 1921 erschoss der junge Armenier Soghomon Tehlirian den Führer der Jungtürken, den ehemaligen Innenminister und Großwesir des osmanischen Reiches Talaat Pascha, auf offener Straße. Ein verzweifelter Akt der Vergeltung. Denn besagter Pascha war der Hauptverantwortliche des Massenmordes an den bis zu 1,5 Millionen Armeniern, darunter seiner gesamten Familie, und anderer christlicher Minderheiten zwischen 1915 und 1917. Taten, für die er 1919, nach seiner Flucht nach Deutschland, von einem türkischen Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde.

Dieser Anschlag führte dem jungen Lemkin auf drastische Weise das Dilemma vor Augen, vor dem man hier juristisch stand: Auf der einen Seite die wahrhaft apokalyptischen Ausmaße eines staatlich initiierten Massenmordes – auf der anderen Seite die völlige Hilflosigkeit des internationalen Rechts angesichts fehlender juristischer Mittel, solch eine die menschliche Vorstellungskraft übersteigende Tat in einem Land zu ahnden, in dem diese Taten nicht begangen wurden.

Ab 1929 setzte Lemkin alles daran, so die Pulitzer-Preisträgerin Samantha Power in ihrem Buch ‚A Problem from Hell’, ein internationales Recht zu schaffen, das seine Regierung und andere zwingen würde, bei einer gezielten Ermordung von ethnischen und religiösen Gruppen einzuschreiten“. 1933 unterbreitete er dem Völkerbund Vorschläge für eine internationale Konvention, um gegen solche Untaten strafrechtlich vorgehen zu können – ausdrücklich unter Bezug auf die Todesmärsche der Armenier und Aramäer. Der Erfolg war gleich null. Man befand, dass sich solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit viel zu selten ereignen, als dass dieser Tatbestand eine Aufnahme ins internationale Recht rechtfertigen würde.

Mit Blindheit war die Menschheit schon immer geschlagen. Der grausame Vernichtungsfeldzug gegen die Maji-Maji durch die deutschen Kolonialherrscher 1905 im heutigen Tansania oder deren Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 war längst schon wieder vergessen. Und von dem kommenden wollte man nichts wissen. Obwohl der Gröfatzke ihn der Welt in seiner Arier-Bibel doch ganz unverblümt verkündet hatte.

Auch noch nachdem das Unsagbare, Unaussprechliche eingetreten war, diese banal böse, buchhalterisch exekutierte, logistisch perfekt organisierte und vollends entmenschlichte Tötungsmaschinerie, der Holocaust als Solitär der Unmenschheitsgeschichte, fanden seine verzweifelten Bemühungen, seinen Vorschlag als internationale Konvention völkerrechtlich zu verankern, keinerlei Gehör.

Erst mit Bekanntwerden der systematisch betriebenen Vergasung der Juden in Auschwitz sowie der Veröffentlichung seines Buchs „Axis Rule in Occupied Europe“ und der damit einhergehenden Etablierung des Terminus technicus ‚Genozid’ änderte sich die Situation: 1948 nahm die UN-Vollversammlung den von Lemkin ausgearbeiteten Entwurf einer Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes einstimmig an – mittlerweile ist der Genozidverbot ius cogens, zwingendes Recht im Rahmen des Völkerrechts. Es besitzt damit weltweit verbindliche, allgemeine Gültigkeit.

Stand die Entstehung der Konvention noch ganz unter dem Eindruck des Völkermordes an Juden und Armeniern, so definierte die Formulierung der Konvention sowie ihre wortgleiche Aufnahme in die Statuten der Internationalen Strafgerichtshöfe den Genozid ganz generell: Ein Völkermord ist nach §6 des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) eine Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Auf eben diesen §6 VStGB bezieht sich in Deutschland explizit §130 Abs. 3 StGB. Also das Gesetz, das die Leugnung des Völkermordes unter Strafe stellt. Wobei es, anders als es dieser Völkerrechtsparagraph nahelegen würde, eben nicht die Leugnung jedweden Völkermordes unter Strafe stellt, sondern ausdrücklich nur den Genozid, der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus stattgefunden hat:

Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.“

Dieses deutsche Spezifikum der Einschränkung im ‚Gesetz gegen Holocaustleugnung’ ist aus historischen Gründen natürlich völlig nachvollziehbar, aber wenig angemessen. Was nicht allein die besagte Entstehungsgeschichte der Lemkinschen Konvention nahelegt, sondern auch die Intention, die mit ihrer Verabschiedung verbunden war: grundsätzlich jeden Genozid völkerrechtlich unter Strafandrohung zu stellen.

Seit 2008“, so Karl-Peter Schwarz 2010 in einem Artikel in der FAZ, „verpflichtet ein Rahmenbeschluss die Mitgliedsländer der EU, ‚das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen’ unter Strafe zu stellen, sofern die Verbrechen „nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft“ begangen wurden.

Also des Negationismus, die Leugnung des Völkermords, generell. So auch des Völkermordes an den Armeniern. Eine Tat, die in der Schweiz, Slowakei, in Slowenien, Griechenland und Zypern bereits unter Strafe steht. Aber nicht in Deutschland. Da hat man es gerade eben erst geschafft, das im Parlament endlich als Völkermord anzuerkennen, worauf sich historisch ja die Etablierung des
§6 VStGB gründet.

Auch wenn in diesen Tagen sicherlich anderes die Schlagzeilen beherrscht: Es ist zu hoffen, dass das Parlament schleunigst den zweiten Schritt tut. Und in gemeinsamer Initiative aller demokratischen Parteien eine Gesetzesinitiative einbringt, die den Rahmenbeschluss der EU von 2008 endlich umsetzt: die Leugnung eines jeden Völkermordes unter Strafe zu stellen.

Damit wäre solch ein unsäglicher Beschluss wie der des später zurückgenommenen Duisburger Integrationsrats vielleicht nicht zu verhindern gewesen. Aber man hätte durch diese Erweiterung des §130 Abs. 3 StGB eine Handhabe gehabt, strafrechtlich dagegen vorzugehen.

Dienstag, 21. Juni 2016


No hope without dope


Nu’ ist es ja bald schon wieder soweit. Nicht Heilig Abend, keine Sorge, so schnell ist das Jahr nun auch wieder nicht rum. Aber so was Ähnliches steht uns bevor: die Olympischen Spiele. Erstmals auf dem südamerikanischen Kontinent, in Rio de Janeiro. Sie wissen schon: Samba. Bossa Nova. Copacabana. Ipanema. Christo Redentor. Zuckerhut. Körper wie gemalt. Karneval ohne Ende. Paradies auf Erden. Aus dem ein paar Cariocas in die umliegenden Favelas und noch weiter vertrieben wurden. Na ja, egal, die paar Millionen gucken sich weg.

Aber nun kommen plötzlich so ein paar Spielverderber aus den Löchern gekrochen. Echte Spaßbremsen. Der Gouverneur des gleichnamigen Bundesstaates zum Beispiel. Rief die Pappnase doch gerade eben tatsächlich den finanziellen Notstand aus. Hätte der damit nicht wenigstens noch ein paar Wöchelchen warten können? Muss er denn ausgerechnet jetzt solch einen Aufstand um die paar Kröten machen, wo doch die ganze Welt auf Rio schaut?

Und als ob das nicht schon genug wäre, kommt auch noch Peer Sebastian Coe daher, der als Mitglied des House of Lords in Zeiten des Brexit wahrlich andere Probleme hat als uns misanthropisch zu verkünden, dass die russischen Leichtathleten nicht an diesen überaus heiteren Spielen teilnehmen dürfen. Warum eigentlich nicht? Etwa, weil sie flächendeckend gedopt haben? So wie die kenianischen Langläufer, jamaikanischen Sprinter, bulgarischen und aserbeidschanischen Gewichtheber, türkischen und iranischen Ringer, spanischen, deutschen, belgischen, italienischen und französischen Radfahrer, rumänischen Diskuswerfer oder – ja, welcher ambitionierte Sportler eigentlich nicht?

Dem werten Baron Pierre de Coubertin war’s doch schließlich auch schnurzpiepe, dass die Olympische Idee, wie 1936 in Berlin, politisch oder, wie 1932 in Los Angeles, werblich vereinnahmt wurde – Hauptsache, die Spiele wurden grandios gefeiert. Warum sollten sich an ihm, dem Vater der neuzeitlichen Spiele, die Sportler nicht ein leuchtendes Beispiel nehmen und ebenso grandios feiern dürfen? Sehen Sie.

Um grandios feiern zu können setzt es aber zumeist einen grandiosen Sieg voraus. Getreu dem olympischen Motto, das nun mal nicht ganz ohne Grund eben nicht ‚Dabeisein ist alles’ sondern citius, altius, fortius’ heißt. Genauer gesagt, da es sich ja um einen Komparativ handelt, der immer ein Vergleichsobjekt benötigt: Schneller, höher, stärker als alle anderen. Wie das gehen soll, wenn da nicht genau das getan wird, was immer schon bei solchen Gelegenheiten getan wurde, dann wird das nix mit der ausgelassenen Feierei. Zumindest nicht in der Regel. Und erst gar nicht bei diesen Spielen: No hope without dope.

Jetzt haben wir aber den Salat, den uns da der gute Herr Coe eingebrockt hat. Die Russen sind weg – es leben die sauberen Spiele! Und am Arsch en Trötchen. Ich seh’s schon kommen: Da werden die nächsten Wochen wieder zig tausende Dopingproben genommen, aufwändig versiegelt und in zehn Jahren nach den allerneuesten Standards geöffnet und untersucht. Was – wir kennen doch unsere Pappenheimer! – wie immer dazu führen wird, dass am Ende dutzende ehedem strahlende Sieger in den Orkus der gefallenen Engel rauschen werden.

Echt dolle Nummer: Da stehen am D-Day der Spiele wandelnde Chemiecocktails frohlockend, freudentränenüberströmt und lorbeerbekränzt auf dem Treppchen, lassen sich von Gott und der Welt huldigen, genießen Ruhm, Ehre und fürderhin jede Menge Tantiemen – während auf der anderen Seite den armen grauen Mäusen, namenlose Verlierer, dann, wenn sie längst schon von der sportlichen Bühne abgetreten sind, wenn keiner, vor allem kein Sponsor oder Vermarkter, sich mehr an sie erinnert, endlich per Post, Einschreiben mit Rückschein, die verdienten Medaillen überreicht werden.

Warum lassen wir die Wettbewerbe in Zukunft denn nicht einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden – und verlegen die Übertragung inklusive Siegerehrung bis nach der Öffnung der B-Probe? Hilft auch nicht weiter, ich weiß. Aber dann stehen am Ende wenigstens die auf dem Treppchen, die da hingehören...

Freitag, 17. Juni 2016


Wie missioniere ich missionarische Eiferer?


Sie kennen nicht zufälligerweise den antiken griechischen Philosophen Arkesilaos? Nein? Kein Wunder. Schließlich lehrte er, ein Vertreter des Skeptizismus, seine Schüler Ungeheuerliches: nämlich „darauf zu verzichten, bloße Meinungen als Urteile mit Wahrheitsanspruch zu formulieren“.

Ist doch klar, dass so jemand nicht den Hauch einer Chance hat, populär zu werden. Wo kämen wir denn dahin, würde man keinen Wahrheitsanspruch mehr formulieren, also auch keine Deutungshoheit mehr beanspruchen? Was, wenn man prinzipiell bereit wäre, seine Ansichten im Gespräch jederzeit zur Disposition zu stellen? Dann könnte man ja womöglich mit jedem in einen gedeihlichen, fruchtbaren und ergebnisoffenen Dialog treten, zur Primetime-Talkrunde genauso wie am Stammtisch. Pah.

Die Realität ist eine andere. Der herrschaftsfreie Diskurs bleibt ein schönes Ideal, die intersubjektive Wahrheit eine Chimäre. Was im alltäglichen sozialen Miteinander vielleicht nur heftige verbale Auseinandersetzungen heraufbeschwört, kann auf breiterer gesellschaftlicher Ebene schnell zu einer echten Bedrohung für Leib und Seele werden. Schlimmstenfalls sogar von genozidalem Ausmaß.

Nehmen wir nur einmal die ganze Fraktion der diversen Heilspropheten. Der politischen, rassischen oder religiösen Fanatiker, missionarische Eiferer jedweder Couleur. Was sie strukturell kennzeichnet, ist eine fast schon universelle Blaupause des Schreckens: Sie sind vollkommen durchdrungen von subjektiver Gewissheit. Hegen keinerlei Zweifel am alleinigen Wert und Wahrheit ihrer Überzeugungen. Lassen sich nicht von gegenteiligen Erfahrungen beirren. Jeder abweichenden Meinung begegnen sie mit größtem Misstrauen und völliger Intoleranz. Einer vernünftigen Argumentation sind sie nicht zugänglich. Und nicht im Mindesten willens, ihre eigenen Ansichten kritisch zu hinterfragen oder auch nur ein Jota davon abzuweichen.

Damit fehlen ihnen alle notwendigen Voraussetzungen, um mit Andersdenkenden in einen sinnvollen Dialog treten zu können. Ganz gleich, in welchem medialen Rahmen dies nun geschieht – missionarische Eiferer wollen nur eins: belehren und bekehren. Macht ausüben. Ausgrenzen. Vereinnahmen. Ihre Ziele durchsetzen. Die sympathischeren unter ihnen vielleicht noch mit einem friedvollen esoterischen Lächeln auf den Lippen, die anderen notfalls mit brutaler, menschenverachtender Gewalt. Koste es, was es wolle.

Die
Werbung für einen fairen Dialog mit ihnen ist deshalb höchst ehrenwert, aber prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Missionarische Eiferer sind von der absoluten Wahrheit ihrer Botschaft nun einmal so erfüllt, beseelt und besessen, dass sie bestenfalls ein irrationales Erweckungserlebnis von ihrem Weg abbringen wird, aber ganz sicher kein rationaler Diskurs.

Ihnen ist jedes Mittel recht. Sie überziehen und überzeichnen. Instrumentalisieren andere. Verbreiten Lügen, wenn es ihrer Sache dient. Geben den Diskurs auf Augenhöhe der Lächerlichkeit preis. Und nutzen gnadenlos eben die systemische Schwäche einer Demokratie aus, die sie für uns erst so lebenswert macht: Toleranz.

Intoleranz Andersdenkenden und -gläubigen gegenüber ist ihnen oberstes Gebot. So den Pfingstchristen mit ihrer protestantisch-kapitalistischen Ethik, die extrem erfolgreich und aggressiv besonders in Brasilien, aber auch in Afrika missionieren. Sie stehen oft unter massivem Einfluss erz
konservativer, mitunter radikal homophober religiöser Gruppen und Hassprediger aus den USA.

Wie
der ausgewiesene Holocaust-Leugner Scott Lively, Präsident der "Abiding Truth Ministries" in Kalifornien. Er ist seit 2009 „aktiv an der ugandischen Kampagne gegen Schwule und Lesben beteiligt, greift in die Gesetzgebung ein und will die Todesstrafe für Homosexuelle verankern“: Ähnliches möchte auch am liebsten der Verity-Baptistenprediger Roger Jimenez, der gerade eben erst öffentlich über die fast 50 ermordeten Homosexuellen im Pulse Nightclub in Orlando frohlockte.

Die zunehmende Kriminalisierung und Verachtung der Homosexualität ist also mitnichten nur ein russisches Phänomen. Oder ein islamisches. Sie ist ein weltweites, zunehmend auch deutsches Phänomen. Dies belegt eine ganz aktuelle Studie der Universität Leipzig.

Bei den Evangelicos in Nordamerika ist diese Intoleranz ebenso ausgeprägt wie bei der kreationistischen Internationalen. Bei den Scientologen. Oder den Charedim, einer radikalreligiösen, ultraorthodoxen jüdischen Gruppierung. Bei IS und Al-Kaida. Oder ihrer historischen Wurzel, dem aggressiv-missionarisch agierenden Wahhabismus.

In nahezu jeder Geschichtsepoche sind solche fanatischen Gruppierungen, religiöse wie politische, anzutreffen. Oftmals angeführt von demagogisch höchst begabten, charismatischen Menschen, die von ihren Überzeugungen besessen waren. Das war bei den Wiedertäufern unter Jan van Batenberg nicht anders als bei Jim Jones und seinem Peoples Temple, bei Hitler nicht anders als bei Mussolini oder Stalin, Mao Tse-tung oder Pol Pot. Selbst ein Andreas Baader und die RAF gehören strukturell in diese Typik.

Und heute? Heute gibt es einen weltweiten Trend hin zu solchen Agitatoren und Demagogen. Ein Trend, der, so Sedat Ergin, Chefredakteur des Hürriyet, anlässlich seiner Verleihung des ‚Freedom of Speech Award’ der Deutschen Welle, nicht allein die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei bedroht. Es sind "nicht nur Diktaturen und autoritäre Regime betroffen (...), sondern mehr und mehr auch Regierungen, die sich selbst als demokratisch verstehen – wie etwa Polen und Ungarn." Victor Orban und Jaroslaw Kaczyński, Recep Erdogan und Wladimir Putin. Und morgen Donald Trump? Marie Le Pen?

Ihnen gemeinsam ist, dass sie eine Sprache des Glaubens sprechen. Denn darauf, so Victor Klemperer, gründet sich die Sprache des Fanatismus. Ein solcher Glaube ist blind gegenüber allem anderen, völlig immun gegen kritische Stimmen. Und er schweißt die Gläubigen weihevoll fest in einem Wir-Gefühl zusammen: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Der Einzelne geht auf in diesem Wir, in der sicheren Masse, dem kollektiven Subjekt, das ihm eine Identifikation ermöglicht, eine Identität bietet. Er gibt seine Verantwortung ab. Und überlässt das Denken anderen. Den Leitfiguren, die sich, so es sich um charismatische Gestalten handelt, zu kultisch überhöhten Führern entwickeln können. Hohepriestern. Abgöttern. 

Wir sollten dieses Mal auf der Hut sein, wem wir in Deutschland eine Bühne bieten.

Sonntag, 12. Juni 2016


Den Sündenfall beim Wort genommen


Der Anfang ist bekannt: Gott schuf Himmel und Erde. Danach stellt sich aber gleich die Glaubensfrage, wird uns doch Widersprüchliches mitgeteilt: Die erste Schöpfungsgeschichte lässt Mann und Frau am sechsten Tag gemeinsam entstehen, die zweite, unmittelbar folgende, liefert jedoch eine gänzlich andere Version. Demnach schuf Gott zunächst nur den Menschen, hebräisch adam. Ein Name, der sich wortwörtlich aus dem herleitet, woraus Gott ihn formte: dem Ackerboden, hebräisch adamah.

Damit nahm Gott sprachlich vorweg, was Aufgabe des Menschen wurde: den Boden zu bebauen und bewahren. Eine Aufgabe, die später dann sein Schicksal werden sollte und sprachlich verbindendes Element beider Welten darstellte: Im Auszug aus dem Paradies wurde der Subtext seines Namens geschrieben, musste adam doch nun im Schweiße seines Angesichts eben jenen verfluchten adamah mühsam beackern, der ihm seinen Namen gab.

Gott schuf in Eden, der Ödnis, Steppe, sumerisch ‚edin’, eine Oase der Ruhe. Einen Garten, umzäunten Bereich, ein Gehege, awestisch ‚pairidaēza’. Und schuf dort aus adam, dem Menschen, die Männin, die Belebte, hawwah. Uns besser bekannt als eva.

Die Menschen in jenem Garten bekommen alles für ihr Leben Erforderliche zur Verfügung gestellt; sie müssen sich ihren Lebensraum nicht selbst erobern (...) Allerdings fordert der geschützte Raum die Anerkennung zunächst ungefragt geltender Normen“, so der Alttestamentler Jürgen Ebach in seiner Schrift „Dialektik der Aufklärung“,

Aber mitten in diese Oase pflanzte Gott nun die schiere Versuchung, die nach Normverletzung geradezu schreit. Zwei Bäume, von dessen Früchten der Mensch keinesfalls kosten durfte. Warum tat Gott das? Hätte er den Menschen von Anfang an ganz nach seinem Bilde erschaffen, also als fertiges, reines und wahrhaft gottgleiches, jeder Versuchung widerstehendes Geschöpf, wäre dieser nicht Gefahr gelaufen, das zu tun, was Menschen nun mal tun, wenn sie Gelegenheit dazu haben: Sie halten sich nicht an die Regeln.

Gelegenheit schafft Diebe, sagt der Volksmund. Kaum anzunehmen, dass Gott, Allah, Adonai, Elohim, Jahwe oder wie auch immer er genannt wird, dies in seiner unendlichen Weisheit nicht gewusst haben sollte. So aber schuf er ein Wesen, bei dem er vornherein damit rechnen musste, was schließlich auch eintrat: dass es seine Gebote missachtet. Self-fullfilling prophecy auf höchster Ebene.

Wie allzu menschlich Gottes Reaktion dann doch auf die Missachtung seines Gebotes war: Statt einzusehen, dass er selbst erstens die conditio sine qua non, die Bedingung der Möglichkeit konstituierte, dass das Befürchtete eintreten konnte, und zweitens, dass er es war, der einen solch schwachen Menschen schuf, der dieser Versuchung geradezu erliegen musste, zürnte er mit dem Menschen.  

Gott lastete ihm an, was er selbst gleich in doppelter Hinsicht verbockt, verursacht und damit verschuldet hatte. Er machte das Opfer zum Täter. Und lud ihm seine eigene Schuld auf. Keine Spur von wahrlich angebrachter Selbstkritik. Stattdessen warf er die Menschen im hohen Bogen aus dem Paradies. Das ist der eigentliche Sündenfall: der Sündenfall Gottes.

Tiere können nicht in einem absichtsvollen, intentionalen Akt Regeln brechen, Grenzen übertreten, Gebote missachten. Anders als der Mensch, der von Beginn an prinzipiell dazu in der Lage war. Ansonsten würde Gottes Gebot wenig Sinn machen, nicht von den Früchten des Baums zu essen. Indem der Mensch aber nun nichts besseres zu tun hatte, als seine Fähigkeit gleich in die Tat umzusetzen und von der verbotenen Frucht zu essen, kam ein zweites Moment hinzu: Ihm wurden die Augen geöffnet, er wurde „wie Gott, wissend um Gut und Böse“.

Damit erwarb er die reflexive Fähigkeit, Gebote nicht einfach nur zu missachten, sondern auch ihre Gültigkeit zukünftig in Zweifel zu ziehen. Sie in Frage zu stellen. Nicht einfach als Gott gegeben hinzunehmen.

Wer mit dem eigenen Denken begonnen hat, kann sich (...) Ordnungen“, die er sich nicht selbst gegeben hat, „nur noch schwer fügen“. So entpuppt sich der Mensch natürlich als potenzielle Gefahr einer jeden bestehenden, sakrosankten Ordnung: Er ist erwachsen geworden. Findet sich nicht mehr tumb mit dem Anspruch auf ewige Gültigkeit der Normen und Werte sowie den entsprechenden Ge- und Verboten ab. Sondern ist nun, zumindest prinzipiell, in der Lage, selbst zu entscheiden. Eben deshalb, so Jürgen Ebach, ist in dem Augenblick, in dem der Mensch Gut und Böse erkennt, auch nicht von Sünde oder vom Sündenfall die Rede: „Es geht um Autonomie.“ Um Autonomie von jeder Autorität. So auch von Gott.

Wer selbst entscheiden will, was gut und was böse ist, für den (...) kann der geschützte Raum des Gartens Eden nicht länger der passende Ort sein. Darum ist die Vertreibung (...) keine Strafe. Wer autonom sein will, dem (...) steht die Welt offen.“

Moral ist von Stund’ an nicht mehr unumstößlich: Moralvorstellungen können sich wandeln. Sie sind relativ, nicht absolut. Ein Spiegel der Zeit, der sozialen, familiären, gesellschaftlichen, politischen, religiösen, ja manchmal sogar der klimatischen Umstände. Oder auch der Interessenslage weltlicher wie göttlicher Autoritäten. Adam und Eva haben uns damit ein für allemal die Bedingung der Möglichkeit geschaffen, Gebote zu reflektieren und relativieren. Sie haben die Herrschaft demaskiert, der Genuss hat ihnen – und damit uns – die Chance zur Mündigkeit und Freiheit gegeben.

Diese Chance haben wir nur leider schon viel zu oft vertan: Zu unserer neu gewonnenen Freiheit gehörte auch die Freiheit, sich, aus „Faulheit und Feigheit“, so Kant, wiederum für die Unmündigkeit und damit die Unfreiheit und Autoritätshörigkeit zu entscheiden. Und nicht immer nur für das Gute, sondern immer öfter für das Böse. Was wir auch prompt bereits vor Menschengedenken getan haben. Offensichtlich aber ein paar Mal zuviel. Weshalb es Gott reute, dass er uns erschaffen hat (1. Mose 6,6). Nach mir die Sintflut, dachte er sich. Aber auch die war, so muss man im Nachhinein wohl sagen, keine wirklich überzeugende Lösung.

So bleibt einem am Ende nur die ratlose Frage, die wieder zum Anfang zurückführt: Warum hat Gott bloß diese Baum gewordene Versuchung ins Paradies gepflanzt? Der Mensch nimmt sich nun mal, was er kriegen kann, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die die Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen, wird immer irgendwann irgendeiner ausnutzen. Im positiven wie im negativen Sinn. Das war damals so. Und ist heute bei Big Data nicht anders.

Schlange hin oder her: Der eigentliche Verführer war nicht sie, die übrigens, darauf weist Jürgen Ebach hin, im Hebräischen männlich ist, nicht weiblich. Sie ist klug, hebräisch ‚arum’, so wie der Mensch nackt, ‚arom’ ist – die Bibel bedient sich im hebräischen Original hier interessanterweise eines Wortspiels, wenn sie Adam und Eva einerseits und die/der Schlange andererseits beschreibt. Der eigentliche Verführer war niemand anderes als Gott selber.

Er hat im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass alles, was möglich ist, irgendwann auch wahr wird, dem Menschen diesen Baum als selbsterfüllende Prophezeiung vor die Nase gesetzt hat. Die Voraussetzung der Versuchung ist, dass es etwas gibt, das eine Versuchung darstellt. Gibt es keine Frucht, kann auch keiner von der Frucht naschen. Weiß keiner von der Frucht, kann auch keiner von der Frucht naschen wollen.

Ist dieser Baum von vornherein eine Falle, in welche die Menschen tappen müssen oder gar sollen?“ fragt Ebach. Ja, vielleicht. Aber warum sollte Gott den Menschen auf Tauglichkeit prüfen wollen, fast so wie ein Ingenieur in einer Testreihe sein neuestes Produkt? Das ist doch ein bisschen arg profan und zudem völlig anthropozentrisch gedacht. Schließlich wurden wir durch den Biss in die Frucht wie Gott, nicht Gott war’s, der von vornherein war wie wir: menschlich.

Warum also in Gottes Namen?

Freitag, 10. Juni 2016


Die ewige Wiederkehr des Gleichen

Was ist faul im Staate Deutschland? Da wird derzeit ein ums andere Mal der Untergang des ach so christlichen Abendlandes beschworen, Bürgerwehren durchkämmen des Nachts die Städte auf der Suche nach marodierenden Banden levantinischer Gestalten, in Blogs berichten, „unzensiert“, digitale ‚Treppenterrier’ über „Deutschlands tägliche ‚Einzelfälle’ und weitere ‚Kulturelle Bereicherungen’ “. Und der Herr Jedermann fühlt sich bemüßigt, sein unsägliches „Man wird doch noch mal sagen dürfen“ dazu zu raunen.

Einmal abgesehen davon, dass wir in Deutschland, ganz im Gegensatz zu Südeuropa, wo nicht nur eine ganze Generation junger, zum Teil bestens ausgebildeter Menschen in Armut und völliger Perspektivlosigkeit zu versinken droht, sondern auch, wie eben erst wieder eine aktuelle Bertelsmann-Studie aufzeigt, die Langzeitarbeitslosigkeit „
zu einem Massenphänomen (wird), das die wirtschaftliche Erholung Europas gefährdet“, allen Grund haben, nicht zu jammern. Außer vielleicht über die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Doch die hat nun wirklich nichts mit irgendwelchen Flüchtlingskontingenten zu tun – die Lektüre von Thomas Pikettys umfassend recherchierten Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ macht diesem Gedanken schnell den Garaus.

Wie gesagt, einmal abgesehen davon: Wenn wir uns, völlig zurecht, über widerliche sexuelle Übergriffe durch nordafrikanische Männer echauffieren – haben wir uns auch einmal die aktuellen Statistiken über die alltägliche, vor allem innerfamiliäre sexualisierte Gewalt in Deutschland gegen Frauen angesehen? Einfach nur mal so, damit wir nicht für einen kurzen Moment der Illusion erliegen, der gute Deutsche wäre die reine Unschuld und der ja doch komplett testosterongesteuerte, prinzipiell islamistische Muselmane wäre die Inkarnation des übergriffigen Bösen.

Oder die Saga vom Untergang des Abendlandes, heraufbeschworen durch einen apokalyptischen „Migrationstsunami“ von gefühlt 50 Millionen rudelpoppenden Muslimen? Alte, überwunden geglaubte Stereotypen brechen sich da plötzlich wieder Bahn, die die für gewöhnlich an einer differenzierten Sichtweise desinteressierten Kreise wie ein panisch besitzstandswahrendes Mantra wiederholen.

Nicht, dass diese Sorgen hier klein geredet werden sollen. Aber es täte jenen gut, wenn sie sich einmal den Artikel von Antje Schmelcher zu Gemüte führen würden, den diese kürzlich in der F.A.Z. veröffentlichte. Darin beschreibt sie, wie nach 1945 die gut 12 Millionen Deutschen, die „a
us den östlichen Gebieten des ehemaligen Reiches nach Deutschland“ kamen, in ihrer neuen Heimat von den Deutschen empfangen wurden. http://www.faz.net/aktuell/politik/vertriebene-nach-1945-ohne-willkommenskultur-14277408.html

Um es kurz zu machen – nicht viel anders als die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika heute:
Es gab auch offenen Rassismus von Deutschen gegen Deutsche. Den größten Anteil von Vertriebenen an der Bevölkerung trug Schleswig-Holstein. Dort hielten sich viele Politiker für besonders ‚reinrassig’. Ein Flensburger Landrat sprach von der ‚Mulattenzucht, die der Ostpreuße nun einmal im Völkergemisch getrieben hat’ “.


Da ahnt man
, dass die Angst gar nicht dem Muslim gilt. Sie gilt dem Fremden, Anderen, der eine Bedrohung der bestehenden, lieb gewonnenen Verhältnisse darstellt. Der Muslim ist nur eine Variable: Gestern war's der Jud’, dann der Polacke, später der Ostpreuße – und heute ist es eben der Algerier oder Syrer. Wer mag es wohl morgen sein? Gar der krakeelende Pegidist selber? Wer weiß das schon.


Apropos ‚Syrer’: Da sage noch jemand, Geschichte würde sich nicht wiederholen. http://www.pri.org/stories/2016-04-26/what-it-s-inside-refugee-camp-europeans-who-fled-syria-egypt-and-palestine-during Public Radio International, ein Non-Profit-Netzwerk von weltweiten öffentlich-rechtlichen und Publik Radio Stationen, berichtete kürzlich in einem Beitrag über die überfüllten Flüchtlingscamps, in die Ende des Zweiten Weltkriegs Zehntausende über eben jene Routen strömten, die auch heute wieder Schauplatz einer menschlichen Tragödie sind.

Nur waren es damals Bulgaren, Griechen, Kroaten, Serben und auch Türken, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Vor den Deutschen. Nach Palästina, Ägypten und – Syrien.


Welch eine Ironie der Geschichte.

Mittwoch, 8. Juni 2016


Sarrazynismus


Um es gleich vorweg zu nehmen: Ja, Politik und Gesellschaft befinden sich angesichts der dramatischen Entwicklung im Nahen Osten, dem radikal-missionarischen Eifer und Geifer der sogenannten Islamisten von Nigeria bis Mossul und der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich selbst in den Wohlstandsnationen dieser Welt in einer „Phase der Ratlosigkeit“. Eine Phase, die zunehmend einer Paralyse zu gleichen scheint.

Insofern hat Thilo Sarrazin sicherlich nicht ganz unrecht mit seiner Zustandsbeschreibung, die er kürzlich in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. formuliert hat. Auch damit nicht, dass diese Phänomene durchaus das Potenzial haben, die Welt in den kommenden Jahren derart durchzuschütteln, dass einem jetzt schon ganz schwindlig wird.


Nun nutzt es aber wenig, nur die Symptome zu bekämpfen. Manchmal ist dabei sogar der Schaden größer als der Nutzen. Gerade, wenn es sich um menschliche Kollateralschäden handelt. Nicht ohne Grund macht sich Sarrazin also auf die Suche nach den Ursachen für die verschiedenen Dilemmata, denen wir uns heute gegenübersehen. Denn auch er weiß, dass man um die Bedingungen wissen muss, die zu ihnen geführt haben, um Strategien entwickeln zu können, die uns gangbare Wege aus diesen Dilemmata weisen können.

Und Sarrazin wird, natürlich, fündig:
Aus der soziologischen Forschung ist bekannt, dass das gegenseitige Vertrauen – das sogenannte soziale Kapital – in einer Gesellschaft abnimmt, wenn deren ethnische und kulturelle Diversität zunimmt."

Man ist beeindruckt ob dieser so glasklaren wie verblüffend einfachen Erklärung. Solange, bis man sich die defätistische Frage nach der Herkunft der soziologischen Forschung erlaubt, auf die er sich da beruft. Sarrazin nennt keine Referenzen, keine Namen, keine Studien. Er stellt einfach eine Behauptung in den Raum und definiert sie als finales Resultat. Und zwar nicht etwa das irgendeiner nachrangigen Forschungsgruppe aus dem hintersten Absurdistan, sondern das der soziologischen Forschung als solche.

Aber angenommen, es gibt tatsächlich ein valides Forschungsergebnis mit exakt diesem Resümee. Was besagt es? Das es so sein kann. Aber besagt es auch, dass es generell der Fall ist? Machen wir doch mal die historische Nagelprobe. Und fragen uns, was es mit der Fülle an ethnischen und kulturellen Schmelztiegeln auf sich hat, die uns die letzten 2500 Jahre beschert haben? Was war mit Rom, Alexandria, Jerusalem, Konstantinopel, Samarkand, Bagdad, Lemberg oder Rustschuk, der Geburtsstadt von Elias Canetti im heutigen Bulgarien, von der dieser Jahrzehnte später noch schwärmte?

„Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Es wird mir schwerlich gelingen, von der Farbigkeit dieser frühen Jahre in Rustschuk, eine Vorstellung zu geben. Die übrige Welt hieß dort: Europa! Europa begann dort – wo das türkische Reich einst geendet hatte."

Es waren alles Orte, in denen über Jahrhunderte eine große und, im historischen Weltmaßstab, sogar recht friedvolle „ethnische und kulturelle Diversität“ und Koexistenz geherrscht hat, dass einem die heutigen Zustände in Berlin, Offenbach oder Marxloh grau und uniform, aggressiv und rückständig erscheinen. Oder was ist, zum Beispiel, mit der außerordentlich großen ‚ethnischen Diversität’, die auch heute noch entlang der alten Seidenstraße herrscht? 

Sarrazin kleidet in seinen Texten Behauptungen gerne als unumstößliche Fakten und damit als Prämissen für seine Thesen. In der Logik können falsche Prämissen durchaus zu einer richtigen Konklusion führen, im realen Leben ist das eher selten. Als pragmatischer Volkswirt weiß er das natürlich. Weshalb man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, dass er den Spieß einfach umdreht und von der Betrachtung des realen Lebens ausgehend rückwirkend seine Prämissen formuliert. Und da seine Zustandsbeschreibungen ja durchaus um real existierende Probleme kreisen, erscheinen so die Prämissen, zumindest für  zahlreiche seiner Leser und Anhänger, als wahre Annahmen. Voilá!

Leider führt eine solche Vorgehensweise gerne zu einer geradezu klassisch populistischen Argumentationsstruktur: Ich behaupte irgendeinen Mumpitz. Und leite dann alles Weitere davon ab. Ein weiteres Beispiel gefällig?

Dieses Sentiment ist offenbar in der Evolution tief verwurzelt. Man sieht das daran, dass die Feindseligkeit zwischen ethnischen Gruppen, die durch die Umstände zum Zusammenleben gezwungen sind, umso höher ist, je weiter die von den Gruppen gesprochenen Sprachen im Stammbaum der menschlichen Sprachen voneinander entfernt liegen."

Es fängt bei ihm, wieder mal, mit einer biologistischen Prämisse an, einer vermeintlich „in der Evolution tief verwurzelten“ Feindseligkeit bestimmter ethnischer Gruppen. Woher bezieht der Mann diese Weisheiten? Wird ihm gar nicht bewusst, dass er mit solchen unreflektiert in die Welt gesetzten Behauptungen einzig und allein völkische Stereotypen bedient, die begeistert aufgenommen und fürderhin von genau denen zitiert werden, mit denen er sich seiner Ansicht nach völlig zu Unrecht in einen populistischen Topf geworfen sieht?

Nach dieser biologistischen Einleitung vollzieht er mitten im Satz eine bemerkenswerte Volte und schwenkt argumentativ auf die historische Sprachwissenschaft um: Die Feindseligkeiten, so erklärt er im Duktus der völligen Gewissheit, sind umso größer, „je weiter die von den Gruppen gesprochenen Sprachen im Stammbaum der menschlichen Sprachen voneinander entfernt liegen."

Faszinierend. Und hanebüchen. Nach dieser Logik hätte es im vorkolonialen Afrika, wo es bekanntermaßen prozentual nicht nur die mit Abstand meisten Sprachen und Idiome, sondern auch die im Stammbaum der menschlichen Sprachen am weitesten voneinander entfernt liegenden Sprachen gibt, praktisch keine Bevölkerung mehr geben dürfen. Und warum sich Buren und Briten dort gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben, dürfte dann auch ein Mysterium der Menschheitsgeschichte bleiben.

Bewegt er sich hier als Volkswirt noch auf fremdem Terrain, weshalb er vielleicht für solche Einlassungen bei dem einen oder anderen auf eine gewisse Nachsicht hoffen kann, kann die nächste nicht mehr als Lapsus durchgehen:

„Einwanderung ist nämlich wirtschaftlich nur dann positiv, wenn die Einwanderer im Durchschnitt qualifizierter sind als die aufnehmende Bevölkerung, anderenfalls verbraucht sie Wohlstand, statt ihn zu schaffen.“

So so. Dann handelte es sich also bei den rund 2,6 Millionen Arbeitsmigranten, die von 1956 bis 1973 nach Deutschland kamen und blieben, in der Regel um hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte. Oder will uns Sarrazin weismachen, dass die Arbeitsmigranten mehr Wohlstand verbraucht als geschaffen haben und deshalb die Einwanderung ökonomisch negativ war? Oder will er, der alte Sprachfuchs, etwa behaupten, dass es sich bei den Arbeitsmigranten de facto gar nicht um Einwanderer handelt, sondern nur um Personen mit zeitlich begrenztem Aufenthaltsstatus?

Ist das nun einfach alles nur hanebüchen, unredlich oder populistisch, was Sarrazin schreibt und Land auf, Land ab in unzähligen Vorträgen und Talkshows von sich gibt? Will er hetzen, Stimmung machen, Subversion betreiben? Oder ist er die gute, naive Seele, die ehrliche Haut, die doch nur das Beste für Deutschland will? Oder, jetzt wird’s richtig spannend, ist er ein ganz gerissener Profiteur, der faustisch mit den absurdesten Thesen auf die dramatischen Gegenwartsprobleme aufsetzt und dumpfe, archaische Urängste bedient, einzig um daraus belletristisch Kapital zu schlagen – und dabei gar nicht an einer ernsthaften Lösung interessiert ist, weil sich dann ja seine Bestseller nicht mehr wie geschnitten Brot verkaufen würden? Das wär’ doch mal eine Pointe.