Worüber reden wir,
wenn wir über Kunst reden? (Teil 2)
Vom Wirken der unsichtbaren Hand
„Ein tausendmal gelesenes Buch – das sind tausend verschiedene Bücher.“
Andrej
Tarkowskij: Von der Verantwortung des Künstlers, 1967
„Erst durch die Handlung des Betrachters
entsteht ein Werk.“
Franz Erhard Walther
Franz Erhard Walther
4. Reden über
Kunst
4.1 Zwischenfazit
I
Unsere Fragen
begrenzen unsere Antworten. Gerade Mediziner wissen das aus ihrer täglichen
Praxis. Sie berücksichtigen bei der Anamnese mit größter Gewissenhaftigkeit
alle nur erdenklichen Aspekte und Möglichkeiten. Was in aller Regel auch dazu
führt, dass am Ende die richtige Diagnose gestellt wird. Dennoch wird es immer
wieder Fälle geben, in denen sich Ärzte, aus welchen Gründen auch immer, eine
Frage nicht stellen. Oder sich ihnen eine Frage vor der Diagnose nicht in der
Weise stellt, wie es der nun leider unentdeckt gebliebenen Ursache angemessen
gewesen wäre. Aber dann ist es vielleicht schon zu spät.
Einen nicht ganz
so dramatischen Verlauf nimmt die Geschichte in unserem Fall, dem Kontext
aktueller Kunst-Diskurse. Wenn wir uns hier bestimmte Fragen nicht oder nicht
angemessener Weise stellen oder sie, bevor wir sie stellen, nicht die bei der
Fragestellung benutzten Begrifflichkeiten reflektieren und sie stattdessen
perpetuieren, dann werden auch wir Antworten erhalten, die oft genug zwar in
höchstem Maße eloquent, aber dem Sachverhalt nicht recht angemessen sind. Nur
fällt dies zunächst nicht weiter ins Gewicht, denn es fällt ja niemand gleich
ins Koma oder lässt sein Leben, wenn, zum Beispiel, die allseits beliebte,
vermeintliche Geschmacksfrage gestellt wird: Ist das Kunst?
Wie minimiert
man nun die Gefahr, dass unsere Fragen unsere Antworten zu sehr einschränken
oder sie, weil sich ein über Generationen tradierter Bug, ein
Programmfehler
in unserer intellektuellen Software, eingeschlichen hat, fehlerhafte Antworten
generieren? Wer sein Hemd am Hals falsch anfängt zu knöpfen, kann im weiteren
Verlauf noch so sorgsam weiterknöpfen – am Hemdsaum wird er feststellen, dass,
wer falsch anfängt, auch falsch aufhört (Sollte man meinen. Leider erscheint
vielen ihr fehlerhaftes Resultat nicht als fehlerhaft, sondern als völlig
tragbar).
Diesen Fehler gilt
es nicht nur zu erkennen, es gilt ihn auch zu vermeiden. Deshalb haben wir nicht
stillschweigend eine vermeintlich etablierte Gebrauchsweise des Begriffs
‚Kunst‘ in unsere Eingangsfrage übernommen, sondern haben die Gebrauchsweise
selber einer grundsätzlichen Prüfung unterzogen. Und uns die Frage gestellt,
wie eine angemessene, systematische Erklärung (nicht Beschreibung) soziokultureller
Phänomene wie die des Sprachwandels oder, ihr logisch vorausgehend, der
Etablierung von Bedeutung, formuliert sein müsste. Dabei hielten wir fest, dass
diese nicht erst bei bestehenden Strukturen beginnen darf, sondern
methodologisch die Entstehung eben dieser Strukturen erklären muss: „Ausgangspunkt
der Erklärung sind handelnde Individuen“ (Keller 2014: 164).
Damit einher geht die Maxime:
„Vermeide Setzungen wie diejenige einer konventionellen Bedeutung, ohne dir die Mühe zu machen, aufzuzeigen, woher sie kommt und wie sie entsteht“ (Liedtke 2016: 45).
„Vermeide Setzungen wie diejenige einer konventionellen Bedeutung, ohne dir die Mühe zu machen, aufzuzeigen, woher sie kommt und wie sie entsteht“ (Liedtke 2016: 45).
Diese Vorgehensweise ist, wie Liedtke betont,
alternativlos: Ausgehend von der singulären Sprecher-Bedeutung muss
systematisch die regelhafte Ideolekt-Bedeutung hergeleitet werden, deren
Ausdrucksgebrauch dann als kollektive Praxis einer Gruppe beschrieben wird, die
sich zunehmend erweitert. Am Ende dieses Prozesses, der ein Prozess der
unsichtbaren Hand ist, steht die Konventionalisierung der Bedeutung eines
Äußerungstyps: „Jede andere Strategie
wäre hoffnungslos zirkulär“ (Liedtke 2016: 43).
Wie wir im
weiteren Verlauf gesehen haben, unterlag die Gebrauchsweise der Begriffe
‚Kunst‘, ‚ars‘ und ‚techné‘, wie prinzipiell alle sprachlichen Ausdrücke, einem
potentiell endlos ablaufenden, nie zielgerichteten Prozess des Sprachwandels,
den wir als Prozess der unsichtbaren Hand beschrieben haben: Die
Gebrauchsweisen stellen jeweils episodale, nicht intendierte, kollektive und
kausale Resultate unzähliger intentionaler individueller Handlungen in einem
diachronischen Kontinuum dar. Es sind Gebrauchsweisen, die, als stets im Wandel
begriffene Verwendungen, in dem Moment, wo sie eine etablierte Bedeutung in der
Synchronie ausweisen, bereits wieder verblassen und vergehen, nach und nach an
Gültigkeit verlieren: Die diachronische Identität bietet über drei, maximal
vier Generationen hinweg Stabilität und Kontinuität – und in dieser Zeit damit eine
gewisse Verständnissicherung (und bestenfalls in diesem Zeitrahmen lässt sich das
die flüssige Kommunikation sichernde intersubjektive Verständnis etablierter
Bedeutungen wechselseitig unterstellen).
Diese Betrachtungen haben uns zwar der Antwort auf die Frage nicht
sonderlich nähergebracht, worüber wir reden, wenn wir über Kunst reden. Aber
wir wissen nun, dass, bis auf einige wenige Formen episodaler „autoritativer Sprachfestsetzungen“ wie „DIN-Terminologie, Orthographiereform oder
Umbenennungen“ (Keller 2014: 210), Bedeutungen von Äußerungstypen im endlos
und kontinuierlich ablaufenden diachronen Prozess nicht gesetzt oder, wie die
Setzungsversuche durch autoritäre Regime, kaum dauerhaft erfolgreich gesetzt
werden können. Bedeutungsetablierung sowie Sprach- und Bedeutungswandel sind
als soziokulturelle Phänomene Phänomene der dritten Art und unterliegen dem
Prozess der unsichtbaren Hand. Dies gilt damit auch für die Etablierung der Gebrauchsweise
des Begriffs ‚Kunst‘, sein Wandel über die Jahrhunderte, in den Kulturen, den
verschiedenen Gesellschaften und einzelnen gesellschaftlichen Gruppen. Davon
unbenommen bleiben natürlich die zahllosen singulären Äußerungsvariationen, die
sich in Einzelfällen als regelhafte Gebrauchsweisen etablieren können, zumeist
aber unbemerkt von der Begriffsgeschichte im Sande verlaufen.
4.2 Zwischenfazit
II
Der Versuch nun,
alle Faktoren benennen, angemessen und umfassend beschreiben und analysieren zu
wollen, die relevant sind für eine erschöpfende Beantwortung der Eingangsfrage ‚Worüber
reden wir, wenn wir über Kunst reden?‘, würde aus diesem Aufsatz ein
enzyklopädisches Werk machen. Im vollen Bewusstsein dieser kaum zu leistenden
Leistung habe ich mich auf die Analyse einiger grundsätzlicher sprachlicher
Aspekte beschränkt. Der Grund ist ein recht schlichter: Ick bün all dor. Nach dem vorsprachlichen Stadium der Kindheit ist
für uns im Wachzustand, wenn wir bei vollem Bewusstsein sind, die Sprache
allgegenwärtig. Was auch immer wir denken, wir sagen, wir lesen, wir sehen, wir
hören – jeder Moment ist uns, in dem wir uns seiner bewusst werden,
versprachlicht (was durchaus die Möglichkeit offen lässt, Erfahrungen zu
machen, die uns nicht bewusst sind – werden sie uns jedoch bewusst, werden sie
unweigerlich sprachlich). Um Sprache kommen wir, man mag es bedauern, nicht
herum. Auch nicht, wenn wir über Kunst reden. Zudem bestimmt Sprache ganz
wesentlich unsere Denk- und Wahrnehmungsstruktur. „Wir hören auf zu denken, wenn wir
es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen“, so zitiert der israelische Linguist Guy
Deutscher in einem Feuilletonbeitrag Friedrich Nietzsche. Und in einem
Vorabdruck von Wolfram Eilenbergers Buch ‚Zeit der Zauberer. Das große
Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929‘ in der F.A.S. vom 04.03.2018 zitiert dieser Ludwig Wittgenstein: „Der Mensch hat den Trieb, gegen die Grenzen
der Sprache anzurennen (…) Alles, was wir sagen mögen, kann a priori nur Unsinn
sein. Trotzdem rennen wir gegen die Sprache an.“
Das Reden über
Kunst folgt den gleichen Regeln und Handlungsmaximen wie jedes Reden. Die Kunst
macht da keine Ausnahme. Für sie gilt, was schlichtweg für alle Gebrauchsweisen
von Begriffen und Äußerungstypen gilt. Für alles singuläre Bedeuten und
Verstehen (und Missverstehen). Für jede Etablierung von Bedeutung, jeden Wandel
von Bedeutung und Verständnis, jedes konstitutive kommunikative Momentum. So
auch jenes, dass das Ziel der Kommunikation nicht zwingend die Verständigung
ist. Sondern, ganz allgemein und wertfrei, Einfluss auf andere zu nehmen.
Die Konsequenzen
für den Gebrauch des Begriffs ‚Kunst‘, die sich daraus wie auch aus dem beschriebenen
Abschied von der tradierten Dichotomie, dem Verständnis der Sprache als
soziokulturelles Phänomen und ihrem spezifischen Seinszustand als episodales Ereignis
ergeben, sind erheblich. Es zeigt sich, dass es unendlich viele
unterschiedliche Gebrauchsweisen des Begriffs ‚Kunst‘ in den einzelnen
Kulturen, den verschiedenen Gesellschaften und einzelnen gesellschaftlichen
Gruppen in der Synchronie wie auch in der Diachronie gibt. Gebrauchsweisen, die
sich zudem auf verschiedene Ebenen beziehen. Auf die Zuschreibung einzelner
Werke wie auch auf überzeitliche Phänomene. Auf soziale Institutionen ebenso
wie auf dieses numinose ‚Wesen‘, die essentia.
Auf ein selbsttätiges Subjekt und auf die Gattung Kunst. Gebrauchsweisen, die
alle legitim sind. Aber durchaus nicht alle angemessen.
Wenn wir bei einem Vortrag, in einem wissenschaftlichen oder
feuilletonistischen Text, in einem Diskurs oder auch im alltäglichen Kontext
über Kunst reden oder über Kunst nachdenken, bewegen wir uns, wenn wir den
Begriff verwenden, häufig auf verschiedenen Ebenen der Verwendung des Begriffs
‚Kunst‘ gleichzeitig. Manchmal mögen die Verwender das aus Unachtsamkeit, aus
Unkenntnis oder auch schlicht aus Schludrigkeit tun. In den meisten Fällen
jedoch, so meine Vermutung, operieren sie mit verschiedenen Gebrauchsweisen des
Begriffs ‚Kunst‘ schlicht deshalb, weil zwar die meisten, zumal die
Fachgelehrten unter ihnen, selbstverständlich um die verschiedenen Gebrauchsweisen
wissen, aber – erstens – im Moment des Gebrauchs der verschiedenen
Gebrauchsweisen keinen Gebrauch von diesem Wissen machen (warum auch immer).
Und – zweitens – zumeist nicht um den Prozess der Etablierung der
Gebrauchsweisen wissen und damit auch nicht um die sich daraus ergebenen Konsequenzen
(wenn wir damit auf unsere prinzipielle sprachliche Gebundenheit hinweisen, der
wir nicht entfliehen können, wollen wir keineswegs erneut einem linguistic turn
oder einer Wiederauflage sprachanalytischer Ästhetik das Wort reden. Es soll
lediglich ein Beitrag dazu geleistet werden, dass wir, in Kenntnis der
unhintergehbaren Bedingungen, die uns der Gebrauch der Sprache auf ewig
auferlegt, kritischer und sensibler mit unseren vermeintlichen Erkenntnissen
und deren Folgerungen umgehen).
4.3 Systematische
Zusammenfassung
Sprache ist, wie
wir gesehen haben, Sprache auf zwei Ebenen:
I.
Auf der Mikroebene
der individuellen Handlungsweisen
II.
Auf der „Makroebene der sozialen Institutionen“ (Keller
2014: 97)
Sprechen wir von der Sprache auf der Makroebene, sollten wir ebenfalls
zwischen zwei verschiedenen Ebenen differenzieren:
II.a Einzelsprache als spezifisches überindividuelles soziales Sprachsystem
II.b Sprache als allgemeines überindividuelles soziales Sprachsystem
Die Makroebene (II.a) ist die Ebene der kollektiven Konsequenzen der sie „erzeugenden individuellen Handlungsweisen“ (Keller 2014: 97) auf der Mikroebene. Dort findet die Etablierung der Gebrauchsweise der Begriffe einer Sprache, also ihrer Bedeutung und ihres Korrelats, des Verständnisses (in diesem Fall: der Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘) und ihr Wandel statt.
Sprache (Mikroebene: Gebrauchsweise des Begriffs
‚Kunst‘):
a.1 Die Beschreibung der
Etablierung der Gebrauchsweise eines Begriffs muss systematisch von einem
singulären Gebrauch, der Sprecher-Intention resp. Sprecher-Bedeutung eines
einzelnen Sprechers, ausgehen. Nur dann ist sie auch explikativ. Theorien, die
den Wandel des Kunstbegriffs über die Jahrhunderte nachzeichnen, sind nicht
explikativ, sondern nur deskriptiv, wenn sie eben diese systematische Leistung
nicht erbringen: Sie zeigen nur, dass
sich der Begriff wandelt. Nicht aber wie.
b.1 Jede Etablierung der Gebrauchsweise
eines Begriffs ist das Resultat eines Invisible-hand-Prozesses: Diese
Gebrauchsweise ist ein kollektives kausales, nicht intendiertes und nicht
geplantes Ergebnis ungezählter gleichgerichteter individueller intentionaler
Handlungen. Dies gilt entsprechend auch für die Etablierung jeder
Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘. Zu jeder Zeit, in jeder Kultur, in jeder
Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe.
c.1 Sprache ist auf der
Mikroebene nicht monadisch definiert, sondern diskursiv und interaktionell. Sie
ist ein gerichteter Akt, bedarf eines anderen – intendieren, meinen und
bedeuten sind stets an einen Rezipienten gebunden: Er muss die „reflexive Intention“ (Liedtke 2016: 37)
erkennen, um zu wissen, was der Sprecher meint (also die „Sprecher-Intention“
resp. Sprecher-Bedeutung“). Sprache ist Sprache faktisch immer nur im Gebrauch
(Sprache bisweilen als ‚ergon‘ zu sehen, kann „ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis“ (Keller 2014: 171) sein
– es darf aber nicht zur Annahme verführen, dass dieses überaus hilfreiche theoretische
Konstrukt in der Realität auch als eine Art überzeitlicher, vom Einzelnen
unabhängiger Korpus gegeben ist).
d.1. Ob ein intersubjektives Verständnis, das eine flüssige
Kommunikation sichert, auch tatsächlich gegeben ist, kann, trotz aller
konstituierenden kollektiven Prozesse, immer „nur wechselseitig unterstellt werden“ (Liedtke 2016: 40). Zur
flüssigen Kommunikation reicht demnach schon die Unterstellung, der Anschein oder die Suggestion eines
solches intersubjektiven Verständnisses aus. Dies gilt generell für jedes intersubjektive
Verständnis einer Äußerung. So auch für die des Begriffs ‚Kunst‘ (in all seinen
Gebrauchsweisen).
e.1 Im Gegensatz zum landläufigen
Verständnis ist die Verständigung gerade „nicht
‚der Zweck’ der Sprache“ – „allenfalls
einer unter vielen“ (Keller 2014: 135). Es kann andere, vorrangige Ziele
einer Kommunikation geben als verstanden zu werden (den anderen zu etwas zu
bewegen). Allein: Ich muss ein wenig Rücksicht auf einen Minimalkonsens in
puncto Verständlichkeit nehmen (oder vorsichtiger formuliert: ‚einen Minimalkonsens
in puncto angenommener Verständlichkeit‘), sonst gefährde ich den Erfolg meiner
Vorsatzabsicht. So darf meine Sprecher-Bedeutung nicht zu originell sein, denn „jede Innovation riskiert das Verständnis“
(Keller 2014: 140) (oder auch hier vorsichtiger formuliert: ‚jede Innovation
riskiert das angenommene Verständnis‘).
f.1 Jede etablierte Gebrauchsweise eines Begriffs, so auch die der ‚Kunst‘, unterliegt dem Prozess des Sprachwandels, dem ein Bedeutungs- und Verständniswandel innewohnt (die, als soziokulturelle Phänomene, Phänomene der dritten Art sind). Dieser Wandel vollzieht sich also beständig im diskursiven Gebrauch der einzelnen Sprecher zu jeder Zeit, in jeder Kultur, in jeder Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe als nicht intendiertes kollektives Resultat einzelner Handlungen.
g.1 Jede zu einem gewissen Zeitpunkt und für einen gewissen Zeitrahmen etablierte Gebrauchsweise eines Begriffs, also auch die des Begriffs ‚Kunst‘, stellt demnach nur ein episodales Ereignis innerhalb eines zeitlichen Kontinuums dar: Es gibt keine numinose, von individuellen Gebrauchsweisen unabhängige und überzeitliche Bedeutungskonstante des Begriffs ‚Kunst‘, bestenfalls eine einige Generationen währende, verständnissichernde ‚diachronische Identität‘.
h.1 In unserer Epoche, in unser Generation, in unserer Kultur und Gesellschaft gibt es nicht nur eine etablierte Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘, sondern deren viele. Da nicht davon auszugehen ist, dass unsere Epoche, unsere Generation, unsere Kultur und Gesellschaft etwas in der Historie Einzigartiges darstellt, bedeutet dies, dass es in jeder Epoche, in jeder Generation, in jeder Kultur und Gesellschaft nicht nur eine etablierte Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘ (resp. ‚techné‘, ‚ars‘ etc.) gab und gibt, sondern unendlich viele (spätestens an dieser Stelle bekommt die Frage, wovon wir reden, wenn wir über Kunst reden, eine pikante Note).
i.1 Jede aktuale etablierte Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘ innerhalb einer Kultur, einer Gesellschaft oder einer spezifischen Gruppe ist jeweils individueller Ausgangspunkt der Betrachtung des Kunstverständnisses, der künstlerischen Konkretisierungen und des Phänomens Kunst anderer Epochen, Gesellschaften oder Kulturen: Diese Perspektivität impliziert eine relative Gültigkeit der Aussagen, die ich kaum aufzuholen vermag. Kann ich mich in der Synchronie noch um eine dialogische Vergewisserung bemühen, ob meine Interpretation der reflexiven Intention (oder mein Verständnis der etablierten Bedeutung) zutreffend ist oder nicht, ist mir die direkte Form der Vergewisserung aus verständlichen Gründen verwehrt, wenn es um vergangene Ereignisse geht. Rückblickende Interpretationen sind so bestenfalls Interpolationen, besitzen immer einen nie zu verifizierenden spekulativen Charakter (eine Aussage, die weder ihre Berechtigung noch ihren enormen Erkenntnisgewinn bestreitet – sie relativiert diese Interpretationen lediglich grundsätzlich: Es geht bei ihnen nicht um ‚Wahrheit‘, bestenfalls um ‚Wahrscheinlichkeit‘).
j.1 Der Prozess der Etablierung
einer regelhaften Gebrauchsweise, die die Etablierung einer Bedeutung bedeutet,
ist ein Prozess der Kollektivierung eines bestimmten Gebrauchs und damit der
einer Entsubjektivierung: Die Vorstellung von Bedeutung ist hier eben nicht die
einer wie auch immer gearteten ‚mentalen Vorstellung‘, die ein Individuum, ein
Subjekt von etwas hat. Sondern die einer Gebrauchsweise, bei der viele diesen
Begriff verwenden.
k.1 Spreche ich von der Etablierung der Gebrauchsweise eines Begriffs, so betrifft dies noch nicht einmal
• die Ebene der Konnotationen
• die der konversationellen Implikaturen (Liedtke 2016: 69; hier
expliziert er die Differenzierungen, die Grice in den William-James-Lectures
1967 an der Harvard-University machte)
• die ihrer Generalisierung in einem zur Etablierung der Gebrauchsweise
analogen Prozess der ‚sozialen Kristallisation’ (de Saussure 2013: 16), die auch ein Invisible-hand-Prozess und damit ein Phänomen der dritten
Art ist
• die Ebene der konventionellen Implikatur (also die der etablierten
generalisierten konversationellen Implikatur (Liedtke 2016: 77))
• die Ebene der individuellen Assoziationen
• die Einflussnahme der jeweiligen Lebenswelt und des in ihr
mitschwingenden konjunktiven Wissens, das ich nicht einmal selber explizieren
kann
Spätestens hier weicht die zur Sicherstellung der flüssigen
Kommunikation notwendige Unterstellung eines wechselseitigen Verständnisses der
Gewissheit, dass diese Unterstellung tatsächlich nur eine Unterstellung sein
kann, ja bleiben muss. Denn all die genannten, potentiell bedeutungstragenden
Momenta können kaum im Moment des Gebrauchs gewusst oder intersubjektiv
ausreichend abgeklärt werden. Die Vorstellung einer objektiv gelungenen
Kommunikation wird somit mehr oder weniger zur Fiktion. Die Kommunikation erscheint uns gelungen. Und diesen
Schein nehmen wir für bare Münze, weil ansonsten jede Form von Kommunikation
nicht allein unter Verständnisvorbehalt stünde – wir wären in jeder Sekunde
derart von Zweifeln ob des Gelingens des diskursiven Verständnisses zerfressen,
dass wir kaum mehr zu einer halbwegs flüssigen Kommunikation in der Lage wären.
Sprache
(Makroebene der sozialen Institutionen):
a.2 Sprache ist ein
soziokulturelles Phänomen.
b.2. Als solches ist sie ein Phänomen der dritten Art, weder Artefakt noch Naturphänomen. Ihr Seinszustand ist der einer flüchtigen Episode, sie ist das kollektive kausale, nicht intendierte und nicht geplante Ergebnis ungezählter gleichgerichteter individueller intentionaler Handlungen (wobei auch dieses prozessuale Momentum namens Episode genau genommen auch nur eine kommunikative Hilfskonstruktion, eine Abstraktion ist: Sprache ist als Sprache de facto immer nur im Moment des Gebrauchs durch den jeweilig Gebrauchenden (und Rezipierenden). Sie hat kein von ihm oder ihnen unabhängiges Leben. Kein eigenes Sein. Und ist kein eigenständig Seiendes).
b.2. Als solches ist sie ein Phänomen der dritten Art, weder Artefakt noch Naturphänomen. Ihr Seinszustand ist der einer flüchtigen Episode, sie ist das kollektive kausale, nicht intendierte und nicht geplante Ergebnis ungezählter gleichgerichteter individueller intentionaler Handlungen (wobei auch dieses prozessuale Momentum namens Episode genau genommen auch nur eine kommunikative Hilfskonstruktion, eine Abstraktion ist: Sprache ist als Sprache de facto immer nur im Moment des Gebrauchs durch den jeweilig Gebrauchenden (und Rezipierenden). Sie hat kein von ihm oder ihnen unabhängiges Leben. Kein eigenes Sein. Und ist kein eigenständig Seiendes).
c.2. Sprache muss systematisch so erklärt werden wie die Etablierung von
Bedeutung und der Sprachwandel: von der singulären Verwendung hin zur
kollektiven Konsequenz.
d.2 Sprache ist stets im Wandel
begriffen. Solange es Sprecher einer natürlichen Sprache gibt, die miteinander
kommunizieren, werden sie die Sprache wandeln – nie zielgerichtet, nie
intendiert, sondern ungeplant, ungewollt und potentiell endlos.
e.2. Sprache als Sprachsystem, als ergon oder langue zu betrachten und
so von ihr zu reden, ist ein legitimer Akt kommunikativer Ökonomie und
bisweilen auch gebotene Erfordernis. Jedoch anzunehmen, es gäbe sie unabhängig
und losgelöst von den Verwendern und dem Akt der Verwendung, ignoriert den die
Sprache konstituierenden und perpetuierenden Prozess sowie dessen Implikationen
und Konsequenzen.
f.2 Sprache ist, wie jedes
soziokulturelle Phänomen, kein Handlungssubjekt, kein animal rationale. Sie
kann nicht selbsttätig agieren. Jeder vitaliserende und anthropomorphisierende
Gebrauch des Begriffs ‚Sprache‘ stellt somit zwar eine mögliche, zulässige und
seit Jahrtausenden auch genutzte Variation des Begriffs dar, ist aber eine
irrführende Gebrauchsweise, die auf keinen realen Sachverhalt verweist.
Auch die Kunst
ist Kunst auf zwei Ebenen:
I.
Die Makroebene der
‚sozialen Institutionen‘
II.
Die Mikroebene des individuellen Kunstschaffens
Sprechen wir von der Kunst auf der Makroebene, sollten wir zwischen drei
verschiedenen Ebenen differenzieren:
I.a
Künstlerisches Genre als episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution
(z.B. in der Musik: Jazz, Rock, Klassik etc.)
I.b Kunst als spezifische
überindividuelle soziale Institution (z.B. die Musik, die bildende Kunst, das Theater)
I.c
Kunst als allgemeine
überindividuelle soziale Institution
Kunst
(Makroebene der sozialen Institutionen)
a.3 Kunst ist ein
soziokulturelles Phänomen.
b.3 Nicht nur die Rede über Kunst, also die
Etablierung der Gebrauchsweise des Begriffs (und damit seines Verständnisses),
ist im Rahmen eines Prozesses der unsichtbaren Hand das kausale kollektive,
nicht intendierte und nicht geplante Ergebnis individueller intentionaler
Handlungen (durch seine individuelle intentionale Teilhabe hat jeder der
Beteiligten die kollektive Bedeutungsetablierung mitgetragen und
mitverantwortet) – auch die Konstitution von Kultur und Kunst als soziale
Institutionen erfolgt in einem solchen Prozess der unsichtbaren Hand: Beteiligt
sind daran nicht allein Kunstschaffende und Kunstrezipienten, sondern alle in
einem definierten Zeitkontinuum in der betreffenden Gesellschaft lebenden und
handelnden Individuen (die durch ihre individuelle Teilhabe für die kollektive
Konstitution mitverantwortlich sind) – auch die, die der jeweiligen Kultur oder
Kunst ablehnend gegenüber stehen.
c.3 Durch diese individuelle Teilhabe am
kollektiven Prozess der Konstitution auf der Makroebene ist bei den
Teilhabenden eine zumeist von ihnen nicht explizierbare ‚diachronische
Identität‘ gegeben. Also ein kulturelles ‚Verständnis‘ des episodalen
Ergebnisses dieser Invisible-hand-Prozesses – unabhängig davon, wie dieses
jeweils von dem Einzelnen gesehen oder bewertet wird. Ein solch originäres
Verständnis ist uns, weil wir als westliche Beobachter am Konstitutionsprozess
nicht unmittelbar teilhaben, bei der aktuellen Kunst Afrikas nur in sehr
eingeschränktem Maße möglich. Ebenso geht es uns, aus naheliegenden Gründen,
auch bei der ‚Kunst‘ der alten Griechen, Römer, Skythen oder Mayas. Wodurch
sich natürlich die Frage stellt, inwieweit ein angemessenes Verständnis der
Kunst (auf der Makroebene), an deren Konstitutionsprozess wir nicht teilnehmen
konnten oder können, überhaupt möglich ist. Wir können interpretieren und
interpolieren, uns einem möglichen Verständnis reflexiv annähern. Aber der
Angemessenheit unseres Ergebnisses können wir nie sicher sein.
d.3 Auf der Makroebene sind
jeweilige episodale Erscheinungen der Kunst (wie zum Beispiel solche, die als
‚Impressionismus‘, ‚Expressionismus‘ oder ‚Kubismus‘ bezeichnet wurden) im
zeitlichen Kontinuum Resultate eines Invisible-hand-Prozesses. Also das
kollektive kausale, nicht intendierte, nicht geplante und auch nicht
zielgerichtete Ergebnis ungezählter gleichgerichteter individueller
intentionaler Handlungen der Kunstschaffenden, die zielgerichtet, geplant und
auf einen zumindest temporär finalen Zustand, die Artefakte, ausgelegt waren:
Die Makroebene ist eine kollektive Konsequenz der sie erzeugenden Mikroebene.
e.3 Auch die Kunst bisweilen wie
ein überzeitliches Phänomen, ein ergon
zu betrachten, mag „ein vom Arbeitsziel
gebotenes Erfordernis“ (Keller) sein
– aber faktisch gegeben ist sie, wie jedes andere soziokulturelle Phänomen
auch, aufgrund des spezifischen prozessualen Charakters ihrer Genese und
Wandels nie als überzeitliches Momentum, immer nur als flüchtige Episode
innerhalb eines zeitlichen Kontinuums.
f.3 Der Prozess des Wandels der
Kunst auf der Makroebene und ihrer jeweiligen episodalen Erscheinungen ist,
solange es Kunstschaffende und Rezipienten gibt, als kollektive Konsequenz der
sie erzeugenden Mikroebene potentiell endlos.
g.3 Auch Kunst ist kein
Handlungssubjekt. Unser vitalisierender und anthropomorphisierender
Sprachgebrauch will uns auch in diesem Fall das oft genug glauben machen (auch
der Markt reguliert sich nicht selber, genauso wenig ist es der Staat, der
eingreift – regulieren oder eingreifen können nur wir, die Individuen. Wir sind
einzig imstande zu handeln. Und sind wir in unserer Gesamtheit verantwortlich,
nicht ein ominöses, abstraktes Wesen namens Sprache, Kunst, Markt oder Staat.
Jedoch erfolgen diese individuellen Handlungen im Rahmen des nun schon zur
Genüge bekannten Invisible-hand-Prozesses. Und als kollektives Phänomen lässt
er kaum die Zuweisung einer individuellen Verantwortung zu).
h.3 Wer über Kunst reden will,
muss notgedrungen auf die Sprache zurückgreifen und damit ihren
handlungstheoretischen und soziokulturellen Bedingungsrahmen beachten: Jede
ästhetische, kunstphilosophische oder kunstwissenschaftliche Theorie hat die
Überlegungen zur Sprache auf der Mikro- und der Makroebene zumindest zur
Kenntnis zu nehmen (gleiches gilt auch für jede Beschäftigung mit der Kunst auf
der Mikroebene individuellen Kunstschaffens).
Kunst
(Mikroebene des individuellen Kunstschaffens)
a.4 Kunst ist, wie die Sprache,
als soziokulturelles Phänomen auf der Mikroebene der singulären Werke immer
gerichtet, bedarf immer eines anderen. So wie dort Sprecher und Angesprochener (der
nicht zwingend ein anderer sein muss – es kann sich auch um ein Selbstgespräch
handeln) zwei Seiten einer Medaille sind, so sind es hier Kunstschaffende und Rezipienten
(der auch nicht zwingend ein anderer sein muss), die untrennbar miteinander
verbunden sind
31
: So wie die Sprache erst im dialogischen Akt der Verwendung
ihren eigentlichen Seinszustand als Sprache erfährt, so erfährt das Werk erst
im konkreten Akt der Rezeption seinen eigentlichen Seinszustand als Werk (was
ist eine ungesprochene Sprache, eine ungehörte Oper, ein ungelesener Roman,
eine ungesehene Videoinstallation? Nichts, nicht einmal keine Sprache, keine
Oper, kein Roman, keine Videoinstallation). Und mit jedem Hören, Lesen, Sehen
werden andere Eindrücke, Empfindungen und Assoziationen evoziert, so dass,
ausgehend vom bestehenden Werk, in der unmittelbaren, spontanen Rezeption
beständig ein neues entsteht (davon unbenommen bleibt jegliche Interpretation,
die eine nicht weniger relevante, jedoch nachgelagert mittelbare,
intellektuelle Rezeption leistet).
b.4 Kunst auf der Mikroebene ist
aber, anders als sprachliche Äußerungen auf dieser Ebene, nicht nach
diskursiven und interaktionellen Regeln und Handlungsmaximen strukturiert (auch
wenn sie, wie die Literatur, das Theater, der Film oder auch die Konzeptkunst
eines Joseph Kosuth oder Lawrence Weiner, im Wesentlichen mit Sprache agiert
und es Kunstformen gibt, die explizit den Diskurs und die Interaktion suchen). Somit
ist sie strukturell auch nicht wie die Sprache zu verstehen.
c.4 Der Kunstschaffende allein
reicht nicht aus, um Kunst zu schaffen – er erschafft lediglich Artefakte.
Diese sind nicht allein durch ihn als Künstler schon Kunst oder gar Kunst aus
sich selbst heraus. Auch sind sie nicht deshalb Kunst, weil Experten sie in
einem Akt autoritativer Festlegung als ‚Kunst‘ deklarieren.
d.4 So wie die Kunst auf der
Makroebene als soziale Institution kein animal rationale ist, so ist auch die
Kunst auf der Mikroebene als Ergebnis des individuellen Kunstschaffens keines.
Unsere vitalisierende und anthropomorphisierende Redeweise verführt uns aber
wider besseren Wissens dazu, unter anderem auch von künstlerischen Werken so zu
reden, als würde es sich bei ihnen um selbstständig agierende Handlungssubjekte
handeln: ‚Das Bild spricht mich an.‘ ‚Das Theaterstück sagt mir nichts.‘ ‚Die
Oper hat mich tief bewegt.‘ Diese Vitalisierung und Anthropomorphisierung der
einzelnen Werke wäre nicht weiter der Rede wert, würden wir uns nicht auch
denkstrukturell von ihr verführen lassen und den Werken eine vom
Kunstschaffenden unabhängige, eigenständige Instanzlichkeit zumessen. Es gibt
in diesem Kontext aber lediglich zwei Handlungssubjekte (was nicht heißt, dass
es nicht tausende von beeinflussenden Faktoren gibt, die zudem individuell
völlig unterschiedliche Wirkungen zeitigen können): den Kunstschaffenden sowie
den Rezipienten – das Werk hingegen ist
keines. Ohne Kunstschaffende kann kein Werk sein (was ja genau genommen
erst durch einen Rezipienten zu einem Werk wird), Kunstschaffende und
Rezipienten können aber sehr wohl ohne ein Werk sein.
Ein Werk kann den Rezipienten auf der inspiratorisch-assoziativen Ebene nicht ansprechen, nur der Kunstschaffende kann ihn vermittels des Werks ansprechen. Entsprechend kann sich der Rezipient nur von dem Kunstschaffenden vermittels des Werks auf der inspiratorisch-assoziativen Ebene angesprochen fühlen (und zwar unmittelbar), nicht aber vom Werk als solchen. Wobei zum einen der Kunstschaffende selbstverständlich, aus welchen Gründen auch immer, fast völlig hinter seinem Werk zurücktreten kann, so dass dem Rezipienten das Werk fast autonom erscheinen mag. Aber egal, ob der Kunstschaffende nun für den Rezipienten in Erscheinung tritt oder nicht: Es muss ihn gegeben haben. Ohne Kunstschaffende kein Werk (deren Kunstschaffen wiederum nie im luftleeren Raum stattfindet, sondern immer kontextuell gebunden und bedingt ist). Zum anderen: Dieses ‚Ansprechen‘ ist neutral gemeint – es kann alle nur erdenklichen Formen, von der Beglückung über Ratlosigkeit bis zum Ekel, annehmen (Horkheimer/Adorno sprachen, Nietzsche zitierend, vom Jazz als „stilisierte Barbarei“ (Horkheimer/Adorno 1980: 115); zu den Bach-Fugen habe ich, ich muss es zu meiner großen Schande gestehen, keinen Zugang).
Ein Werk kann den Rezipienten auf der inspiratorisch-assoziativen Ebene nicht ansprechen, nur der Kunstschaffende kann ihn vermittels des Werks ansprechen. Entsprechend kann sich der Rezipient nur von dem Kunstschaffenden vermittels des Werks auf der inspiratorisch-assoziativen Ebene angesprochen fühlen (und zwar unmittelbar), nicht aber vom Werk als solchen. Wobei zum einen der Kunstschaffende selbstverständlich, aus welchen Gründen auch immer, fast völlig hinter seinem Werk zurücktreten kann, so dass dem Rezipienten das Werk fast autonom erscheinen mag. Aber egal, ob der Kunstschaffende nun für den Rezipienten in Erscheinung tritt oder nicht: Es muss ihn gegeben haben. Ohne Kunstschaffende kein Werk (deren Kunstschaffen wiederum nie im luftleeren Raum stattfindet, sondern immer kontextuell gebunden und bedingt ist). Zum anderen: Dieses ‚Ansprechen‘ ist neutral gemeint – es kann alle nur erdenklichen Formen, von der Beglückung über Ratlosigkeit bis zum Ekel, annehmen (Horkheimer/Adorno sprachen, Nietzsche zitierend, vom Jazz als „stilisierte Barbarei“ (Horkheimer/Adorno 1980: 115); zu den Bach-Fugen habe ich, ich muss es zu meiner großen Schande gestehen, keinen Zugang).
Auf der inspiratorisch-hermeneutischen Ebene hingegen gibt es zwei
Möglichkeiten: Das ‚Angesprochenwerden‘ kann sowohl unmittelbar als auch mittelbar
erfolgen. Letzteres wenn beispielsweise im Rahmen einer wissenschaftlichen
Arbeit eine interpretative Auseinandersetzung mit dem Werk geboten ist. Der
Rezipient, zumal der gebildete, kann in dem Fall entlang des Werkes auf Basis
der Künstler-Intention, aller nur denkbaren Kontexte und Zusammenhänge sowie
theoretischer Konzepte eine interpretative Leistung erbringen – mag sie nun als
Deutung des Textes, des Bildes, der Partitur oder doch eher als eine
individuelle bedeutungsgebende Leistung des Interpreten angesehen werden.
e.4. Sprecher-Intentionen
beziehen sich auf singuläre Äußerungstypen innerhalb eines umfassenderen
sprachlichen Kontextes, Künstler-Intentionen jedoch beziehen sich auf ein
Artefakt (einen Roman, eine Oper, eine Performance, eine Videoinstallation
etc.), eine umfassende Werkgruppe oder sogar auf ein gesamtes künstlerisches
Oeuvre. Dabei ist es denkbar, dass Künstler eine konsequente ‚künstlerische
Sprache‘ entwickeln. In diesem Fall könnte eine singuläre Intention zu etwas
werden, was, in Anlehnung an die linguistisch-handlungstheoretische
Terminologie, eingedenk aller Vorbehalte vielleicht als ‚künstlerischer
Ideolekt‘ bezeichnet werden kann. Ein Ideolekt, der für geübte Rezipienten dieser
künstlerischen Werke in ähnlicher Weise verständlich ist wie der Ideolekt eines
Sprechers für die Angesprochenen.
f.4. In den schönen Künsten der modernen Kunst sind singuläre Werke aber
in der Regel nicht, wie sprachliche Äußerungen, durch die handelnden Personen
strukturell darauf ausgelegt, von einer singulären, individuellen Intention
ausgehend eine Bedeutung, eine regelhafte Gebrauchsweise zu etablieren.
g.4 Ob bei künstlerischen Werken überhaupt ein
Fall des Meinens im strengen Sinne des von Grice entwickelten
handlungstheoretischen Grundmodells (cf. Kap. 2.11) vorliegen kann, ist
fraglich – künstlerische Werke sind zwar auch in gewisser Hinsicht singuläre
Äußerungen (also nicht Äußerungen etablierter Bedeutungen), aber es sind
‚Äußerungen‘ abgeschlossener Artefakte. Grice‘ Modell bezieht sich jedoch
strukturell auf singuläre Äußerungen singulärer Äußerungstypen. Liegt bei einem
Artefakt in diesem handlungstheoretischen Sinne aber kein Meinen vor, gibt es
bei ihm auch keine „reflexive Intention“
(Liedtke 2016: 37) zu erkennen (in diesem
Sinne gibt es dann eben auch nichts zu verstehen).
Gleichwohl kann es sich bei den Intentionen der Künstler um Fälle des Meinens handeln – es wäre an anderer Stelle zu untersuchen, welcher Art diese Form des Meinens ist und wie sie sich vom Grice’schen Modell abgrenzt. Sie wird aber sicherlich, so viel kann gesagt werden, von Genre zu Genre (Theater vs. Malerei oder Musik), aber auch innerhalb eines Genres oder auch von Künstler zu Künstler (Literatur: Jandl vs. Brecht) unterschiedlich ausgeprägt sein (Hito Steyerl ist ein aktuelles Beispiel für eine Künstlerin, die sich explizit politischen Themen widmet. So in ihrer Videoinstallation ‚Factory of the Sun‘, die, so Florian Ebner, eine Reflexion über „eine Welt in Aufruhr und eine Bilderwelt im Aufbruch“ ist, bei der es um die „Übersetzung realer politischer Figuren in virtuelle Figuren“ (Ebner 2015: o.S.) geht). Teilweise gibt es auch innerhalb des Oeuvres eines Künstlers Werke, bei denen mit gewissem Recht ein Form des Meinens konstatiert werden kann. So hat Picassos ‚Guernica‘ eine klare Botschaft. Ebenso die siebte Sinfonie von Schostakowitsch, die, laut Aussage seines Sohnes, eine Prophetie des Sieges der Roten Armee über die deutschen Invasoren sein soll.
h.4 Das Problem des Verstehens von Bedeutungen
künstlerischer Äußerungen berührt die Frage nach der Übereinstimmung von
Verständnishorizonten. Wird in einem Prozess sozialer Kristallisation im Rahmen
einer gesellschaftlichen Gruppe (wie umfangreich diese auch immer sein mag) ein
gemeinsames Wissen etabliert, so besteht die Hoffnung, dass die an dem Prozess
Beteiligten über eine gewisse verständnissichernde Schnittmenge der Bedeutungen
verfügen. Dies war bis weit in die Moderne der Fall. Für alle nicht an diesem
Prozess Beteiligten (auf der synchronen Zeitachse), aber auch für uns
Nachgeborenen (auf der diachronen Zeitachse) wird das Verständnis schon
deutlicher schwerer. Wer nicht daran Teil hat, ist nicht Teil dessen. Und
verfügt auch nicht über die entsprechenden Vorbedingungen, die ein intuitives,
problemloses Verständnis ermöglichen würde. Ein halbwegs angemessenes
Verständnis der künstlerischen Werke ist so erst durch einen nachträglichen
hermeneutischen Prozess möglich. Der allerdings nie mehr als eine Interpolation
darstellen kann, eine fortwährende, niemals ihr Ziel erreichende Annäherung.
i.4 In der Moderne potenziert sich das Problem
des Verstehens, wird doch jetzt das singuläre Kunstschaffen mehr und mehr zu
einem Ausdruck gänzlich subjektiv definierter Entäußerung. Es kann also, auf
der Bedeutungsebene der Artefakte, zunehmend weniger auf ein kollektives
Ergebnis sozialer Kristallisation rekurriert werden. Es wird, heute mehr denn
je, zu einem auf den einzelnen Kunstschaffenden singulär ausgerichteten
Interpretationsvorhaben.
j.4 Verstanden zu werden ist
nicht zwingend Ziel der Kunstschaffenden. Zumindest nicht deren vorrangiges
Ziel. Es gibt, wie in der Sprachverwendung, ein übergeordnetes Ziel: den,
andere zu etwas zu bewegen (inwieweit in diesem Kontext Rücksicht auf einen
Minimalkonsens in puncto Verständlichkeit genommen werden muss, um nicht den
Erfolg der Vorsatzabsicht, eine Wirkung zu gefährden, bleibt dahin gestellt –
zumindest kann eine künstlerische Arbeit, wenn sie zu innovativ gerät, durchaus
ihre Akzeptanz gefährden).
4.3 Prozess der
Zuschreibung
Logisch zu
unterscheiden von den genannten Gebrauchsweisen32 des Begriffs ‚Kunst‘
ist der Prozess der Zuschreibung, der
aktuale Akt der Attribution von etwas als etwas (zum
Beispiel die Attribution eines Artefaktes als Kunst) – in der Synchronie wie
auch der rückblickenden Diachronie (dieser Prozess ist, wie nicht anders zu
erwarten, a.) ein Prozess der unsichtbaren Hand und b.) nominalistisch zu
erklären). Diese aktualen Akte sind, da sie stets in den Kontext einer
spezifischen Epoche, Kultur und Gesellschaft eingebettet sind und nie von
diesem losgelöst stattfinden können, grundsätzlich perspektivisch. Gleiches
gilt auch für die Zuschreibung eines Werkes einer anderen Epoche oder Kultur
als ‚Kunst‘ – sie erfolgt notwendigerweise aus einer solch kontextuell
gebundenen Warte. Diese Aussagen sind somit immer relativ, nie absolut. Und da
sie zu einem aktualen Zeitpunkt A überall auf der Welt in anderen Kulturen,
Gesellschaften und partikularen Gruppierungen in gleicher Weise erfolgen, liegen
An Zuschreibungen vor. Die sich ins Unendliche potenzieren, da ein
aktualer Zeitpunkt ja nur eine Episode im historischen Kontinuum darstellt: Wissend
um das Hume’sche Induktionsproblem lässt sich dennoch mit einiger Berechtigung
sagen, dass eine recht hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass zukünftig eine
Zuschreibung so erfolgen wird wie
sie heute erfolgt und in der Vergangenheit erfolgt ist.
Strukturell müssen Zuschreibungen wie gesagt so erklärt werden, wie die
Etablierung der Gebrauchsweise eines Begriffs erklärt werden muss: ausgehend
vom singulären Gebrauch handelnder Individuen. Bei konstanter Zuschreibung von
etwas als Kunst durch das handelnde Individuum ergibt sich eine gewisse
Regelhaftigkeit, der sich unter Umständen nach und nach eine Reihe anderer
Personen zustimmend anschließen. Das kollektive, nicht intendierte und nicht
geplante Resultat dieser individuellen Zuschreibungen und Zustimmungen ist,
dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Gruppe ein bestimmtes Werk (oder
auch: ein Oeuvre; ein Genre; eine soziale Institution) in gleicher Weise als
Kunst bezeichnet. Diese Gruppe kann sich stetig erweitern, so dass zu einem
bestimmten Zeitpunkt eine ganze Gesellschaft (Kultur; Epoche) ein bestimmtes
Werk (oder eben auch: ein Oeuvre; ein Genre; eine soziale Institution) übereinstimmend
als Kunst bezeichnet. Was aber noch lange nicht bedeutet, dass die Individuen
dieser Gesellschaft auch hinsichtlich ihrer Gebrauchsweise
des Begriffs ‚Kunst‘ übereinstimmen (wer weiß, welchen bedeutungsdifferenzierenden
Beitrag Konnotationen, konversationelle und konventionelle Implikaturen, individuelle
Assoziationen oder die jeweilige Lebenswelt mitsamt des nicht zu explizierenden
Erfahrungswissen leisten?).
Dieser Prozess
der Zuschreibung erfolgt nicht nur bei singulären Ergebnissen individuellen
Kunstschaffens innerhalb der gleichen Gesellschaft oder Kultur, also bei
konkreten Artefakten wie ein klassisches Musikstück, eine Videoinstallation,
ein Gemälde oder ein Roman, er erfolgt in gleicher Weise auch hinsichtlich
analoger Ergebnisse anderer Gesellschaften und Kulturen. Gleiches geschieht aus
unserer Perspektive bei vergangenen singulären Ergebnissen individuellen
Kunstschaffens innerhalb der gleichen wie auch der anderer Gesellschaften oder
Kulturen. Ebenso bei Genres, also episodalen Ereignissen (deren Dauer durchaus
unbestimmt sein kann – von wenigen Jahren bis zu Jahrhunderten) spezifischer
überindividueller sozialer Institutionen sei es eigener, anderer oder
vergangener Kulturen – so wird von uns in der Musik Jazz, Rock, Klassik, der
gregorianische Choral oder auch Khöömej, der tuwinische und mongolische
Kehlgesang, als ‚Kunst‘ attribuiert. Wie auch das klassische japanische Theater
(deren episodale Formen das buddhistisch geprägte No oder das aus Gesang,
Pantomime und Tanz bestehende Kabuki darstellen) auf der Ebene der spezifischen überindividuellen sozialen
Institutionen. Oder unsere Attribution sozialer Institutionen als Kunst, deren
Zweck wir nur noch mit Hilfe anthropologischer Spekulation erahnen können wie zum
Beispiel die Höhlenmalerei aus Altamira oder die unvergleichliche Venus von
Willendorf.
Versucht sich nun ein
Einzelner intentional, geplant und bewusst, und sei es im Rahmen eines
ausgefeilten und wohl formulierten ästhetischen Konzepts, an einer
autoritativen Zuschreibung eines Werks (Oeuvre; Genres; sozialen Institution)
als Kunst (oder auch als Nicht-Kunst), so wird er vielleicht temporär damit
Erfolg haben. Aber diese Zuschreibung wird zur Gänze und unwidersprochen als
etablierte, verbindliche Zuschreibung bestenfalls in Kreisen überwintern, die
bereit sind, sich einem solch autoritativen Akt, aus welchen Beweggründen auch
immer, zu unterwerfen. So dürfte das Bemühen Adornos, den Jazz als
charakteristisches Medium der Kulturindustrie liberaler Industrieländer zu
diffamieren (Horkheimer/Adorno 1980: 118), selbst bei seinen treuesten
Apologeten nur in bescheidenem Maße verfangen haben. Und der in seinem
autoritativem Bemühen strukturell gleich gelagerte, jedoch institutionell
angelegte und weit gewaltsamer und plumper vorgetragene Versuch in finstersten
Zeiten deutscher Geschichte, die gesamte moderne Kunst als entartet zu
verfemen, führte letztlich nicht zu einer über das Ende der Herrschaft des
Nationalsozialismus hinausgehenden Etablierung der Zuschreibung moderner Kunst
als ‚entartet‘. Kunst33 ist eben nicht das, was manche, seien es nun
Banausen oder Agitatoren, Kunsthistoriker oder Philosophen, Feuilletonisten,
Kuratoren, Künstler oder kunstinteressierte Bürger, für Kunst halten. Kunst ist das, was, als Resultat eines kollektiven Prozesses
individueller Zuschreibungen, als Kunst gesehen wird.
31In einem Vortrag an der Akademie der
Bildenden Künste München im Frühjahr 1983 benannte der Kunsttheoretiker Michael
Lingner als „eine wesentliche Ursache für
die Auflösung des klassischen Werkeinheit“ in der bildenden Kunst nach 1945
die „Nicht-Identität zwischen dem
produzierten und dem rezipierten Werk“. Das sich im Artefakt Darstellende und „das durch subjektive Projektionen
konstituierte Bild des Rezipienten (sind) nicht mehr identisch – das Werk des
Künstlers entspricht nicht länger dem ‚Werk‘ des Rezipienten“. Diese
Diagnose klingt natürlich so lange plausibel, wie man prinzipiell von einer klassisch-starren
dichotomen Struktur (Künstler vs. Rezipient) ausgeht statt von einer prozessualen,
in der ein Werk nicht schon dadurch seine Einheit findet, indem es ein Künstler
erst erschafft und der Rezipient in einem nächsten Schritt dann exakt das erfasst,
was jener erschaffen hat, sondern dass das, was der Künstler erschafft, so
lange nichts ist, wie es nicht rezipiert wird (und sei es durch ihn selbst) –
also eine ‚Werkeinheit‘ erst in dem Moment konstituiert wird, in dem das
Erschaffene rezipiert wird. Und diese Werkeinheit wird in jeder Rezeption demnach
mitnichten aufgelöst, sie wird immer je neu konstituiert (Lingner 1983: o.S.)
32 Zusammenfassend sind
dies:
1. Gebrauchsweise
des Begriffs ‚Kunst‘ (sprachliche Mikroebene)
2. Mikroebene:
individuelles Kunstschaffen (hier könnte ggf. noch eine weitere Differenzierung
etabliert werden: zwischen dem eigentlichen Prozess des Kunstschaffens (‚Malen
ist Kunst.‘), dem einzelnen Werk und dem gesamten Oeuvre; ‚Seine Kunst ist in
vielen Genres zu Hause‘ so schrieb die Rheinische Post am 09.02.2018 über den
belgischen Künstler Jan Fabre)
3. Makroebene:
Genre als episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen
Institution (z.B. Musik: Jazz, Rock, Klassik etc.)
4. Makroebene:
spezifische überindividuelle soziale
Institutionen (Musik, bildende Kunst, Theater etc.)
5.
Makroebene: allgemeine überindividuelle soziale Institution (‚die Kunst‘)
33 Es
gibt Variationen etablierter Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘, die uns hier
nicht interessieren. Zumeist handelt es sich um heute noch gebräuchliche
Reflexe alter Gebrauchsweisen (cf. Kap. 3.1 ff.), die sprachlich zumeist als
Präfix ‚Kunst-‘ oder Suffix ‚-kunst‘ auftreten:
1. Kunst
im Sinne einer Fertigkeit: Kochkunst, Schwarze Kunst, Lebenskunst
2. Kunst
im Sinne eines Handwerks: Kunsthandwerk, Kunstgewerbe
3. Kunst
im Sinne einer Wissenschaft (die Sieben Freien Künste): Redekunst, Sprachkunst,
Beweiskunst
4. Kunst
als dichotomer Gegenbegriff zur Natur: Kunststoff, Kunstfaser
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im Gespräch mit Stephan Karkowsky
http://www.deutschlandfunkkultur.de/geistesgeschichte-wie-kunst-als-kunst-definiert-wird.954.de.html?dram:article_id=269579
http://www.deutschlandfunkkultur.de/geistesgeschichte-wie-kunst-als-kunst-definiert-wird.954.de.html?dram:article_id=269579