Sonntag, 19. März 2023

 

Sein ist Zeit, sonst Nichts

 

    Es gibt keine Eigenschaft, kein separates Etwas, keine Größe, die allem Seienden gemeinsam ist oder in gleicher Weise zukommt. Kein ontologisches Gespenst namens Sein, das sich neben dem Seienden ausmachen lässt: hier Seiendes, dort Sein. Es existiert nur eines: Seiendes. Und das existiert nur in der Zeit. Genauer gesagt: in der Raumzeit, dem Raum-Zeit-Kontinuum. Denn seit der Inflation des Urknalls gilt: ohne Zeit kein Raum, ohne Raum keine Zeit. Und für diese so bestimmte Zeit gilt: Sie hat eine eindeutige, unumkehrbare Richtung – in die Zukunft (nach dem aktuellen Stand der Forschung scheint dies nicht für die derzeit denkbar kleinste Ebene, die Quantenebene, zu gelten. Dort, so hat es den Anschein, kann die Zeit rückwärts laufen). Das heißt: Es gibt kein Zurück. Die Zeit ist der Fluss, in den wir niemals zweimal steigen können[1]. Müssen wir uns also endgültig von dieser liebgewonnenen abendländischen Hilfskonstruktion ‚Sein‘ verabschieden? An dieser Stelle sei an Heideggers fundamentalontologische Bestimmung des Seins erinnert. Mit ihr stellt er, so Hans-Georg Gadamer, die „Frage nach dem Sinn von Sein im Horizont der Zeit“ (Gadamer 1978: 106) – ausgerichtet auf „sein Ziel, Sein als Zeit zu denken“ (ebd.: 106). Sein als Zeit resp. Raumzeit zu denken lässt die Aussage ‚Das Seiende ist‘ als unsinnig erscheinen. Es sei denn, man versteht sie als unglücklich verkürzte Form der Aussage ‚Seiendes hat allein Bestand in der Raumzeit, die als Sein zu denken ist‘. Eben dieses Seiende ist als physikalische Präsenz bestimmt, die für eine gewisse Dauer Bestand in der als Sein zu denkenden Raumzeit hat. Dabei sind zwei Formen physikalischer Präsenz zu unterscheiden: die persistierende Entität (physische Präsenz) und das transitorische Ereignis (Ton, Bewegung, Frequenz u.ä.). 


Der Bestand des Seienden in der als Sein zu denkenden Raumzeit: Diese so bestimmte Raumzeit ist aber weder allgemeines Merkmal noch individuelle Eigenschaft von Seiendem. Ihre Gegebenheit ist vielmehr die conditio sine qua non der Möglichkeit des Bestands des Seienden. Sei es als persistierende Entität, sei es als transitorisches Ereignis. Mit anderen Worten: Nach menschlichem Ermessen ist Seiendes allein in der als Sein zu denkenden Raumzeit gegeben, allein darin kann es Bestand haben. Implizit fände damit auch die alte Frage nach dem Nichts eine plausible Antwort: Solange die als Sein zu denkende Raumzeit gegeben ist, ist das Nichts ausgeschlossen. In dem Augenblick jedoch, wo die Raumzeit nicht mehr gegeben ist, wäre: Nichts. In diesem Gedankenkonstrukt kann es keine Gleichzeitigkeit von Sein und Nichts geben: Wenn Sein, dann kein Nichts; wenn Nichts, dann kein Sein. 


Dass nun die Zeit eine eindeutige, unumkehrbare Richtung hat und ein bruchloses Kontinuum, reine Dauer ist, hat dramatische Konsequenzen, die sich uns erst auf den zweiten Blick zeigen: Mit unserer Konzeption von Zeit, der Teilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, trennen wir Untrennbares, um es erfassen zu können. Es beginnt mit dem Begriff ‚Zukunft‘, der auf nichts faktisch Gegebenes rekurriert. Zukunft ist nur der von uns stets imaginierte kommende Moment, dessen Eintreten wir nach menschlichem Ermessen zwar erwarten dürfen, dessen wir aber nie gewiss sein können (wir haben es hier mit dem Induktionsproblem zu tun, auf das schon David Hume aufmerksam gemacht hat). Jeder Moment unseres Daseins, der eintritt, ist Realität gewordene Zukunft, die wir als ‚Gegenwart‘ zu bezeichnen gelernt haben. Nun rauscht aber die Zeit als reine Dauer de facto ungebremst durch eben diese Gegenwart in die Vergangenheit. Erwies sich die Zukunft als der imaginierte kommende Moment, so erweist sich nun die Gegenwart als Chimäre. Denn sie ist das zeitliche Momentum, das im Augenblick ihres Eintretens bereits vergangen ist. Und kaum ist diese Gegenwart vergangen, ist die Zukunft, der imaginierte kommende Moment, schon die neue Gegenwart, während die vormalige Gegenwart ihrerseits längst Vergangenheit ist. Das, was jeder Einzelne in seiner jeweiligen Lebenswelt ‚Gegenwart‘ nennt, bezeichnet stets einen unbestimmten Zeitraum, von dem es keine klar umrissene und allgemein akzeptierte Vorstellung gibt: ‚Gegenwart‘ ist nichts weiter als ein skalenabhängiger Hilfsbegriff.

 

Wer den Moment des Gegenwärtigen zu greifen versucht, greift ins Leere. Das Konzept der Gegenwart ist lediglich die Imagination der Zuflucht, die uns einen Spalt zwischen Vergangenheit und Zukunft eröffnet, in dem wir unser Leben leben können. Einen Spalt, der uns für einen Moment den unerbittlich steten Fluss der Zeit vergessen und uns im hic et nunc verweilen lässt. Damit erweist sich uns die Gegenwart als το χάος im ursprünglichen Sinn des Wortes, den wir bei Hesiod in der Theogonie finden. Karl Albert zitiert dazu den Philosophiehistoriker Olof Gigon: „Das Wort χάος heißt ‚Spalt, Höhlung‘“ (Albert 1978: 21). Es „gehört zum Verbum χάω, das etwa in seinen gebräuchlichen abgeleiteten Formen vom Aufsperren des Mundes, vom Klaffen einer Wunde, vom Gähnen einer Höhle im Berge gebraucht werden kann“ (ebd.: 22). Diese Fiktion der Gegenwart als το χάος ist für uns ein Geschenk. Sie widerspricht gänzlich der realen Zeit, die sich nicht einmal als Uhrzeit darstellen lässt, da diese doch im Sekundentakt permanent eben das zergliedert, was nur als Kontinuum, als reine Dauer, als steter Fluss gegeben ist. Gadamer nennt diese fiktive, subjektive Zeit „die erfüllte Zeit oder auch die Eigenzeit“ (Gadamer 2012: 68). Sie scheint, so Gadamer, „auch für das Fest charakteristisch, dass es durch seine eigene Festlichkeit Zeit vorgibt und damit Zeit anhält und zum Verweilen bringt – das ist das Feiern“ (ebd.: 69). Die Zeit „wird im Feiern sozusagen zum Stillstand gebracht“ (ebd. 69). Gegenwart als το χάος bezeichnet also ein hypothetisches episodales Momentum der Zeit, wo tatsächlich nur Diachronie im Zeitkontinuum besteht bis ans Ende der Welt.

 

Literatur


Albert, Karl
(1978): Einführung, in: ders. (Hg.): Hesiod Theogonie, Texte zur Philosophie Band 1, A. Henn Verlag, Kastellaun.

Gadamer, Hans-Georg (1977/2012): Die Aktualität des Schönen, Reclam Verlag, Stuttgart.

Gadamer, Hans-Georg (1978): Zur Einführung, in: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Reclam Verlag, Stuttgart.




[1] Da die Zeit gerichtet ist, ist sie auch nicht wiederholbar. Nun spielt aber gerade die Wiederholpräzision bei Experimenten, wenn es um die Überprüfung der Korrektheit ihrer Ergebnisse geht, die entscheidende Rolle. Da eine wesentliche Bedingung der Überprüfung die Wiederholung des Experiments unter denselben Versuchsbedingungen ist, müsste folglich auch die Zeit dieselbe sein. Nur ist dies aber nicht möglich, da die Zeit ja nicht wiederholbar ist. Wir können also Experimente stets nur unter Ausblendung dieses Faktors wiederholen. Was in der Konsequenz bedeutet: Wir können Experimente niemals unter exakt denselben Versuchsbedingungen wiederholen. Und das bedeutet wiederum: Ergebnisse von Experimenten können niemals verbindliche Aussagen sein, sondern bestenfalls Aussagen von größtmöglicher Wahrscheinlichkeit.

Montag, 12. September 2022

 

Fragen zur kulturellen Aneignung

 

Zur Zeit ist viel von ‚kultureller Aneignung‘ die Rede. In Bern zum Beispiel. Da wurde eine Band junger Schweizer Mundartmusiker zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit ausgeladen, weil sie als Weiße jamaikanische Reggae-Musik spielten und einige Mitglieder der Band zudem auch noch Dreadlocks trugen. Zahlreiche Gäste fühlten sich unwohl, empfanden es als übergriffige kulturelle Aneignung. Ähnliches passierte vor Monaten der weißen, ebenfalls Rastalocken tragenden Sängerin Ronja Maltzahn. Ein Auftritt von ihr bei einer Kundgebung von Fridays for Future in Hannover wurde ebenfalls gestrichen. Die Begründung, so die taz in einem Artikel: „Man wolle bei diesem ‚globalen Streik auf ein antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ setzen‘ und könne es daher nicht vertreten, eine weiße Person auf der Bühne zu haben, die sich Schwarze Kultur aneigne – ohne die systematische Unterdrückung dahinter erlebt zu haben

 

Um eines vorweg zu sagen: Angesichts von über 500 Jahren brutaler, menschenverachtender und auch kulturell übergriffiger europäischer Kolonialgeschichte ist der Kontext des Problems, in dem diese Debatte stattfindet, nach wie vor höchst virulent und längst nicht aufgearbeitet – beispielhaft stehen dafür Belgien und die Niederlande mit ihrer unbewältigten kolonialen Vergangenheit im Kongo resp. in Indonesien. An dieser Stelle soll jedoch zunächst einmal nur der Begriff ‚kulturelle Aneignung‘ als solcher betrachtet werden. Denn es scheint, dass er in der allgemeinen Diskussion etwas unbedacht verwendet wird. Was anhand einiger Fragen schnell deutlich wird: Was genau ist unter ‚kultureller Aneignung‘ zu verstehen? Angenommen, die Frage könnte zufriedenstellend beantwortet und der Begriff damit zufriedenstellend definiert werden. Dann schließt sich flugs die nächste Frage an: Wer hat diesen Begriff definiert? War der oder die oder die Gruppe dazu legitimiert, diese Definition zu erstellen? Und wenn ja: Wer oder was hat ihn oder sie oder die Gruppe dazu legitimiert, diese Definition zu erstellen? Sollte diese Frage ebenfalls zur Zufriedenheit beantwortet werden können, stellt sich jedoch automatisch eine weitere Anschlussfrage: Wer oder was hat ihn oder sie oder die Gruppe dazu legitimiert, ihn oder sie oder die Gruppe zu legitimieren, diese Definition zu erstellen? Diese Frage generiert, sollte denn auch sie zur Zufriedenheit beantwortet werden können, natürlich ihrerseits eine Anschlussfrage: Wer oder was hat ihn oder sie oder die Gruppe dazu legitimiert, ihn oder sie oder die Gruppe zu legitimieren, ihn oder sie oder die Gruppe dazu zu legitimieren, diese Definition zu erstellen? Unschwer zu erkennen, dass wir hier in einer Art Teufelskreis gefangen sind: Es gibt kein Ende, jede Frage nach der Legitimation generiert stets eine weitere Frage nach der Legitimation. So wie Kinder einen um den Verstand bringen können, weil sie jede Antwort auf ihre Warum-Frage mit wachsender Begeisterung mit einer weiteren Warum-Frage parieren. 

 

Um das Spiel zu beenden, können wir natürlich mit der Faust auf den Tisch hauen. Dies wäre in unserem Fall allerdings die denkbar unangemessenste Reaktion – gleichwohl die einzige, die den Teufelskreis unterbrechen würde. Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, das grundsätzliche Problem für den Augenblick einfach zu ignorieren. Was wir jetzt tun wollen. Nähern wir uns also stattdessen der Frage nach der ‚kulturellen Aneignung‘ von einer anderen Seite und fragen danach, wo denn die Grenzen kultureller Aneignung gezogen werden. Oder werden sollen. Müssen. Oder können. Beginnen wir bei besagten Dreadlocks. Sie sind das ikonische Merkmal einer in den 30er Jahren auf Jamaika entstandenen Bewegung unter der dortigen schwarzen Bevölkerung, der Rastafari. Dass sie, zumindest ursprünglich, eine ausgesprochen patriarchale Struktur besaß und von einer Lesben- und Schwulen-Feindlichkeit geprägt war, wird für gewöhnlich geflissentlich übersehen. Dieser Umstand ist zwar höchst bemerkenswert, aber hier nicht weiter von Belang. Von Belang ist lediglich der kulturelle Hintergrund und mit ihm die Vertreter dieser Kultur. 

 

Angenommen, wir haben in unserem Freundeskreis einen ausnehmend sympathischen jungen Mann. PoC. Ein Schwarzer mit Dreadlocks, dessen Eltern Jamaikaner*innen sind. Allerdings hat der junge Mann im Sinne unserer Frage gleich mehrere Makel: Er ist nicht nur in Deutschland geboren, spricht nicht nur ausgezeichnetes Deutsch und besitzt nicht nur einen deutschen Pass – er ist auch durchgehend in Deutschland sozialisiert. Zeit seines Lebens. Ein Deutscher durch und durch. War nie auch nur in der Nähe von Jamaika. Fallen seine Dreadlocks nun unter ‚kulturelle Aneignung‘, weil seine kulturelle Sozialisation ausnahmslos eine war, die sich im geradezu klassisch-piefigen, deutsch-spießbürgerlichen Milieu abspielte und der junge Mann, anders als viele PoC in der deutschen Realität, nie ausgegrenzt, bedroht oder benachteiligt wurde? Oder sind die Dreadlocks bei ihm keine kulturelle Aneignung, weil ja zwei zur Definition offensichtlich relevante Eckdaten, die bei ihm vorliegen – erstens PoC, zweitens Eltern aus Jamaika –, das zu rechtfertigen scheinen? Wobei die Relevanz einer der beiden Eckdaten – Eltern aus Jamaika – für die Akzeptanz augenscheinlich keine nennenswerte Rolle spielt (da kommt gleich Whoopi Goldberg ins Spiel). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, würde kulturelle Aneignung nicht über kulturelle Sozialisation, ja nicht einmal über ethnische Zugehörigkeit, sondern eher auf Basis der DNA definiert werden. Was natürlich eine recht heikle Bestimmung wäre, wären wir damit doch nicht mehr allzu weit von der Rassentheorie entfernt (und das ausgerechnet hier, wo ein antirassistisches Narrativ gesetzt werden soll).

 

Angenommen, wir wüssten nichts über die Herkunft unseres jungen Mannes. Wir wüssten lediglich das Offensichtliche: Unser junger Mann ist ein Dreadlock-tragender PoC. Unabhängig davon, ob er jemals persönlich Ausgrenzung, Benachteiligung, Bedrohung oder systematische Unterdrückung erlebt hat oder nicht. Unabhängig davon, ob er in einer ‚Schwarzen Kultur‘ sozialisiert wurde oder nicht. Unabhängig davon, ob er als PoC überhaupt damit einverstanden wäre, dass wir als Weiße (sic!) allein das Faktum seiner Hautfarbe als relevantes Kriterium für die Berechtigung nehmen, auf ihn als Einzelperson die gesamte grausame koloniale Hegemonialgeschichte des Abendlandes zu projizieren. Und auch unabhängig davon, ob er nicht genau das als eine besonders perfide Variante unserer typisch selbstbesoffenen westlichen Übergriffigkeit empfinden würde: Hand aufs Herz – reicht nicht den Meisten von uns allein schon das Offensichtliche, die Hautfarbe, um ein Urteil darüber zu fällen, ob es sich um kulturelle Aneignung handelt oder nicht, wenn jemand Dreadlocks trägt? 

 

Die Tradition der Dreadlocks entstand nicht in Hamburg. Auch nicht in Boston, Massachusetts. Oder im brasilianischen Sao Paulo. Sie entstand auf Jamaika. Die kulturelle Rahmung lautet also keineswegs pauschal: ‚Culture of PoC‘. Damit würden wir alles unisono in einen Topf werfen. Und uns damit keineswegs als woke, sondern vielmehr als postkolonial erweisen. Die Rahmung sollte eher lauten: ‚Culture of the PoC of Jamaica‘. Allerdings ist die Tradition der Dreadlocks eine Tradition der Schwarzen, nicht die anderer PoC. Weshalb man in diesem Fall vielleicht eher von ‚Schwarzen Menschen‘ sprechen sollte, Black People (BP). Die kulturelle Rahmung würde demnach nicht ‚Culture of the PoC of Jamaica‘ lauten, sondern präziser: ‚Culture of the BP of Jamaica‘. Was aber, wenn ein junger Inder in Boston, Massachusetts, sich dazu entscheidet, Dreadlocks zu tragen? Unabhängig davon, wie jemand das nun persönlich empfindet: Handelt es sich dabei de facto um kulturelle Aneignung oder nicht? Und was ist mit besagter Whoopi Goldberg? Sie ist die wohl bekannteste Trägerin dieser Frisur. Aber sie ist eindeutig nicht auf Jamaika sozialisiert, sondern in New York City. Kulturelle Aneignung oder nicht? Nicht? Warum nicht? Weil sie ein Schwarzer Mensch ist? Ist demnach ‚Schwarz sein‘ ein hinreichendes Kriterien dafür, dass es sich bei den entsprechenden Träger*innen von Dreadlocks nicht um kulturelle Aneignung handelt? Hat Whoopi Goldberg allein aufgrund ihrer Hautfarbe die ‚Schwarze Kultur‘ in sich aufgesogen? Ist damit allgemein akzeptiert, dass sie Dreadlocks tragen kann, ohne der kulturellen Aneignung bezichtigt zu werden? Wenn ja: Wie haben wir uns dieses Aufsaugen der Kultur vorzustellen? Ist die systematische Unterdrückung der Schwarzen in den USA, in der Karibik, in Südafrika oder Rhodesien ihr in die Seele inskribiert? Wenn ja: Wie haben wir uns diese Einschreibung im Detail vorzustellen? Spielt etwa der konkrete jamaikanische kulturelle Kontext keine Rolle bei der Beantwortung der Frage, wann das Tragen von Dreadlocks eine Form kultureller Aneignung darstellt? 

 

Versuchen wir einmal für einen Moment dem Begriff ‚kulturelle Aneignung‘ die aktuelle Brisanz zu nehmen und betrachten ihn wertfrei als die Bestimmung eines Sachverhalts: Der FC Bayern München hat irgendwann die folkloristische Neigung entwickelt, seine Mannschaft – und damit auch seine Neuverpflichtungen – beim alljährlichen Lederhosen-Fotoshooting bei Paulaner am Nockherberg zu präsentieren. Dieses Jahr war der vom FC Liverpool verpflichtete Senegalese Sadio Mané mit dabei. So weit, so gut. Aber ein PoC, der eindeutig nicht im bayrischen Kulturraum sozialisiert wurde, in geradezu prototypischer bayrischer Tracht? Kulturelle Aneignung oder nicht? Brechen wir den Sachverhalt spaßeshalber einmal etwas herunter: Was ist mit den Heerscharen von Saupreiß’n, japanischen/schwedischen/westfälischen, die jedes Jahr das Oktoberfest mit ihren Dirndln und Lederhosen bevölkern? Kulturelle Aneignung oder nicht? Vom Japaner und Schweden ja, vom Westfalen nein? Oder von allen? Oder von niemandem? Wenn ja, warum nicht? Wenn niemand von ihnen in der bayrischen Kulturlandschaft aufgewachsen ist, sollte das Tragen dieser gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstücke doch als kulturelle Aneignung empfunden werden (was zumindest bei vielen bayrischen Traditionalisten ja auch der Fall ist). Was ist nun, wenn arabische oder asiatische Geschäftsleute in Anzug und Krawatte auftreten? (K)eine Form kultureller Aneignung? Oder ist etwa dieser Begriff ‚kultureller Aneignung‘ unidirektional, reserviert für den weißen Mann und die weiße Frau, da ihm eine gewisse koloniale Konnotation zugeschrieben wird: Kulturelle Aneignung von Elementen, die Bi_PoC zugehörig sind, ist für Weiße tabu, weil sie mit jahrhundertelanger systematischer Unterdrückung verbunden ist? Können also allein Weiße den Tatbestand ‚kulturelle Aneignung‘ erfüllen, alle anderen per definitionem nicht? Sollte dies der Fall sein: Wer wäre dazu legitimiert, diese Definition zu formulieren? Und wer hätte wiederum sie oder ihn oder die Gruppe dazu legitimiert, diese Definition zu erstellen…und wer hätte wiederum sie oder ihn oder die Gruppe dazu legitimiert, sie oder ihn oder die Gruppe zu legitimieren, diese Definition zu erstellen… und wer hätte wiederum sie oder ihn oder die Gruppe dazu legitimiert, sie oder ihn oder die Gruppe zu legitimieren, sie oder ihn oder die Gruppe zu legitimieren, diese Definition zu erstellen…und…wieder schließt sich der Teufelskreis…

Sonntag, 13. März 2022

 

Aus gegebenem Anlass

 

 

Lieber Vlad,

 

ich weiß ja, dass Du die Historie so sehr liebst wie ich. Deshalb habe ich auch so viel Verständnis für Deinen Traum, endlich wieder das Russische Reich zu alter Größe zu führen. Aber, lieber Vlad, es gibt da das eine oder andere, über das wir vielleicht noch einmal sprechen sollten. Da ich auch weiß, dass Du ein Freund offener Worte bist, will ich auch gar nicht lange um den heißen Brei reden: Du weißt sicher besser als ich über den Ursprung des Wortes ‚Rus‘ Bescheid. Die einen sagen, es sei von dem Flüsschen Rus im Norden der Ukraine abgeleitet. Ein Rinnsal soll Ursprung des Namens Deines großen Volkes sein??! Das will ich nicht glauben. Die anderen sagen, es sei von dem altgermanischen Wort für ‚Ruder‘ abgeleitet und Bezeichnung für die Waräger gewesen, die vor über 1000 Jahren die Flüsse Deines wunderschönen Reiches befuhren und dort siedelten. Eine Erklärung, die noch um vieles unsäglicher ist als die vorherige. Denn wer waren diese Waräger? Ich sag es gerade heraus: Schweden! Eines dieser vielen verweichlichten Völker des Westens. Keine Männer, sondern Memmen. Schwule. Lesben. All das, was Dir ein Graus ist. Und deren Namen willst Du tragen: Russe?!! Nein, lieber Vlad, das kann nicht Dein heiliger Ernst sein.

 

Wir müssen für Dein kommendes glorreiches Reich einen anderen, wahrlich angemessenen Namen finden – ich ertrage es einfach nicht, dass sich diese weibischen, nichtsnutzigen Germanen heimlich in Deine wunderbare Sprache einschleichen, sie verhunzen und die Historie Deines großen Volkes beschmutzen.

 

Aber, lieber Vlad, Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich schon eine Idee habe, wie Du das Problem lösen kannst. Wobei ich denke, dass Du schon längst selber auf die Idee gekommen bist, schließlich kennst Du die Geschichte Deines Landes und Volkes wie kein Zweiter. Deshalb wirst Du auch wissen, wovon ich spreche. Genau: von dem Jahr, an dem eine neue Zeitrechnung begann – 882 n. Chr., dem Gründungsjahr Deines Reiches. Das in der revisionistischen Geschichtsschreibung auch in Deinem gottgefälligen Land, ich wiederhole mich nur ungern, den völlig unpassenden Namen ‚Kiewer Rus‘ trägt. Von ihm behaupten diese westlich infiltrierten, revisionistischen Historiker zu allem Überfluss auch noch, es sei von einem Fürsten aus dieser weibischen, verweichlichten Waräger-Sippe namens Rurik begründet worden, die Deine unvergleichliche Heimat als Rurikiden-Dynastie bis 1598 beherrscht hätten. Ich muss gestehen, lieber Vlad, ich bin ziemlich erschrocken darüber, dass Du diesem grauenvollen, geschichtsklitternden Unwesen nicht längst Einhalt geboten hast – da hätte ich von Dir doch etwas mehr Durchsetzungsstärke erwartet.

 

Ich schweife ab. Wir wollten über den neuen Namen Deines großartigen Landes und Volkes sprechen, dass 882 n. Chr. geboren wurde. In Kiew. Ich weiß, Du musst jetzt etwas durchatmen, weil Du gerade dort beschäftigt bist. Aber ich denke, dass dies ein Fingerzeig der Geschichte ist. Ach, was sag ich – Kyrill I., der Patriarch Deiner geliebten Kirche, wird es Dir bestätigen –, es ist ein Fingerzeig des Herrn! Kiew ist Dein neues Jerusalem. Es wird Dir den Weg weisen zu dem wahren Namen Deines großartigen Landes und Volkes: Es soll von Stund an nicht mehr die Rede sein von Kleinrussen, Belarussen und Großrussen, dieser weibische-westliche Name ‚Rus‘ soll auf ewig vom Erdboden getilgt sein! Stattdessen soll dein großes Volk – eingedenk Kiews als der wahren Wurzel Deines Stammes – nun stolz den Namen tragen, den es sich historisch verdient hat:

 

Kleinukrainer!

 

 

 

Montag, 20. September 2021

Reine Kopfsache

Wer einmal das 10. Gebot aufmerksam liest, stellt überrascht fest: Hier spricht der Gott der Christen und Juden (der ja auch der Gott des Islam ist) bis heute ausschließlich die Männer, nicht aber die Frauen an. Was die Vermutung nahelegt, dass auch die übrigen neun Gebote nur an Männer und nicht an Frauen gerichtet ist. Nicht etwa, weil Frauen die besseren Menschen sind und keiner Gebote bedürfen, sondern weil sie ganz offensichtlich in den Augen dieses abrahamitischen Gottes (der ja in der gesamten Historie der Exegese stets der Gott war, dem die auslegenden Männer – nie Frauen! – die Worte in den Mund legten, die zu ihrer patriarchalen Auffassung passten) nicht relevant sind:

 

Exodus 20, 2-17 „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der FRAU deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“ (Beim EKD lautet das 10. Gebot heute: ‚Du sollst nicht begehren deines Nächsten FRAU, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.‘)

 

Schön also, wenn wir im Deutschen die gendergerechte Sprache propagieren. Dies Beispiel zeigt jedoch, dass das Problem ein grundsätzliches ist und mit einer grammatikalischen Revision in einer Einzelsprache rein gar nichts erreicht ist.

Sonntag, 6. Dezember 2020

 

Kunst – ein Kollektivsingular?

 

 

1.

Meine erste Begegnung mit dem Kollektivsingular hatte ich wohl um 1979 in einem der schönsten Arthouse Kinos Düsseldorfs, dem Bambi in der Klosterstraße. Der dortige Zuschauerraum war über und über mit alten Filmplakaten dekoriert. So etwa mit dem eines US-amerikanischen Films mit John Wayne und dem jungen Hardy Krüger, Hatari, sowie dem eines französischen Films mit Brigitte Bardot und Curd Jürgens in den Hauptrollen und dem Kollektivsingular im Titel: Und immer lockt das Weib. Allerdings muss ich gestehen, dass mich zum damaligen Zeitpunkt ‚das Weib‘ weniger als Kollektivsingular interessierte. Ich muss sogar gestehen, dass ich zu jener Zeit weder den Begriff ‚Kollektivsingular‘ kannte noch wusste, dass er, wie auf Wikipedia zu lesen ist, „die grammatische Lieblingsfigur des Vorurteils“[1] ist. Ganz abgesehen davon, dass ich mich, aus heutiger Perspektive die Dinge betrachtend, nur wundern kann, warum das Bambi angesichts dieses plakativ zur Schau gestellten Titels nie Ziel von Guerilla-Aktionen feministischer Studentinnen-Gruppen geworden ist. So aber konnte ich mich, noch bar jeder geschlechterspezifischen Sprachsensibilität und sprachanalytischen Kenntnisse, im Dunkeln des Zuschauerraums unsterblich in das Weib meiner Träume, Fanny Ardant, verlieben.

 

Die Zeiten sind vorbei. Nun bin ich sowohl sensibilisiert als auch in Kenntnis der Bedeutung des Begriffs ‚Kollektivsingular‘[2]. Und weiß, dass ‚das Weib‘ zwar im Singular steht, im Filmtitel Und immer lockt das Weib damit aber, ganz im Gegensatz zu meinem einzig wahren Weib Fanny Ardant, der Plural, das Kollektiv gemeint war: nämlich alle ‚Weiber‘. Nicht anders verhält es sich bei dem Menschen, der dem Menschen ein Wolf ist. Hier ist nicht ein einzelner Mensch gemeint, hier sind alle Menschen gemeint. Denn alle Menschen begegnen allen Menschen als Wolf. Das heißt, der Singular ‚der Mensch‘ hat keine qualitativ andere Bedeutung als der Plural ‚die Menschen‘, der Singular ‚das Weib‘ keine qualitativ andere als der Plural ‚die Weiber‘: Kollektivsingular wird ein Begriff genannt, der zwar im Singular steht, für den es aber immer auch einen entsprechenden Plural gibt.

 

Anders verhält es sich mit anderen Begriffen. So zum Beispiel mit dem Begriff ‚Kirche‘. Von dem gibt es offensichtlich mindestens zwei verschiedene Begriffe eines gleich lautenden Wortes. Benutze ich beispielsweise das Wort Kirche, so kann ich mich auf jenes Gebäude mitten im Dorf beziehen, das durch viertelstündige Glockenschläge bisweilen so manchen Atheisten zur Weißglut treibt. Und spreche ich im Plural von Kirchen, so kann ich mich auf die verschiedenen Gebäude in verschiedenen Dörfern beziehen, in denen das Gleiche geschieht. Spreche ich jedoch von der Kirche, die sich dringend reformieren muss, weil sie sonst das Zeitliche segnen wird, so ist hier nicht ein Gebäude, sondern die heilige Institution ‚Kirche‘ gemeint. Würde ich in diesem Fall den Plural ‚Kirchen‘ bilden, würde sich eine Veränderung der qualitativen Bedeutung ergeben. Aufmerksame Leser werden an dieser Stelle vielleicht einwenden: Aber es gibt doch neben der katholischen auch noch die evangelische, orthodoxe, armenische, syrische, koptische etc. Kirche, mithin also diverse ‚Kirchen‘. Das lässt sich nicht bestreiten. Doch davon abgesehen, dass sich die katholische Kirche als die Eine Kirche versteht, sie also streng genommen keinen Plural duldet, verstehen sich alle genannten Kirchen als ‚Kirche‘ Jesu Christi. Und zumindest dieser Begriff ‚Kirche‘ steht ausschließlich im Singular.

 

Ein Begriff, der ausschließlich im Singular stehen kann, ist aber, wie wir gesehen haben, kein Kollektivsingular. Denn dieser meint ja, obgleich er im Singular steht, eigentlich den Plural, das Kollektiv. Was jedoch bei der ‚Kirche‘ Jesu Christi ganz sicher nicht der Fall ist: Meine ich mit dem Wort Kirche das Gebäude, so habe ich einen anderen Begriff ‚Kirche‘ im Sinn, als wenn ich mit dem Wort Kirche die ‚Kirche‘ Jesu Christi meine. Bei diesem Begriff ‚Kirche‘ handelt es sich nicht, wie ‚das Weib‘ oder ‚der Mensch‘, um ein Kollektivsingular, es handelt sich vielmehr um ein Substantiv, der, wie es auf Wikipedia geschrieben steht „seinen Referenten als einheitliche, nicht unterteilbare Entität konzeptualisiert“[3]. Ein ähnliches Phänomen finden wir bei dem Wort Sprache. Meinen wir mit Sprache die Einzelsprache, so können wir davon einen Plural bilden, der qualitativ nichts anderes meint: Sprachen. Ob es von dem Wort Sprache nun auch einen Begriff ‚Sprache‘ als Kollektivsingular gibt, vermag ich ad hoc nicht zu sagen. Aber sehr wohl, dass es einen Begriff ‚Sprache‘ gibt, dessen Typus im Deutschen etwas unglücklich als ‚Stoffname‘ (engl. mass noun) bezeichnet wird. Damit ist ‚die Sprache‘ als Oberbegriff, als Kennzeichnung dessen gemeint, was die menschliche Artikulationsfähigkeit von der tierischen unterscheidet. Von diesem Begriff ‚Sprache‘ lässt sich, wie schon von der ‚Kirche‘ Jesu Christi, kein Plural bilden: Die alte Weisheit unum nomen unum nominatum gilt nicht – es ist eben nicht immer jedes Wort mit dem gleichen Begriff verknüpft.

 

Wie sieht es nun bei dem Begriff ‚die Kunst‘ aus, dem Oberbegriff[4] aller künstlerischen Schöpfungen, der nicht schon in der Antike existierte[5], sondern erst im späten 18., frühen 19. Jahrhundert entstand und auf etwas referiert, dessen Ende angeblich Hegel verkündete, kaum war der Begriff sprachlich geboren? Dem allgemeinen Konsens des fachwissenschaftlichen Diskurses zufolge handelt es sich bei ihm, wie bei ‚das Weib‘ und ‚der Mensch‘, um einen Kollektivsingular (entsprechend äußern sich beispielsweise Schmücker 2006: 241, Roland Kanz 2014, Beat Wyss 2018). Durch unsere Überlegungen etwas verunsichert wollen wir uns diesem Diktum jedoch nicht so ohne Weiteres anschließen. Sondern ihm stattdessen ein wenig auf den Zahn fühlen: Handelt es sich bei dem Begriff ‚Kunst‘ als dem Oberbegriff aller künstlerischer Schöpfungen um einen Begriff, von dem ohne Veränderung der qualitativen Bedeutung ein Plural gebildet werden kann? Oder ist es nicht vielmehr so, dass von ihm kein solcher Plural gebildet werden kann? Sollte dem so sein, dann wäre der fachwissenschaftliche Konsens, dass es sich bei diesem Begriff ‚Kunst‘ um einen Kollektivsingular handelt, nicht länger haltbar. Stattdessen würden wir konstatieren müssen, dass es sich bei ihm vielmehr um einen Begriff handelt, der im Deutschen die Bezeichnung ‚Stoffname‘ (engl. mass noun) trägt: ein nicht zählbares Substantiv.

 

 

2.

Bevor wir uns aber zu der These versteigen, diesen Begriff ‚Kunst‘ gäbe es ausschließlich im Singular, sollten wir uns das Wort Kunst noch einmal etwas näher anschauen: Liegt bei ihm auch, wie bei Sprache und Kirche, das Phänomen gleich lautender Wörter vor, die völlig verschiedene Begriffe generieren und jeweils anderen Regeln folgen? Schon unsere ersten Überlegungen zum Begriff ‚Kunst‘ als Oberbegriff haben erahnen lassen, dass, wenn wir über ‚Kunst‘ reden, es entgegen allem Anschein durchaus nicht immer klar ist, worüber wir dann eigentlich reden. Weder dem, der redet, noch dem, der zuhört. Und das, obwohl beide meinen, dem wäre so. Ob dann beide, wenn dem wider Erwarten doch so sein sollte, dass beide über das Gleiche reden, sie auch über den gleichen Sachverhalt reden, sei einmal dahin gestellt. Zumal selbst in Fachdiskursen Expert*innen ohne jede Scheu fröhlich zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen dieses zudem inflationär gebrauchten Wortes Kunst hin und her wechseln (cf. meine Anmerkungen zu einem Vortrag des Medientheoretikers Peter Waibel, in denen ich diese Sprunghaftigkeit exemplarisch aufzeige, in: Oehm 2019b: 327).

 

An anderer Stelle haben wir uns bereits einmal an einer systematischen Differenzierung der Begriffe versucht (cf. Oehm 2019b: 83, 92ff.; auch: Oehm 2019a: 10ff), um aufzuzeigen, mit welchen Begriffen ‚Kunst‘ wir es im alltäglichen und fachspezifischen Umgang zu tun haben. Wir stellten dabei fest, dass das Wort Kunst sowohl auf Phänomene der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens (AK) als auch auf Phänomene der Makroebene der sozialen Institutionen (BK) Anwendung findet. Dabei lassen sich mindestens vier Gebrauchsweisen[6] des Wortes Kunst identifizieren und differenzieren, die auf unterschiedliche Phänomene der Mikroebene (AK) referieren und einen je spezifischen Begriff ‚Kunst‘ erzeugen. Darüber hinaus lassen sich mindestens drei verschiedene Gebrauchsweisen des Wortes Kunst identifizieren und differenzieren, die auf Phänomene der Makroebene (BK) referieren und dabei ebenfalls einen je spezifischen Begriff ‚Kunst‘ erzeugen:

 

Mikroebene des individuellen Kunstschaffens:

AK.1  : bezogen auf die subjektive Befindlichkeit -> Er lebt seine Kunst.

AK.2  : auf den eigentlichen Prozess des Kunstschaffens -> Malen ist Kunst.

AK.3  : auf das konkrete Werk -> Das ist Kunst!

AK.4  : das gesamte Oeuvre -> Seine Kunst ist in vielen Genres zu Hause.

 

Makroebene der sozialen Institutionen:

BK.1  : Kunst als episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (so z.B. Stile in der Musik: Jazz, Rap, Klassik…; Medien in der bildenden Kunst: Performance, Malerei, Fotografie…) -> Fotografie ist die Kunst, die mich am meisten anspricht.

BK.2  : Kunst als spezifische überindividuelle soziale Institution (Kunstgattungen, z.B. die Musik, die bildende Kunst, das Theater…; auf dieser Ebene des Gebrauchs wird, selbst im fachspezifischen und wissenschaftlichen Diskurs, oftmals der Kunstbegriff auf die bildende Kunst beschränkt) -> Im Museum wird die Kunst des 19. Jahrhunderts gezeigt.

BK.3  : Kunst als allgemeine überindividuelle soziale Institution (‚die Kunst‘ – gibt es auf dieser Ebene nur als nicht zählbares Substantiv) -> Die Kunst ist etwas zutiefst Menschliches.

 

Dass es mit dieser vorläufigen Differenzierung aber noch längst nicht getan ist, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf den Begriff ‚moderne Kunst‘. Er lässt sich als zeitlicher Marker verstehen, der ein differenzierendes Element des Begriffs ‚Kunst‘ auf den verschiedenen Horizontalen der Makroebene der sozialen Institutionen darstellt:

 

BK.1.1  : Moderne Kunst als aktuales episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (z.B. eines Mediums der Kunstgattung ‚bildende Kunst‘: die immersive Kunst) -> Die Kunst lässt die Illusion als Realität erscheinen.

BK.2.1 : Moderne Kunst als aktuales Momentum einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (z.B. der Kunstgattung ‚bildende Kunst‘) -> Wer Kunst heute nur in Berliner Ateliers sucht, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

BK.3.1 : Moderne Kunst als aktuale Extraktion des Oberbegriffs ‚Kunst‘, das heißt: als die alle Kunstgattungen umfassende Erscheinung der allgemeinen überindividuellen sozialen Institution in der aktualen Synchronie (von der Musik bis zur bildenden Kunst) -> Kunst ist heute egalitär.

 

Dass es sich bei den Begriffen ‚moderne Kunst‘ auf den verschiedenen Horizontalen der Makroebene tatsächlich um verschiedene Begriffe handelt, ist schon dadurch ersichtlich, dass wir in den beiden ersten Fällen BK.1.1  und BK.2.1  problemlos von ‚modernen Künsten‘ reden und sie auch benennen können, im letzten Fall BK.3.1 jedoch nicht: Auch als aktuale Extraktion des Oberbegriffs ‚Kunst‘ bleibt der Begriff ‚moderne Kunst‘ ein Obergriff – und damit ein nicht zählbares Substantiv. Würde ich hier von ‚modernen Künsten‘ sprechen, würde ich etwas qualitativ anderes meinen.   

 

Gibt es weitere Varianten des Gebrauchs des Wortes Kunst? Angenommen, wir würden im MdbK Leipzig eine Ausstellung moderner Kunst[7] besuchen und dort Zeuge eines heftigen Disputs über den Stellenwert eines bestimmten Werks werden. Eine Besucherin echauffiert sich über eine ihrer Ansicht nach dumme Bemerkung ihres offensichtlich inkompetenten Begleiters und ruft, auf das Artefakt zeigend, sichtlich erbost aus:

 

(a)  Das ist Kunst!

 

Da wir uns in einer Ausstellung moderner Kunst befinden, wollen wir annehmen, dass der Ausruf unserer kenntnisreichen Besucherin, bei dem sie das Wort Kunst sehr pointiert betont, eine unausgesprochene Attribuierung impliziert:

 

(a.1) Das ist (moderne) Kunst! (und kein Firlefanz)

 

Damit ließe sich diese Aussage als eine Variante der Verwendung des Begriffs ‚Kunst‘ auf der Horizontalen AK.3 der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens beschreiben:

 

AK.3.1  : die kontextuell bedingte Einordnung des konkreten Werks -> Das ist (moderne) Kunst!

 

Allerdings kann unsere kenntnisreiche Besucherin den Begriff ‚Kunst‘ auch anders gemeint haben. So, wenn sie das Wort Das demonstrativ betont und damit für alle vernehmlich anzeigt, dass das betreffende Artefakt für sie ein Sinnbild moderner Kunst ist:

 

(b)  Das ist Kunst!

(b.1) Das ist (moderne) Kunst!

 

Damit würde der Begriff ‚moderne Kunst‘ zwar auf der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens auf ein konkretes Werk Anwendung finden, gleichzeitig aber auf die Makroebene der sozialen Institutionen verweisen – das konkrete Werk stünde hier stellvertretend für die ‚moderne Kunst‘. Vorbehaltlich einer besseren Lösung wollen wir uns an dieser Stelle damit behelfen, für diesen Fall eine weitere Horizontale auf der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens zu etablieren:

 

AK.5  : das konkrete Werk als Prototyp moderner Kunst -> Das ist (moderne) Kunst!

 

Dass es sich, wie schon im Fall (a) Das ist Kunst! (AK.3.1), auch bei diesem Begriff um einen anderen Begriff handeln muss als jener Begriff ‚moderne Kunst‘, der in BK.1.1 und BK.2.1 Anwendung findet, lässt sich bereits daran erkennen, dass sich auch vom ihm kein Plural bilden lässt. In beiden Fällen handelt es sich ebenfalls um sogenannte nicht zählbare Substantive. Denn würde die Besucherin in dem Disput auf mehrere Artefakte referieren, die für sie entweder eindeutig der Kategorie ‚moderne Kunst‘ (statt der Kategorie ‚Firlefanz‘) zugeschrieben werden können (AK.3.1) oder aber Sinnbilder moderner Kunst (AK.5) sind, so könnte sie weder (a.2) noch (b.2) ausrufen, ohne nicht ein allgemeines Kopfschütteln hervorzurufen:

 

(a.2) Das sind (moderne) Künste!

(b.2) Das sind (moderne) Künste!

 

Sie käme nicht umhin, die von ihr angesprochenen Werke entweder (a.1.1 und b.1.1) zusammenfassend im Singular zu benennen oder aber (a.1.2 und b.1.2) auf einen anderen Begriff auszuweichen:

 

Ein Werk:                                          Mehrere Werke:

(a.1) Das ist (moderne) Kunst!           (a.1.1) Das ist (moderne) Kunst!

                                                           (a.1.2) Das sind (moderne) Kunstwerke!

 

Ein Werk:                                          Mehrere Werke:

(b.1) Das ist (moderne) Kunst!           (b.1.1) Das ist (moderne) Kunst!

                                                           (b.1.2) Das sind (moderne) Kunstwerke!

 

Im Fall (a.1.1) ordnet die Besucherin die Artefakte kollektiv und kategorisch der Kategorie ‚moderne Kunst‘ zu und berücksichtigt dabei weniger ihren Status als konkrete Entitäten. Demgegenüber sagt uns unser Sprachgefühl im Fall (a.1.2), dass sie, wenn sie die Artefakte kollektiv als ‚moderne Kunstwerke‘ identifiziert, damit ihren Status als konkrete Entitäten signifikant stärker betont als im Fall (a.1.1).

 

Im Fall (b.1.1) spricht die Besucherin, pars pro toto, von den Artefakten als Sinnbilder für das, was für sie moderne Kunst darstellt. Spricht sie also diese Artefakte als ‚Kunst‘ an, haben sie im Moment ihrer Aussage weniger den Status konkreter Entitäten, sondern eher den von Symbolen. Demgegenüber sagt uns unser Sprachgefühl im Fall (b.1.2), dass sich da deutlich mehr ändert als nur das Nomen. Vielmehr liegt hier ein gegenüber (b.1.1) umgekehrter Status vor: Spricht sie die Artefakte als ‚Kunstwerke‘ an, haben diese im Moment ihrer Aussage weniger den Status von Symbolen, sondern eher den konkreter Entitäten. Schon deshalb kann ich mich, wie schon im Fall (a.1.1) und (a.1.2), nicht der Auffassung des Kunstphilosophen Reinold Schmücker anschließen, der in seinem Buch Was ist Kunst? postuliert, dass „das Wort ‚Kunst‘, sofern es sich auf ästhetische Kunst bezieht, ein Synonym für ‚Kunstwerk(e)‘“ ist (Schmücker 2014: 76), ergo eine „bedeutungsneutrale Ersetzung von ‚Kunst‘ durch ‚Kunstwerk‘ (resp. ‚Kunstwerke‘, Anmerkung S.O.) möglich“ (ebd.: 73) wäre. Nach meiner Auffassung spricht aber noch ein weiterer Umstand dagegen, dass in diesem Fall, in dem es ganz offensichtlich um das geht, was Schmücker ‚ästhetische Kunst‘ nennt, die Worte Kunst und Kunstwerke Synonyme sein sollen und sie ohne Änderung der Bedeutung ausgetauscht werden können. Diese Annahme würde implizieren, dass Kunst (als nicht zählbares Substantiv) gleichzeitig Synonym für Kunstwerk (Singular) wie auch für Kunstwerke (Plural) sein kann. Was mit der Behauptung einhergehen würde, dass die Numeri hier keine bedeutungsdifferenzierende Komponente besäßen. Würde das tatsächlich der Fall sein, wäre es, soweit ich es überblicken kann, ein einzigartiges sprachliches Phänomen.

 

 

3.

Was, wenn nun der bornierte Begleiter unserer kunstaffinen Begleiterin nicht Besseres zu tun hätte, als ihr despektierlich zu antworten:

 

(c) Ach so, der Klotz da ist Kunst!

 

Es ist kaum anzunehmen, dass der gute Mann, obgleich wir uns in einer Ausstellung mit moderner Kunst befinden, subtil zwischen ‚Kunst‘ und ‚moderne Kunst‘ zu differenzieren versteht. Weshalb die Vermutung naheliegt, dass er bei dem Begriff ‚Kunst‘ in (c) beide Spielarten, im Gegensatz zur Gebrauchsweise seiner kompetenten Begleiterin, in eins wirft. Sollte das der Fall sein, würden der Banause und die Expertin zwar das gleiche Wort Kunst benutzen, aber jeweils einen anderen Begriff ‚Kunst‘ meinen. Bei ihr ist anzunehmen, dass sie mit dem Begriff ‚Kunst‘ auf die kontextuell bedingte Einordnung des konkreten Werks (AK.3.1) oder auf das konkrete Werk als Prototyp moderner Kunst (AK.5) referiert. Bei ihm hingegen gestaltet sich die Zuordnung seiner Begriffsverwendung in unserem aktuellen Organigramm etwas schwieriger. Spontan am nächsten läge wohl der Verweis auf:

 

AK.3  : auf das konkrete Werk -> Das ist Kunst!

 

Wir sollten uns aber nicht vorschnell mit dieser Zuordnung zufrieden geben. Denn da unser Banause den Begriff ‚Kunst‘ im Rahmen einer ironischen Bemerkung verwendet, aus der seine verächtliche, abschätzige Haltung gegenüber der ‚Kunst‘, die seine Begleiterin so sehr schätzt, zu sprechen scheint, lässt sich vermuten, dass er nur formal auf das konkrete Werk – ‚der Klotz da‘ – referiert. Vielmehr scheint ‚der Klotz da‘ für ihn geradezu ein Prototyp schlechter Kunst, wenn nicht sogar von Nicht-Kunst zu sein. Sollte dem so sein, könnte ‚der Klotz da‘ für ihn stellvertretend für ‚alle Klötze‘, womöglich sogar für alle Artefakte stehen, die er für schlechte Kunst resp. Nicht-Kunst hält. Damit würde die Äußerung (c) Ach so, der Klotz da ist Kunst! eher eine Nähe zur Horizontalen AK.5 besitzen, für die wir eine eigene, hypothetische Variation formulieren wollen:

 

AK.5.1  : das konkrete Werk als Prototyp schlechter Kunst/Nicht-Kunst -> Ach so, der Klotz da ist Kunst!

 

Aber auch wenn der Kunstbanause, wie wir vermuten, ‚Klotz‘ hier im Sinne eines Prototyps für schlechte Kunst/Nicht-Kunst verwendet – aus dem Begriff ‚Kunst‘ wird damit noch lange kein Kollektivsingular. Wie wir gesehen haben, verbleibt er, auch wenn mit ihm auf mehrere Artefakte Bezug genommen wird, im Singular:

 

Ein Werk:                                                     Mehrere Werke:

(c) Ach so, der Klotz da ist Kunst!           (c.1) Ach so, die Klötze da sind Kunst!

 

Beim Begriff ‚Kunst‘ handelt es sich also selbst in dieser Gebrauchsweise, wie schon in (a.1.1)  und (b.1.1), um ein nicht zählbares Substantiv, nicht aber um ein Kollektivsingular. Die Verwendung des Plurals würde, wie auch in (a.2) und (b.2), bei halbwegs kompetenten Sprechern des Deutschen nur verständnisloses Kopfschütteln auslösen:

 

(d) Ach so, die Klötze da sind Künste!

 

Ersetze ich in (c.1) in Schmückers Sinne ‚Kunst‘ durch ‚Kunstwerke‘, so erhalte ich:

 

(c.2) Ach so, die Klötze da sind Kunstwerke!

 

Behaupte ich nun, diese Ersetzung wäre bedeutungsneutral, so lande ich wieder bei den bereits vorgebrachten Gegenargumenten. Nicht nur, dass ich damit behaupten müsste, dass Numeri keine bedeutungsdifferenzierende Komponente besitzen. Ich müsste auch behaupten, dass ‚Kunst‘ entweder, wie ‚Kunstwerk‘, hier eher den Status konkreter Entitäten hat und nicht von Symbolen – oder aber umgekehrt, dass ‚Kunstwerk‘ hier eher den Status von Symbolen hat und nicht von konkreten Entitäten.

 

 

4.

Kurz wollen wir noch auf einen weiteren Begriff ‚Kunst‘ zu sprechen kommen, bei dem es sich weder um ein Kollektivsingular noch um ein nicht zählbares Substantiv handelt:

 

AK.2  : bezogen auf den eigentlichen Prozess des Kunstschaffens

-> Malen ist Kunst. (Singular)

-> Malen und Tanzen sind Künste. (Plural)

 

Reinold Schmücker führt diesen Begriff ‚Kunst‘ in seinem Werk als ‚mechanische Kunst‘ ein, der auf eine „handlungskompetenzbezeichnende Kraft“ (Schmücker 2014: 73) referiert. Er kann nicht durch ‚Kunstwerk‘ ersetzen werden, da beide Begriffe Verschiedenes bezeichnen: „Mechanische Künste können sich (…) zwar in Kunstwerken manifestieren. Doch sie sind selbst niemals Kunstwerke, weil sie Fertigkeiten und keine Artefakte sind“ (ebd.: 74).

 

Er glaubt lexikalische Indikatoren eruiert zu haben, die aufzeigen, wann ein Sprecher sich auf die mechanische Kunst, also auf Fertigkeiten, Handlungskompetenzen bezieht und wann auf die Kunst im engeren Sinne (die er „ästhetische Kunst“ [ebd.: 69] nennt). Ist die Rede von der Kunst, so zeigt ein „indefiniter Gebrauch, bei dem ihr ein unbestimmter Artikel voransteht“ (ebd.: 70), an, dass in diesen Fällen „von einer mechanischen Kunst die Rede“ (ebd.: 70) ist:

 

(f) Kugelstoßen ist eine Kunst.

(g) Stabhochsprung ist eine Kunst.


Entsprechend ließen sich die Sätze (f) und (g) im Sinne Schmückers so präzisieren:

 

(f.1) Kugelstoßen ist eine mechanische Kunst.

(g.1) Stabhochsprung ist eine mechanische Kunst.

 

Hingegen zeigt ein „absoluter Gebrauch, bei dem die Vokabel als Nomen ohne weiteren Zusätze (wie Artikel, Pronomen oder Attributionen) auftritt“ (ebd.: 70), laut Schmücker unmissverständlich an, dass in diesen Fällen „von ästhetischer (…) Kunst die Rede ist“ (ebd.: 70). Allerdings stößt die Kategorisierung anhand dieses vermeintlich so sicheren lexikalischen Indikators schnell an ihre Grenzen. So beispielsweise, wenn ich von Kugelstoßen und Stabhochsprung in einem Atemzug spreche:

 

(h) Kugelstoßen und Stabhochsprung sind Künste.

 

In diesem Plural wird offensichtlich ‚Kunst‘ ‚als Nomen ohne weiteren Zusätze (wie Artikel, Pronomen oder Attributionen)‘ verwendet. Was ja eigentlich eindeutig den absoluten Gebrauch und damit die ästhetische Kunst anzeigen sollte. Jedoch handelt es sich, laut lexikalischer Probe in (f) und (g), bei diesen Künsten um ‚mechanische Künste‘. Eine weitere Formulierung dürfte ebenfalls ziemliche Bauchschmerzen bereiten:

 

(f.2) Kugelstoßen ist eine ästhetische Kunst.

(g.2) Stabhochsprung ist eine ästhetische Kunst.

 

In diesen grammatikalisch und semantisch völlig einwandfreien Sätzen behaupte ich das Gegenteil dessen, was der lexikalische Indikator laut Schmücker eigentlich eindeutig aufweist. Denn wie gesagt: Ein „indefiniter Gebrauch, bei dem ihr (der Kunst, Anmerkung S.O.) ein unbestimmter Artikel voransteht“ (ebd.: 70), zeigt das Vorliegen einer mechanischen Kunst an. Da es sich nun aber bei (f.2) und (g.2) um korrekte deutsche Sätze handelt, gibt es meines Erachtens drei Möglichkeiten: (1.) Entweder lüge ich, wenn ich (f.2) und (g.2) äußere oder (2.) ich habe keine Ahnung von Kunst oder aber (3.) die Theorie ist nicht wasserdicht. Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an:

 

(f.3) Kugelstoßen ist Kunst.

(g.3) Stabhochsprung ist Kunst.

 

Auch hier handelt es sich (cf. unseren Beispielsatz für die Horizontale AK.2  : bezogen auf den eigentlichen Prozess des Kunstschaffens -> Malen ist Kunst) um grammatikalisch und semantisch korrekte deutsche Sätze, an denen nach meinem Dafürhalten nichts auszusetzen ist. Da nun bei ihnen gemäß Schmücker ein „absoluter Gebrauch (vorliegt), bei dem die Vokabel als Nomen ohne weiteren Zusätze (wie Artikel, Pronomen oder Attributionen) auftritt“ (ebd.: 70), müsste demnach hier konsequenterweise „von ästhetischer (…) Kunst die Rede sein“ (ebd.: 70). Was aber, wie mir scheint, seinen eigenen Aussagen widerspricht. Denn Kugelstoßen und Stabhochsprung ordnet er unmissverständlich den mechanischen Künsten zu (cf. ebd.: 68). Und diese „sind selbst niemals Kunstwerke, weil sie Fertigkeiten und keine Artefakte sind“ (ebd.: 74). Eine Aussage, die er allerdings selber gleich in Frage stellt. Macht er doch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass „die Entgrenzung des Kunstbegriffs auch auf die transitorischen Künste (übergegriffen hat): Alles, ob Gegenstand oder Aktion, ist seither potentiell Kunst“ (ebd.: 83). Wer wollte da noch die mechanischen Künste ausschließen[8]?  

 

Nach Schmückers Ansicht zeigen lexikalische Indikatoren wie ‚bestimmter/unbestimmter/gar kein Artikel‘ nicht allein verlässlich an, ob von ‚ästhetischer Kunst‘ oder von ‚mechanischer Kunst‘ die Rede ist[9], sondern auch, ob in dem Fall, von dem gerade die Rede ist, ‚ästhetische Kunst‘ oder ‚mechanische Kunst‘ faktisch vorliegt. Unsere Beispiele scheinen nun aber nahezulegen, dass beides, wenn überhaupt, nur recht bedingt der Fall ist. Was vielleicht weniger an den Indikatoren selbst oder an der heute etwas fragwürdig gewordenen Differenzierung zwischen ‚ästhetischer Kunst‘ und ‚mechanischer Kunst‘ liegt, sondern vielmehr an der etwas überzogenen Erwartung, was lexikalische Indikatoren wie ‚bestimmter/unbestimmter/gar kein Artikel‘ oder ‚zählbares/nicht zählbares Substantiv‘ zu indizieren imstande sind.

 

Meines Erachtens sind sie zunächst einmal nur dazu geeignet, uns einen ersten, bisweilen recht vagen Hinweis darauf zu geben, welcher Begriff ‚Kunst‘ durch die Sprecherin/den Sprecher verwendet wird. Das heißt: Wo wir ihn auf den Horizontalen der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens resp. der Makroebene der sozialen Institutionen verorten können. Dazu haben wir im Rahmen dieses Aufsatzes eine vorläufige, sicherlich ausbaufähige und vor allem verbesserungswürdige Zuordnung erstellt:

 

Mikroebene des individuellen Kunstschaffens:

AK.1  : bezogen auf die subjektive Befindlichkeit -> Er lebt seine Kunst.

 

AK.2  : auf den eigentlichen Prozess des Kunstschaffens -> Malen ist Kunst.

 

AK.3  : auf das konkrete Werk -> Das ist Kunst!

AK.3.1  : die kontextuell bedingte Einordnung des konkreten Werks -> Das ist (moderne) Kunst!

 

AK.4  : das gesamte Oeuvre -> Seine Kunst ist in vielen Genres zu Hause.

 

AK.5  : das konkrete Werk als Prototyp moderner Kunst -> Das ist (moderne) Kunst!

AK.5.1  : das konkrete Werk als Prototyp schlechter Kunst/Nicht-Kunst -> Ach so, der Klotz da ist Kunst!

 

 

Makroebene der sozialen Institutionen:

BK.1  : Kunst als episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (so z.B. Stile in der Musik: Jazz, Rap, Klassik…; Medien in der bildenden Kunst: Performance, Malerei, Fotografie…) -> Fotografie ist die Kunst, die mich am meisten anspricht.

BK.1.1  : Moderne Kunst als aktuales episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (z.B. eines Mediums der Kunstgattung ‚bildende Kunst‘: die immersive Kunst) -> Die Kunst lässt die Illusion als Realität erscheinen.

 

BK.2  : Kunst als spezifische überindividuelle soziale Institution (Kunstgattungen, z.B. die Musik, die bildende Kunst, das Theater…; auf dieser Ebene des Gebrauchs wird, selbst im fachspezifischen und wissenschaftlichen Diskurs, oftmals der Kunstbegriff auf die bildende Kunst beschränkt) -> Im Museum wird die Kunst des 19. Jahrhunderts gezeigt.

BK.2.1 : Moderne Kunst als aktuales Momentum einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (z.B. der Kunstgattung ‚bildende Kunst‘) -> Wer Kunst heute nur in Berliner Ateliers sucht, hat das Zeichen der Zeit nicht erkannt.

 

BK.3  : Kunst als allgemeine überindividuelle soziale Institution (‚die Kunst‘ – gibt es auf dieser Ebene nur als nicht zählbares Substantiv) -> Die Kunst ist etwas zutiefst Menschliches.

BK.3.1 : Moderne Kunst als aktuale Extraktion des Oberbegriffs ‚Kunst‘, das heißt: als die alle Kunstgattungen umfassende Erscheinung der allgemeinen überindividuellen sozialen Institution in der aktualen Synchronie (von der Musik bis zur bildenden Kunst) -> Kunst ist heute egalitär.

 

Solange wir aber den Begriff ‚Kunst‘ nicht „in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (Humboldt 2008: 325) betrachten, werden wir mit unseren Zuordnungsversuchen nicht weiter kommen. Denn welcher Begriff ‚Kunst‘ jeweils vorliegt, lässt sich nur aus dem Kontext einer konkreten Situation und auf Basis eines für ein solches Procedere erforderliches allgemeines Weltwissen halbwegs angemessen erschließen. Vorausgesetzt, wir verstehen die Sprache ‚im Schlaf‘ und verfügen über die elementare psychologische Infrastruktur menschlich-kooperativer Akte: die Infrastruktur geteilter Intentionalität. Mit ihr besitzen wir die ontogenetische Basis, auf der unsere operative Fähigkeit zur geteilten Intentionalität als die im Vollzug einer aktualen Handlung situativ vorliegende Intentionalitätsvariante gründet, durch die wir zum Beispiel in einem Gespräch imstande sind, zu ‚verstehen‘, was ein Sprecher jeweils gemeint hat. Ob nun aber meine Interpretation tatsächlich mit dem übereinstimmt, was er gemeint hat, steht auf einem anderen Blatt – und ob ich dies jemals werde verbindlich herausfinden können, noch einmal auf einem ganz anderen: Ich kann dies zwar durch gezielte Nachfrage in Erfahrung zu bringen versuchen, es kann mich aber nie zu einer endgültigen Gewissheit führen, da jede Nachfrage, bei der ich ja nicht umhin komme, wiederum solcherart nachfragebedürftige Begriffe benutzen zu müssen, immer wieder dasselbe Problem erzeugt: Aus diesem Zirkel kann ich nie entkommen (was mich mit einer gewisser Demut erfüllt).

 

Zumindest das Eine wissen wir jetzt: Mit dem einen Wort Kunst generieren wir im Gebrauch unzählige Begriffe ‚Kunst‘. Und mit einem Blick auf die folgenden Beispiele mag jeder die Frage, welche und wie viele es sind, vielleicht für sich fürs Erste mit zu beantworten suchen:

 

Kugelstoßen ist Kunst.

Kugelstoßen und Stabhochsprung sind Künste.    

 

Kugelstoßen ist Kunst.

Kugelstoßen und Stabhochsprung sind Kunst.

 

Kugelstoßen ist eine Kunst.

 

Kugelstoßen gehört, wie Malen und Schreiben, zur Kunst.

 

Kugelstoßen gehört, wie das Theater und die Literatur, zur Kunst.

 

Kugelstoßen gehört, wie das Theater und die Literatur, zu den Künsten.

 

Kunst ist Kunst.

 

Zur Kunst gehören alle Künste.

 

Das Kunstwerk ist Kunst.

 

Was ist Kunst?

 

Malen ist Kunst.

Malen und Tanzen sind Künste.

 

Malen ist Kunst.

Malen und Tanzen sind Kunst.

 

Malen ist eine Kunst.

Malen und Tanzen sind Künste.

 

Literatur ist Kunst.

Literatur und Bildhauerei sind Künste.

 

Literatur ist Kunst.

Literatur und Bildhauerei sind Kunst.

 

Literatur ist eine Kunst.

 

Die Kunst des literarischen Schreibens ist eine Kunst für sich.

Die Kunst der Literatur ist eine Kunst für sich.

 

(Liste ist individuell beliebig zu erweitern)

 

 

 

Literatur:

 

Humboldt, Wilhelm von (2008): Schriften zur Sprache, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins.

Kanz, Roland (2014): Kunst‚ in: Enzyklopädie der Neuzeit Online; online

unter: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a5043000 (zuletzt abgerufen:

23. Dezember 2018)

Keller, Rudi (42014): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag.

Keller, Rudi (22018): Zeichentheorie, Tübingen: UTB/A. Francke Verlag.

Schmücker, Reinold (2006): Kann das schönste Mädchen jemals häßlich sein?, in: Im Schatten des Schönen – Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld: Aisthesis Verlag.

Schmücker, Reinold (22014): Was ist Kunst? Eine Grundlegung, Frankfurt

a. M.: Verlag Vittorio Klostermann.

Oehm, Stefan (2019a): Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs 'Kunst', in: Mythos Magazin (http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_kunst.htm)

Oehm, Stefan (2019b): Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann.

Wikipedia-Eintrag: Kollektivsingular; online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektivsingular (zuletzt abgerufen: 02. Dezember 2020)

Wikipedia-Eintrag: Stoffname; online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Stoffname (zuletzt abgerufen: 02. Dezember 2020)

Wyss, Beat (2018): Reiche sind immer reich geblieben, Artikel in: F.A.S. 23.

Dezember 2018.



[1] Wikipedia-Eintrag: Kollektivsingular; online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektivsingular (zuletzt abgerufen: 02. Dezember 2020)

[2] Die sprachlichen Reaktionen während der Corona-Krise 2020 liefern dazu reichlich Anschauungsmaterial. So zeigte sich, dass sich typische Sprachmuster selbst in Kreisen finden lassen, in denen man sie vielleicht weniger vermutet hätte – beispielsweise bei der Zielgruppe der Leser der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.). Hier echauffierte sich ein Leserbriefschreiber über einen kritischen Artikel in der F.A.S. zu dem Mikrobiologen Prof. Sucharit Bhakdi, der die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für völlig überzogen und unangebracht hält, und schloss seinen Beitrag mit den Worten: „Fragen Sie doch einfach mal den Bürger“ (F.A.S. Nr. 49, 06. Dezember 2020, Hervorhebung S.O.).

[3] Wikipedia-Eintrag: Stoffname; online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Stoffname (zuletzt abgerufen: 02. Dezember 2020)

[4] Dabei muss man sich des Umstands bewusst sein, dass ein solcher Oberbegriff ein Abstraktum kennzeichnet, also keine real existierende Entität. Es handelt sich um eine Universalie, eine hypothetische Größe, mit der sich ausgezeichnet arbeiten lässt. Allerdings sollte man es tunlichst vermeiden, diesen Umstand im Umgang mit ihr irgendwann unter den Tisch fallen zu lassen und das Abstraktum für bare Münze zu nehmen, um dann so mit ihr zu operieren, als handle es sich um eine real existierende Entität.  

[5] Bei dem Begriff ‚Kunst‘, der auch in der essentialistischen Kernfrage Was ist Kunst? Anwendung findet, handelt es sich um jenen Oberbegriff, der alle künstlerischen Schöpfungen umfasst. Da dieser Begriff nun aber noch nicht in der Antike existierte, sondern ein neuzeitlicher, mitteleuropäischer Neologismus ist, würde, sollte die Frage dem roten Wesensfaden der Komprehension künstlerischer Schöpfungen (d.h. der Menge aller vergangener, gegenwärtiger sowie künftiger Schöpfungen) gelten, entweder eine heutige Denkfigur unzulässig in die Vergangenheit rückprojiziert resp. in die Zukunft projiziert werden. Oder aber es müsste ernsthaft die These aufgestellt werden, bei diesem Begriff ‚Kunst‘ handle es sich um den gleichen Begriffstypus (der Sprachwissenschaftler Rudi Keller nennt sie „Fregesche Begriffe“ [Keller 2018: 120]) wie die Begriffe ‚Gold‘ oder ‚Primzahl‘: ‚Gold‘ und ‚Primzahl‘ sind zeit- und kulturinvariant, zudem im allgemein akzeptierten Konsens eindeutig definiert. So kommt der Aussage 2 ist eine Primzahl immer und überall der Wahrheitswert f zu, der Aussage 3 ist eine Primzahl hingegen immer und überall der Wahrheitswert w. Eine solche zeit- und kulturinvariante, im allgemein akzeptierten Konsens getroffene Definition gibt es bei dem Oberbegriff ‚Kunst‘ nicht. Entsprechend gibt es auch keine gültigen Wahrheitswerte-Aussagen. Und eben auch keine aus einer solchen Definition abgeleiteten Aussagen über die Zuschreibung des Begriffs ‚Kunst‘ zu Genres, Stilen oder konkreten Artefakten, von denen dann verbindlich gesagt werden könnte, dass ihnen der Wahrheitswert w oder f zukommt.

[6] Es darf dabei natürlich nicht vergessen werden, dass die Bestimmung der Gebrauchsweisen immer nur den Gebrauchsweisen in der jeweils aktualen Synchronie gelten kann (die vom Zeitpunkt ihrer Bestimmung bis zu dem ihrer Darlegung schon wieder gewandelt haben können). Genauer gesagt: den Gebrauchsweisen in einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Sprachgemeinschaft, einer bestimmten kunstaffinen Peergroup etc. in der jeweils aktualen Synchronie. Zudem unterliegen alle Gebrauchsweisen einem steten, zumal asynchronen Wandel. Die eine Gebrauchsweise hält sich länger als die andere, in der einen Peergroup geht der eine oder andere Wandel der einen oder anderen Gebrauchsweise langsamer oder schneller vonstatten als in der anderen. Gleiches gilt für allgemein akzeptierte Gebrauchsweisen innerhalb einer Sprachgemeinschaft oder einer Kultur. Wobei gerade heute, im Zeitalter weltumspannender Kommunikation in Echtzeit, in der die Einbettung der Gebrauchsweisen in spezifische Lebenswelten einer zunehmenden Aufweichung und Diffusion weicht, kaum mehr trennscharfe Differenzierungen zwischen den Gebrauchsweisen relevanter termini technici in den einzelnen Kulturen, Sprachgemeinschaften, Peergroups etc. auszumachen sind – sie überlappen sich da und dort, bei dem einen mehr als bei dem anderen. Morgen vielleicht mehr als heute.

[7] Das Museum der bildenden Künste (MdbK) in Leipzig ist ein Ort, an dem die ‚moderne Kunst‘ als aktuales Momentum einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution gezeigt wird – nämlich besagter übergreifender Kunstgattung ‚bildende Kunst‘ (BK.2.1). Der Begriff ‚moderne Kunst‘ als aktuales episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution bezieht sich auf das, was dort aktuell zu sehen ist – eine Ausstellung mit Artefakten der Kategorie ‚moderne Kunst‘, die der übergeordneten Kunstgattung ‚bildende Kunst‘ zuzuordnen sind (BK.1.1). Würde hier John Cage aufgeführt werden oder an einem Ballettabend ein Stück von Pina Bausch, hätten wir es mit einer Variation des Begriffs ‚moderne Kunst‘ zu tun, da er sich hier nicht auf die Kunstgattung ‚bildende Kunst‘ bezieht. Wobei sowohl Cage, Bauch als auch die namenlose Ausstellung bildender Kunst in meinem Beispiel wiederum unter dem Begriff ‚moderne Kunst‘ als Beispiele einer aktualen Extraktion des Oberbegriffs ‚Kunst‘, das heißt als die alle Kunstgattungen umfassende Erscheinung der allgemeinen überindividuellen sozialen Institution in der aktualen Synchronie, subsumiert werden können (BK.3.1).

 

[8] Sind etwa Richard Longs Walks, seine konzeptionellen Wanderungen, nur ‚mechanische Kunst‘, nicht aber künstlerische Happenings, mithin also ‚ästhetische Kunst‘? Ist Arpad Dobribans Kochkunst keine Kunst? Und was wird morgen sein, dem Day After einer völligen Entgrenzung des Kunstbegriffs, wenn ein heute noch namenloser künstlerischer Kugelstoßer den formschönsten Kugelstoß aller Zeiten inszeniert? Was, wenn das kollektive, nicht intendierte Resultat aller individuellen intentionalen Zuschreibungen dieses Aktes dann besagt, dass es sich um ‚Kunst‘ handelt? Spätestens dann muss dieses Konzept lexikalischer Indikatoren zu Grabe getragen werden.

[9] Da sich jede Sprache unaufhörlich wandelt, solange sie nur über eine ausreichende Anzahl Sprecher verfügt, die sie aktiv sprechen (cf. Rudi Keller: Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag), besteht  zumindest die theoretische Möglichkeit, dass Schmücker in gewisser Weise doch recht hat: Angenommen, er hätte mit seinen Ausführungen den allgemein üblichen Gebrauch zutreffend beschrieben. Da sein Buch Was ist Kunst? Eine Grundlegung 1998 erschienen ist, würde es sich dabei um die Beschreibung der Gebrauchsweisen von 1998 handeln. Seitdem kann sich natürlich der Gebrauch, von uns unbemerkt, selbst in dieser historisch recht kurzen Zeit, durchaus gewandelt haben (ob es sich in diesem Fall tatsächlich so verhält, vermag ich ad hoc allerdings nicht zu sagen).