Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? (Teil 1)
Vom Wirken der
unsichtbaren Hand
– Ein heuristisches Experiment
„Ein tausendmal gelesenes Buch – das sind tausend verschiedene Bücher.“
Andrej Tarkowskij: Von der Verantwortung des
Künstlers, 1967
„Erst
durch die Handlung des Betrachters entsteht ein Werk.“
Franz Erhard Walther
Franz Erhard Walther
1. Einleitung
Auch wenn viel darüber gestritten wird, ob nun das eine oder andere Werk
aus welchem künstlerischen Bereich auch immer nun wahre Kunst ist oder doch
eher ziemlicher Kappes – man bekommt trotz aller unterschiedlicher Meinungen
erstens den Eindruck vermittelt, dass alle Teilnehmer des Diskurses, vom
Stammtisch bis zur Alma Mater, wissen, worüber sie reden, wenn sie über Kunst
reden. Und zweitens, dass alle, wenn sie über Kunst reden, über das gleiche reden.
Mich beschleicht allerdings in beiden Fällen das ungute Gefühl, dass dem nicht
so ist und auch noch nie so war. Ziel dieses Essays ist der Versuch, eben diesem
Eindruck Ausdruck zu verleihen. Ein Versuch, der auf folgende These
hinausläuft:
(1) Sowohl die Etablierung der Gebrauchsweise des sprachlichen Ausdrucks ‚Kunst’
(2) und die Zuschreibung innerhalb einer Gemeinschaft, welches Werk als Kunst-Werk gilt,
(3) als auch die Etablierung des Verständnisses von Kunst in einer Epoche und einer Kultur
sind Resultate des Prozesses der unsichtbaren Hand, Phänomene der dritten Art, weder natürlich gegeben noch künstlich erschaffen. Alles ist, wie alle soziokulturellen Phänomene, eine stets fluide kollektive, weder intendierte noch geplante „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 2014: 93)1.
(1) Sowohl die Etablierung der Gebrauchsweise des sprachlichen Ausdrucks ‚Kunst’
(2) und die Zuschreibung innerhalb einer Gemeinschaft, welches Werk als Kunst-Werk gilt,
(3) als auch die Etablierung des Verständnisses von Kunst in einer Epoche und einer Kultur
sind Resultate des Prozesses der unsichtbaren Hand, Phänomene der dritten Art, weder natürlich gegeben noch künstlich erschaffen. Alles ist, wie alle soziokulturellen Phänomene, eine stets fluide kollektive, weder intendierte noch geplante „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 2014: 93)1.
Dieses Modell ist
kein sonderlich neues. Bernard de Mandeville hatte es bereits vor über 300
Jahren in seiner bitterbösen Schrift ‚Die Bienenfabel’, sie erschien erstmals
1705 als Sixpenny-Broschüre in London, in seinen Grundzügen formuliert. Die schottische
Schule der Moralphilosophie, allen voran der Begründer der klassischen
Nationalökonomie, Adam Smith, sowie Adam Ferguson und Dugald Stewart, hat es im
Laufe des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und zu einer zentralen Säule ihres
Konzeptes gemacht. Bei dem Ökonomen Carl Menger ist es ebenso zu finden wie bei Friedrich
August von Hayek und Robert Nozick. Und auch Rainer Hank bemühte es zuletzt in
der F.A.S., ohne das Kind beim Namen zu nennen, als er über ‚Moral Hazard’ schrieb,
das unmoralische Verhalten der Banken, die Verantwortung für ihr riskantes
Verhalten an andere zu delegieren: „Allemal
klaffen individuelle und kollektive Rationalität auseinander: Die
individuelle Logik des Handelns bewirkt negative externe Effekte für andere, verletzt
somit die kollektive Vernunft und
schadet dem Gemeinwohl“ (Hank 2017: 51).
Die unser
abendländisches Denken prägende Dichotomie von ‚physei’ und ‚thesei’, von natürlich
und künstlich, wurde uns, so von Hayek, „zu
einer so festen Tradition (…),
dass sie sich wie ein Gefängnis auswirkte, aus dem heraus erst Mandeville einen
Ausweg zeigte“ (von Hayek 1969: 131). Ein Gefängnis, aus dem wir ausbrechen
müssen, wenn wir die Prozesse „der
kulturellen Evolution, der die moralischen Traditionen hervorbringt“ (von
Hayek 1983: 170), angemessen verstehen wollen.
Der Sprachwissenschaftler Rudi Keller, der sich von Hayeks Diktum zu Herzen
nahm und seine Theorie des Sprachwandels ausgehend von Mandevilles Paradoxon sowie
der sich daran anschließenden Tradition konzipierte, verweist auf die generelle
Gültigkeit der Grundstruktur dieses Modells für soziokulturelle Phänomene: „Man kann, was Kultur ist, was
soziokulturelle Phänomene sind, in entscheidenden Aspekten nicht begreifen,
wenn man sie nicht als Phänomene der dritten Art sieht. (…) Sprachwandel ist
ein Spezialfall soziokulturellen Wandels“ (Keller 2014: 208).
Warum nun aber dieses Modell nach wie vor nicht konsequent und durchgängig über alle Fakultätsgrenzen hinweg zur sachgerechten Erklärung soziokultureller Phänomene herangezogen wird, ist angesichts seiner offensichtlichen Plausibilität nicht recht erklärlich.
2.
Einige grundsätzliche Überlegungen
2.1
Sprachwandel: Schöpfung oder Genese, Artefakt oder Naturphänomen?
Natürliche
Sprachen wandeln sich. Permanent. Obgleich nicht ersichtlich ist, warum sie das
eigentlich tun. Aber sie tun es. Alle. Und sie tun es zumeist von den Sprechern
der Sprachen unbemerkt. Genauer gesagt: Wenn die Sprecher einmal Veränderungen
wahrnehmen, nehmen sie sie „nicht als
permanente Wandlungsprozesse wahr“ (Keller 2014: 22). Prozesse angemessen
wahrzunehmen und sie ebenso angemessen zu beschreiben, bereitet uns
offensichtlich gewisse Schwierigkeiten. Wie habe ich mir diese Prozesse vorzustellen?
Wie wandelt sich eine Sprache? Ist es überhaupt die Sprache, die sich wandelt? Oder
wer oder was wandelt sie? Und warum?
Wir greifen bei
dem Versuch, diese und ähnliche Fragen zu beantworten, schnell zu altbekannten
Mustern. Zu Denkmodellen, die sowohl unsere Alltagssprache, aber durchaus auch die
Wissenschaftssprache prägen: Termini technici, höchst sinnvolle „Abkürzungen komplexer Sachverhalte“,
werden in ihrem Gebrauch nur selten und noch seltener grundsätzlich in Frage
gestellt: Der unreflektierte Gebrauch der Worte wird schlicht perpetuiert,
seine Verwender werden weiter „in ihrem
‚Sprachpanzer’ hausen und durch Wortdunst ihre handwerklichen Fehler
verschleiern“, so der Germanist Steffen Martus in einem Beitrag in der FAZ.
Ein Phänomen, das, wie Martus betont, vor keiner Branche haltmacht: „Das ist bei Ärzten, Heizungsbauern oder
Juristen nicht anders.“ Und auch bei Kunst- und Kulturwissenschaftlern
nicht, möchte man hinzufügen2.
„Wir haben einen Wortschatz der Schöpfung und
einen des Wachstums“ zur Verfügung, so Keller (Keller 2014: 22), wenn wir das
Werden, also prozessuale Ereignisse, beschreiben wollen. Beim ersten Modell
handelt es sich um ein mechanistisches Konzept, bei
dem der schöpfende Gott und, etwas profaner, der erschaffende
Handwerker Pate stand, wobei Letzterer uns damit auch gleichzeitig ein
alltagstaugliches Muster der Entstehung nicht natürlicher, mithin also
kultureller Artefakte liefert. Beim zweiten Modell stand der Organismus Pate:
Es ist dies das ontogenetische Konzept des individuellen Werdens. In beiden
Fällen, sowohl im mechanistischen als auch im ontogenetischen Konzept, denken
wir jeweils in den Kategorien zielgerichteter Prozesse des Werdens und
Entstehens, bei dem „die Idee des
Produkts vor seiner Vollendung existiert“ (Keller 2014: 22). Auch wenn
diese teleologische Dimension, gerade in der modernen Naturwissenschaft,
natürlich vehement bestritten wird – wir kommen aus der Haut der Sprache nicht raus:
Der Begriff ‚Evolution’ geht auf das lateinische ‚evolvere’ zurück, das
‚herausrollen’, ‚auswickeln’, ‚entwickeln’ bedeutet. Und etwas kann nun mal nur
dann herausgerollt, aus- oder entwickelt werden, wenn es zuvor bereits im Keim
enthalten ist: Hier lauert in der Sprache ein zielgerichtetes Denkmodell, dem
zudem ein Moment absichtsvollen Handelns inhärent ist.
Wir verfallen,
wenn wir nicht beständig unseren eigenen Sprachgebrauch kritisch hinterfragen,
immer wieder in klassische Muster. Ganz besonders deutlich wird dies bei
unserem Hang zu Hypostasierungen und Anthropomorphisierungen. Unsere Sprache
wimmelt geradezu davon (Keller 2014: 24). Da klettert der Dax schon mal und Hochs und
Tiefs wandern fröhlich übers Land, als wären sie allesamt Mitglieder im
Alpenverein. Die Elektrizität fließt. Der Staat greift ein. Der Markt reguliert
sich selbst. Das Geld muss arbeiten und regiert ganz nebenbei noch die Welt. Da
wird von der Kunst erwartet, dass sie Brücken in die Gesellschaft baut, unsere
Wahrnehmung schärft und Veränderungen aufzeigt. Und die Sprache? Sie wandelt sich. Das alles
klingt ganz so, als gäbe es belebte Dinge namens Dax, Hoch, Tief, Elektrizität,
Staat, Markt, Geld, Kunst oder Sprache.
Diese
Vitalisierung und Anthropomorphisierung, die der Verdinglichung auf dem Fuß
folgt, ist, so Keller, gerade bei der Sprache evident. Sie wird zum Subjekt des
Handelns: „Die Sprache lebt. In ihr
‚wirken’ Kräfte, sie ‚wächst’, ‚altert’ und ‚stirbt’.“ (Keller 2014: 24) Und
verführt – und in dieser verführerischen Sprache waltet dann und wann auch
schon mal ein ewiger Geist. Kein Wunder, dass wir dann ganz selbstverständlich
davon sprechen, dass sich die Sprache wandelt. So als sei sie ein „animal
rationale mit allerhand wundersamen Fähigkeiten“ (Keller 2014:
24). Insbesondere, das möchte man hinzufügen, mit der Fähigkeit zu
absichtsvollem Handeln, das im Rahmen des Konzepts der Zielgerichtetheit, ihrer
teleologischen Dimension, im positiven Sinne der Vollendung entgegenstrebt, im
negativen Sinne dem Verfall.
2.2 Objektivierung
und Hypostasierung
Unser Drang zur Hypostasierung, Vitalisierung und
Anthropomorphisierung ist beinahe so alt wie die Menschheit
selber. Er wurde in Zeiten der Mythologie virulent, die „den endlosen Prozess der Aufklärung ins Spiel gesetzt“ hat
(Horkheimer/Adorno 1980: 14). Ein Prozess der Welterkenntnis, die in der ursprünglichen
Trennung von Subjekt und Objekt, von Betrachter und Betrachtetem ihre conditio
sine qua non fand. Diese „Distanz des
Subjekts zum Objekt“ ist die „Voraussetzung
der Abstraktion“, die „in der Distanz
zur Sache“ gründet, „die der Herr
durch den Beherrschten gewinnt“ (Horkheimer/Adorno 1980: 16). Mit dieser
Abstraktion war nicht allein die unaussprechliche, präanimistische Macht des
alles in Eins setzenden Naturzustands gebrochen: Sie schuf mit der Dichotomie die
denkstrukturelle Voraussetzung für die Initiation des menschlichen Prozesses
der Kultivierung – der Bearbeitung, Pflege, Bebauung und des Anbaus, der
Ausbildung und Veredelung, lat. cultura,
der Kultivierung der Böden, der Pflanzen und der Tiere (Domestizierung) wie
auch der Sitten, Gebräuche, Traditionen.
In der vormythischen paradiesischen Zeit erging an den Menschen, noch bevor
er zur Erkenntnis von Gut und Böse befähigt war, Gottes Auftrag, sich die Welt
untertan zu machen. Der Mensch tat es, indem er die Dinge benannte, in Namen
bannte. Mit dem adamitischen Sündenfall brach dann das Zeitalter der Aufklärung
an: Es konstituierte sich die Trennung von Subjekt und Objekt, vom Ich und dem
Anderen, von Betrachter und Gegenstand der Betrachtung und entwickelte sich die
Dichotomie von Natur und Kultur, von physei und thesei. Und die paradiesische Namensgebung
der Welt, ihre sprachliche und damit rationale Aneignung, übersetzte der hinausgeworfene
Mensch3, nunmehr zum erkennenden, erklärenden, aufklärenden Subjekt geworden, so konsequent wie undifferenziert in Kategorien, die
ihm am nächsten lagen, ihm so die Aneignung der Welt erleichterten: Egal, ob es sich
um physische Entitäten, Universalien oder Sachverhalte handelte – die ganze
Welt, sinnlich erfahrbare wie gedanklich abstrahierte, hat der Mensch
sprachlich hypostasiert, vitalisiert und anthropomorphisiert, in eine visuell,
insbesondere aber taktil geprägte Metaphorik4,
in Metaphern der für den gegenständlich orientierten, ackerbauenden Menschen
wesentlichen Sinne getaucht.
Diese Metaphorik
beherrscht seitdem unsere Sprache der Weltaneignung. Die Dinge wurden für uns
mit einem Mal ‚fass-bar’, ‚greif-bar’, ‚erkenn-bar’, wurden zum ‚Gegenstand’
der ‚Betrachtung’, den ich ‚wahr-nehme’, ‚be-greife’, ‚ver-stehe’ oder
‚ein-sehe’, von dem ich mir eine ‚Vor-stellung’ ‚bilde’ (dazu auch: Riedel
1990: 7) – selbst so etwas ‚unbe-greifliches’, ätherisches wie Seele und Geist,
aber auch Tugenden,
Transzendentalien, Kategorien oder Werte wurden so zum
‚Gegenstand’ (der ‚Betrachtung’) verdinglicht. Was bei den Vertretern des Realismus im Universalienstreit, ausgehend von Platons
Ideenlehre, dazu führte, dass sie eine durchgängig hypostasierte Vorstellung
vom Sein und den Entitäten entwickelten: Die ontologische Existenz,
die sie selbst den Universalien5 zugestanden,
ist eine sprachlich gegenständlich formulierte. Und da Sprache unsere
Denkstruktur nun einmal ganz wesentlich bestimmt, nehmen wir sprachliche Bezeichnungen
gerne für bare Münze. Bis heute.
2.3 Vom
Relativismus zu Absolutismus
Mit der Abstraktion,
Voraussetzung jeder Erkenntnismöglichkeit, und zunehmenden Rationalisierung
ging eine Objektivierung, Versachlichung einher, die im abendländischen Denken
seit Descartes an Fahrt gewonnen hat. Die bis dahin beschränkt
menschlich-relative Weltsicht weicht seitdem mehr und mehr dem Anspruch auf Absolutheit.
War der Logos bis dato fest in Gottes Hand, wähnen wir uns heute
positivistisch erhaben: Gott ist tot6. Und wir als seine legitimen
Nachfolger treten seine
Herrschaft an, ausgestattet mit den Insignien seiner Macht. Wir maßen uns die Fähigkeit
zur Erkenntnis des Seins an sich an, der nicht menschlich gebundenen,
grundlegenden, ewigen Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten, Strukturen und
Mechanismen, losgelöst vom zeitlichen Sein und unserem Dasein. Der Mensch meint
sich in einem Anflug maßloser Selbstüberschätzung seiner Perspektivität
entheben zu können und setzt sich, seine Erkenntnisse und Erkenntnisfähigkeit
absolut: „Nur wo man hoffen kann, dass
man nicht menschlich Gebundenes erfährt, dort ist Wahrheit gegeben und
gleichsam übermenschlich ist allein die ratio im Menschen“ (Mannheim 1980:
169).
Diese übermenschliche,
mithin un-menschliche, ent-anthropomorphisierende Tendenz der Ratio, dieser mathematisch-funktionale,
berechnende, kalkulierende Modus der Weltaneignung, strebt „nach einer Vergesellschaftung der Erkenntnis“ (Mannheim 1980: 169).
Diese Entpersönlichung der Erkenntnis zielt auf die „eigentümliche Verkopplung zwischen Allgemeingültigkeit und Wahrheit“
(Mannheim 1980: 170). Objektiv gültig ist allein, was für alle gilt: „Es vollzieht sich hier vorbildlich in der
Mathematisierung der Prozess, das gruppengebundene Subjekt, das
konkret-geschichtliche Subjekt zu überwinden, um auf das abstrakt allgemein
Menschliche zu rekurrieren“ (Mannheim 1980: 170). Diese Denkstruktur
trachtet danach, „die Welt berechenbar zu
machen“ – und übersieht dabei ganz, dass sie „von vornherein von ihr nur soviel erkennen wollte, als von ihr
berechenbar zu machen ist“ (Mannheim 1980: 170). Davon abgesehen, dass
diese Welt, die Husserl die „mathematisch substruierte Welt der Idealitäten“ nannte, die eben nicht „die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je
erfahrene und erfahrbare Welt“ darstellt
(Husserl 2012: 52). Die ihr innewohnende Denkstruktur übersieht dabei
völlig, „dass es auch andere Wege des
Erfahrens und Erkennens gibt“ (Mannheim 1980: 170), „jene durch die naturwissenschaftliche Denkweise zurückgedrängte
Denkmethode“ (Mannheim 1980: 170):
Auch die nunmehr
mathematisch grundierte, vom menschlichen Dasein durch den Menschen selbst vermeintlich
abstrahierte Welt, in der alles in Zahlen gegossen, mithin berechnet werden
kann, wird weiterhin in unserer tradierten vitalisierenden und anthropomorphisierenden
Sprachweise formuliert, die sich an unserer real vorfindlichen Welt orientiert.
Wir versuchen also diese „mathematisch
substruierte Welt der Idealitäten“ und die
vermeintlich ent-anthropomorphisierten, nicht menschlich gebundenen und mit dem
Anspruch auf Allgemeingültigkeit versehenen, zeitlos gültigen und so als wahr
behaupteten Erkenntnisse der Naturwissenschaft mit untauglichen, weil
anthropomorphisierenden und vitalisierenden Begrifflichkeiten zu beschreiben.
Jedwede Form der
Hermeneutik, von der alltäglichen, profanen Welterklärung bis hin zur
philosophischen Exegese, bedient sich eines metaphorischen
Sprachgebrauchs, gießt ihre Erkenntnisse in eine gegenständliche, räumliche, taktile
und visuelle Begrifflichkeit. Darin, und in der damit untrennbar verbundenen
Denkstruktur, zeigt sich unser bis heute andauerndes Erbe, unsere Gefangenheit
und Begrenztheit. So spricht Aristoteles im ersten Buch der Schriftensammlung ‚Organon’, Peri hermeneias (‚Lehre vom Satz’) von
den ‚Vorstellungen’, „deren unmittelbare Zeichen die Worte sind“ und diese
‚Vorstellungen’ „sind bei allen Menschen
dieselben und ebenso sind die Gegenstände überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen
die Abbilder sind“ (Für welche Vorstellung steht das Zeichen ‚Vorstellung‘
stellvertretend? Von welchem Gegenstand ist die Vorstellung Abbild, dessen
unmittelbares Zeichen das Wort ‚Vorstellung‘ ist? (zur Stellvertretertheorie
der Zeichen cf. Keller 2018: 79; nach Tugendhat 1979: 476 ff.)). Nach seiner
semiotischen Trias gibt erstens Gegenstände (was auch mit unserer sprachlichen Allzweckwaffe ‚Dinge’7 übersetzt wird). Von diesen gibt es nun zweitens ‚Abbilder’
in unseren Seelen, eben jene ‚Vorstellungen’.
Und, drittens, ist das gesprochene Wort ein Laut und damit Zeichen eben dieser
Vorstellungen. Nachrangig sind demgegenüber die geschriebenen Worte, da diese
nur Zeichen der Zeichen, der Laute, sind.
2.4 Sprachwandel
als kollektiver Prozess
Steckt hinter
dieser Redeweise ein Denkmodell von der Sprache als eines selbsttätig
agierenden
Handlungssubjekt, so steckt hinter jenem Denkmodell vom Sprecher, der eigeninitiativ
Bedeutungen setzt und Sprache verändert, ein mechanistisches. Hier wird
unterstellt, der Sprecher würde absichtsvoll, geplant und willentlich die
Sprache, die er spricht, wandeln. Ganz so, „als
sei die Sprache ein von Menschen gemachtes Artefakt.“ (Keller 2014: 25) Und
ganz so, als wäre es ihm jederzeit möglich, nach eigenem Gutdünken ändernd
einzugreifen.
Beiden
sprachtheoretischen Modellen des Werdens sind nach Keller drei Wesenszüge
gemeinsam:
1. Sie sind zielgerichtet.
1. Sie sind zielgerichtet.
2. Sie haben ein Ende.
3. Sie sind individuelle Prozesse.
Die natürlichen
Sprachen unterliegen einem permanenten Wandel. Von diesem anzunehmen, er sei
zielgerichtet, ist eine These, die aus heutiger Sicht recht befremdlich
anmutet. Was sollte Ziel der Sprache sein? Wer sollte es als Keim angelegt, wer
es formuliert haben? Und warum sollte es ein Ziel geben? Ein Ende des Wandels
kann es, solange es Sprecher gibt, die die Sprache aktiv sprechen, nicht geben:
Ihr Werden und Wandel ist „eine
potentiell unendliche Geschichte“ (Keller 2014: 25). Und da Sprache der
kommunikative, interaktive und interdependente
Prozess eines Kollektivs ist, lässt sich auch Punkt 3. negieren.
Wenn Sprach- und
mit ihm Bedeutungswandel (und auch die Etablierung von Bedeutung als logische
Voraussetzung dafür, dass sich Bedeutung wandeln kann) nun aber weder durch ein
ontogenetisches noch durch ein mechanistisches Modell erklärt werden
kann – wie dann? Sprachentwicklung ist nicht zielgerichtet, sie ist potentiell
unendlich und ein kollektives Phänomen. Sie ist ein permanenter Prozess, an dem
täglich Millionen Menschen teilhaben (in der synchronen Zeitachse). Und das über
Generationen hinweg (in der diachronen Zeitachse). Die Sprache, so formulierte
es Humboldt prägnant, „in ihrem Wesen
aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes (…) Sie
selbst ist kein Werk (Ergon), sondern
eine Tätigkeit (Energeia)“ (Humboldt 2008:
324). Darum liegt auch „die eigentliche Sprache
in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens “ (Humboldt 2008: 325). Sprache
ist Sprache im Moment des Gebrauchs8. Der Verwendung. Sie existiert
nicht an einem geheimen Ort außerhalb der Menschheit, sondern nur in und durch
uns: den Sprechern der natürlichen Sprachen.
2.5 Nicht vorsätzlich, nicht bewusst, nicht
geplant
Dass Sprache der
Verständigung dient, sagt uns unser gesunder Menschenverstand. Und schlägt uns
damit, wohl nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal, ein Schnippchen.
Denn um Verständigung geht es, betrachtet man den Sachverhalt etwas genauer,
nur recht selten. Da geht es eher um etwas Anderes: Ich lüge und betrüge.
Flirte. Führe hinters Licht. Halte Small-Talk, schwinge Reden, treibe Werbung, feuere
meine Mannschaft leidenschaftlich an oder frage als Standesbeamter, ob er oder
sie sie oder ihn zu Mann oder Frau nehmen will. In all diesen Fällen kann man
schwerlich davon sprechen, dass es bei ihnen vorrangig um Verständigung geht:
Stets will ich, in welcher Form auch immer, Einfluss auf andere nehmen. Diese
Beeinflussung scheint das durchgehende Merkmal der Sprachverwendung zu sein.
Vielleicht ist es sogar der eigentliche Zweck der Sprachhandlung respektive die Absicht des Sprechers:
X will Y dazu bringen, z zu tun.
Intention der
Handlung und des Handelnden ist es, den anderen zu etwas Bestimmten zu bewegen.
So kann ich, wenn ich große Reden schwinge, den Vorsatz haben, den anderen dazu
zu bringen zu glauben, ich sei mit Esprit und überbordender Intelligenz
gesegnet. Dieser Vorsatz ist ein Plan, eine „Absicht,
etwas zu tun“ (Keller 2014: 27). Die Schritte, die ich unternehme,
um diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, sind ebenfalls absichtsvoll bzw.
intentional. Aber in einer anderen Hinsicht: Wenn ich den Vorsatz habe, mit dem
Auto von A nach B zu fahren, so impliziert die Umsetzung meines Vorhabens
zahllose Handlungen, die allesamt zwar intentional, aber weder geplant noch bewusst
oder gar vorsätzlich sind: Kuppeln, Schalten, Gas geben, Lenken u.v.a.m. Diese
Handlungen verfolgen einen Zweck, sie entsprechen damit der „Absicht, in der etwas getan wird“
(Keller 2014: 27). Dies bedeutet: „Intentional
und planvoll sind keine Synonyme; intentional und unbewusst sind keine
Gegensätze“ (Keller 2014: 29).
Die natürliche Sprache
ist nur durch ihre Sprecher, eine andere Daseinsform als in dem Gebrauch durch
sie hat sie nicht. Da es also kein Subjekt des Handelns namens Sprache gibt, das
sich quasi selbsttätig ändert, müssen es demnach die Sprecher selbst sein, die
die Sprache ändern. Allerdings tun sie das, insbesondere in der
alltagssprachlichen Kommunikation, nur höchst selten – und noch höchst seltener
erfolgreich – mit Vorsatzabsicht9. Sie verfolgen beim Sprechen Zweckabsichten,
Intentionen ganz ähnlich denen, die sie auch beim Autofahren verfolgen – und
keine dieser Intentionen verfolgt das Ziel, die Sprache zu wandeln oder
Bedeutungen zu etablieren.
Sprecher wandeln
Sprache nicht nach Art der Handwerker, also nicht schöpferisch- mechanistisch,
und auch nicht in einem ontogenetischen Prozess: Sprachwandel (ebenso wie die
Etablierung von Bedeutung) ist ein wie auch immer gearteter kollektiver
Prozess, der individuelle Handlungen involviert, zudem nicht zielgerichtet und
potentiell endlos ist. Es stellt sich also die Frage: Wie verändern wir dann
die Sprache, wenn die gängigen Modelle nicht greifen? Wenn wir, bis auf einige
wenige Ausnahmefälle, nicht dazu imstande sind, vorsätzlich, bewusst und
planvoll den Sprachwandel und die Etablierung von Bedeutung voranzutreiben –
wie soll es dann geschehen? Nicht durch Setzung, nicht durch Ontogenese – wir
erzeugen durch das „tägliche
millionenfache Benutzen unserer Sprache (…) eine permanente Veränderung unserer
Sprache“ (Keller 2014: 29).
2.6 Ungeplante
Resultate
Sprache ist ein soziokulturelles Phänomen. Solchen Phänomenen ist zu eigen, dass sie „spontane Ordnungen“ (Keller 2014: 32) bilden. Also Ordnungen, in denen zwarbestimmte Zweckabsichten der Akteure walten, die aber im Kollektiv ohne Ziel, ohne Plan, ohne Vorsatzabsicht, ohne Verabredung und unbewusst entstehen. Und die bisweilen recht „paradoxe Züge“ (Keller 1990: 51) annehmen. So zum Beispiel bei den Gründen für den Wohlstand eines Landes, der zumeist leider „nicht Ergebnis der Tugenden seiner Bürger, sondern ihrer Untugenden und Laster“ (Keller 1990: 55) ist:
„Von Lastern frei zu sein, wird nie
Was andres sein als Utopie.
Stolz, Luxus und Betrügerei
Muß sein, damit ein Volk gedeih.
(…)
Genauso uns das Laster nutzt,
Wenn das Gesetz es kappt und nutzt.“
(Bernard de Mandeville,
Die Bienenfabel, 2012: 92)
Bernard de
Mandeville entwarf in seiner Bienenfabel ein wenig erfreuliches, dafür aber
umso realistischeres Bild der Realität: Moralisch verwerfliche Intentionen können
äußerst fruchtbare Auswirkungen haben. Bei ihnen werden wir wie „von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen
Zweck zu fördern, den (wir) in keiner Weise beabsichtigt“ haben (Smith 1978:
371) Hier ist das ominöse Mandeville‘sche Paradox am Werk: Wer „das eigene Interesse verfolgt, fördert (…)
häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es
zu tun“ (Smith 1978: 371). Und, so fügt Smith hinzu, ohne sich über die
Natur des Menschen irgendwelche Illusionen zu machen: „Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der
Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan“ (Smith 1978:
371).
Es waltet
mephistophelisch „ein Teil von jener
Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Goethe 1979: 43).
Gäbe es nur gute Menschen, die nie lügen, betrügen, nie hintergehen, nie
rauben, morden oder Steuern hinterziehen, dann bräuchten wir kein Rechtssystem.
Heerscharen von Juristen, Sozialarbeitern und Politikern wären arbeitslos. Das
Militär wäre obsolet, ja: Staaten wären Geschichte – und damit auch alle
Berufssoldaten und sämtliche Staatsbediensteten. Und eine Wirtschaft ausschließlich
altruistisch ausgerichteter Unternehmen, geführt von gänzlich uneitlen Managern,
die sich nur am Allgemeinwohl orientieren, nur solche Produkte herstellen, die
für alle erschwinglich und zudem ihren Preis wert sind, die ewig halten und
auch wirklich benötigt werden? Eine märchenhafte Vorstellung, die Welt wäre um
einiges besser. Nur: Wie viele Jobs würde ein Arbeitsmarkt in einer solchen
traumhaften Gesellschaft den Menschen bieten können? Wenige. Zu wenige. Jedoch:
Es gibt sie nun mal, diese höchst unangenehmen Untugenden Eitelkeit, Egoismus
und Prahlerei. Und ausgerechnet sie und ihre nicht weniger unangenehmen Vettern
sind es, die, so Mandeville, ganz unbeabsichtigt für Wohlstand sorgen.
Der
amerikanische Soziologe Robert K. Merton zeigte, ausgehend von Mandevilles
Paradoxon, wie nicht nur böse Handlungen gute Strukturen erzeugen können,
sondern auch, wie tugendhafte Intentionen Konsequenzen zeitigen können, die
bestehenden guten Absichten vollends zuwiderlaufen – er nannte dies das ‚Gesetz
der unbeabsichtigten Folgen’. Verallgemeinert man das Paradoxon für
soziokulturelle Phänomene, so bedeutet das in der Konsequenz, hier zitiert Rudi
Keller den deutschen Soziologen und Ökonomen Viktor Vanberg, „dass die Frage nach den Motiven
individuellen Handelns ausdrücklich getrennt (werden muss) von der Frage nach
den sozialen Auswirkungen dieses Handelns“ (Keller 2014: 57). Oder wie es
der schottische Moralphilosoph Adam Ferguson bereits im 18. Jahrhundert prägnant
formulierte: Soziokulturelle Phänomene sind „Einrichtungen,
die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung
eines menschlichen Plans“ (Keller 2014: 58) – sie sind von eben jener
unsichtbaren Hand geleitet, von der Adam Smith in Anlehnung an Mandevilles bitterböse
Fabel sprach.
2.7 Lebenswelt und konjunktives Denken
Dieses Phänomen waltet
auch bei der Etablierung von Bedeutung (cf. Kap. 2.11 und 2.12) sowie dem
Sprach- respektive Bedeutungswandel: Sie alle haben prozessualen Charakter, sind
emergent, also eine spontane Bildung auf Basis des Zusammenwirkens der
Teilnehmer am Prozess, und zudem stets fluid. Das heißt, Sprache und Bedeutung
wandeln sich fortlaufend jederzeit überall: Ein asynchroner Prozess in der
synchronen Zeitachse, an der Abermillionen in Millionen parallel stattfindenden
Sprachspielen teilnehmen, die sich in der diachronen Zeitachse über
Generationen fortsetzen.
Unser Gebrauch
der Sprache wird zudem ganz wesentlich durch unsere Eingebundenheit in die „bloß subjektiv-relative Lebenswelt“ (Husserl
2012: 141), also „der in unserem
konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt“ (Husserl 2012:
55) beeinflusst. Diese „alltägliche
Lebenswelt“ ist, so der Philosoph Edmund Husserl, im Gegensatz zu „der mathematisch substruierten Welt der
Idealitäten (…) die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene,
die je erfahrene und erfahrbare Welt“ (Husserl 2012: 52).
Erfahren und
Erkennen können wir diese Welt nur durch unsere immer gegebene Gerichtetheit auf
etwas in unseren Wissensvorgängen (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22; in
diesem Konzept scheint der von Franz Brentano eingeführte Begriff der
Intentionalität auf, der später zur zentralen Kategorie der Phänomenologie
Husserls werden sollte). „Das, was uns
begegnet, bietet sich uns in einer bestimmten Perspektive dar“ (Kettler,
Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22). Auf dieser Ebene der Erkenntnisentwicklung
findet eine noch nicht reflexive, sondern ursprüngliche, „konjunktive Begegnung mit einer Wirklichkeit“ statt, so „wie wir sie antreffen, wenn wir nach dem
mit einer Gemeinschaft geteilten Willen handeln“ (Kettler, Meja, Stehr in:
Mannheim 1980: 23). Diese ursprüngliche Erkenntnisfähigkeit, die der Wissens-
und Kultursoziologe Karl Mannheim „konjunktives
Denken“ (Mannheim 1980: 157 ff.) nannte,
bildet die Basis für unsere Orientierung in der Welt, die uns umgibt. Es ist
dies aber nicht als eine Erkenntnisfähigkeit zu denken, die ein universales
menschliches Vermögen oder einem einzelnen Individuum zukommende Eigenschaft darstellt
– „konjunktives Denken gehört zu
Gemeinschaften, bildet Gemeinschaften, wird erzeugt durch Gemeinschaften“
(Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22).
Durch diese
Eingebundenheit in die Welt, durch die perspektivisch grundierten,
intersubjektiv geteilten, ausgetauschten und letztlich so auch konstituierten
und etablierten Welterfahrungen, verfügen wir über ein implizites
Erfahrungswissen, das unsere täglichen Handlungen unbewusst und unbemerkt
anleitet. So meinen wir im alltäglichen Gebrauch der Sprache zwar zu wissen,
was wir meinen, wenn wir etwas sagen. Aber ohne dass wir um dieses
Erfahrungswissen wissen, bleibt es nur ein frommer Wunsch: Ein Großteil dieses
Wissens lässt sich von uns nicht oder nur höchst unzureichend explizieren. Es
ist reflexiv für uns praktisch nicht verfügbar, seine Relevanz für den
Gebrauch, den wir von Worten machen, kaum darstellbar.
Demgegenüber
gibt es, so Mannheim, ein „kommunikatives
Denken“, das zumindest theoretisch reflexiv verfügbar und explizierbar ist.
Von der Möglichkeit, es zu explizieren, machen wir jedoch nur selten Gebrauch –
wir machen es uns, schon aus Gründen der Sprachökonomie, nun mal gerne einfach.
Und setzen im Rahmen dieses Wissens den Bestand einer
Bedeutungsschnittmenge stillschweigend als gegeben voraus, die uns suggeriert,
dass wir, wenn wir über etwas reden, auch über das gleiche reden (weiterführend dazu
auch Wittgenstein 1977: 139 (PU 241): „In
der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der
Meinungen, sondern der Lebensform.“). Wobei es völlig
irrelevant ist, ob es diese Schnittmenge tatsächlich gibt. Hinreichend ist,
dass alle Beteiligten annehmen, dass dem so ist. Allein diese Annahme
vermittelt schon den Eindruck einer gelungenen Kommunikation, unabhängig davon,
ob der Eindruck auch nur ansatzweise der Realität entspricht: Gelungen ist, was
mir als gelungen erscheint.
Eine
lebenspraktisch durchaus sinnvolle Einstellung. Denn zwei Menschen können
niemals ein deckungsgleiches Verständnis von etwas besitzen: Spreche ich zum
Beispiel mit jemandem über Kunst, so muss ich nicht nur um das Sprachspiel
wissen, in dem der Begriff Kunst zu verstehen ist. Ich sollte auch,
damit wir nicht gleich von Beginn an völlig aneinander vorbeireden, wissen, ob
das Sprachspiel, in dem ich den Begriff verstehe, auch das Sprachspiel ist, in
dem ihn mein Gegenüber versteht. Und ob es nicht vielleicht verschiedene Sprachspiele
innerhalb einer Kultur geben kann, in der dieser Begriff zu verstehen ist. Ob
es nicht von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, von Lebenswelt zu
Lebenswelt ein anderes Verständnis gibt und wenn ja, welches. Ob mein
konjunktives Wissen dem meines Gegenübers entspricht (wie kann dies verifiziert
werden?). Ob ich und mein Gegenüber den Begriff immer gleich verwende und verstehe
oder nicht von Verwendung zu Verwendung, von Tag zu Tag, von Befindlichkeit zu
Befindlichkeit, von aktueller Stimmung zu aktueller Stimmung, zwischen
verschiedenen Sprachspielen changierend, immer wieder ein wenig anders verwende
und verstehe.
2.8 Subjekt: Der
Unterworfene, der unterwerfen will
Jeder Mensch ist
Kind seines Kontextes. Er ist in die Zeit und die Welt geworfen. In ein Da-Sein
genauso wie in ein So-Sein. In ein komplexes Geflecht aus kulturellen
Bedingungen, gesellschaftlichen, religiösen, ethischen Normen, in einen je
individuellen Möglichkeitsrahmen: in eine ihm zugehörige, spezifische Variante
der vorfindlichen Lebenswelt, die ihrerseits eingebunden ist in ein
weltumspannendes Geflecht unzähliger Lebenswelten.
Als sei das noch
nicht genug, sind all diese Lebenswelten und, in uns, alle lebensweltliche
Individuationen nie konstant, sondern im steten Fluss. Sie ändern sich
beständig, nie gleichzeitig in gleicher Weise, sondern immer und überall
asynchron und bei jedem Einzelnen anders. Und sei es auch nur zart nuanciert.
Zudem ändern sich die Ausprägungen der Lebenswelten laufend in jeder Zeitachse,
sowohl in der diachronen als auch der synchronen. Und auch hier wieder,
heruntergebrochen auf jeden Einzelnen, nie konstant, nie in gleicher Weise, ja:
gegebenenfalls sogar von Tag zu Tag anders, abhängig von jedem Ereignis oder
individueller physischer und psychischer Tagesverfassung, vom spezifischen
Kontext oder sozialen Umfeld.
So gesehen ist
der Einzelne dem Sein, der Zeit, der Welt, seinen intersubjektiven Verhältnissen,
Konstellationen und nicht zuletzt seinen sprachlichen Möglichkeiten
‚unterworfen’, lat. subicere. Er ist
damit ‚Subjekt’ – aber eben nicht das Subjekt10, das er seit
Descartes meint zu sein und das bereits in Gottes Auftrag an uns, uns die Welt in der
Benennung begreifbar und sie sich untertan zu machen, sie also mithin zu
unterwerfen, angelegt war. Das Subjekt, das sich einerseits die Welt
unterwirft, ist ihr immer schon selbst unterworfen. Es ist nie frei von Abhängigkeiten,
nie frei in seinen Handlungen, immer zur gleichen Zeit Herr und Beherrschter.
Als Herr fühlt sich das Subjekt, weil es meint, die Welt berechnen, sich von
der relativen Sicht des Menschen entbinden zu können und zur vom profanen menschlichen
Dasein losgelösten, lat. ‚ab-solvere’,
also ent-menschlichten, ent-anthropomorphisierten, ewigen und objektiven Erkenntnis
der absoluten Wahrheit emporzusteigen. Eine Erkenntnisfähigkeit, die ihn dazu verleitet
anzunehmen, als Subjekt sich selbst objektiv als Objekt sehen zu können. In
dieser vermeintlichen Fähigkeit zur Ent-Subjektivierung steckt die ganze Hybris
der Menschheit: Das Subjekt ist selbstvergessen – es vergisst, dass er, der Herr zu sein meint,
Beherrschter ist, dem Da-Sein im So-Sein unterworfen und stets relativ ist, nie
absolut.
Hier kollidieren
unvereinbare Denkstrukturen: Auf der einen Seite die unseres mythologischen,
naturphilosophischen Erbes, von dem wir uns nicht zu lösen vermögen – es zeigt
sich in unserer relativen, anthropomorphisierenden, vitalisierenden und
hypostasierenden Sprache mit der ihre innenwohnenden Denkstruktur.
Auf der anderen Seite steht der unbedingte Wille zur absoluten Herrschaft über
die Dinge, zur Entbindung vom Menschlichen, die sukzessive Entanthropomorphisierung,
Versachlichung, Objektivierung, Mathematisierung, Codierung und Algorithmisierung
der Welt11, die eine gänzlich andere, berechnende
Denkstruktur erfordert.
Was passiert,
wenn nun der unbeherrschte Herr begreift, dass er a priori unfähig zu der
ersehnten entmenschlichten Denkstruktur ist, er ein auf ewig beherrschter Herr
ist, der in die anthropomorphisierende Sprache und der ihre innenwohnenden Denkstruktur
eingewoben ist? Wird er sich beherrschen können, damit aus dem beherrschten
Herrn ein beherrschter Herr werden kann?
2.9 Verständnis als Unterstellung
Im Laufe der
individuellen Sozialisation, der Eingebundenheit in eine subjektiv-
relative
Lebenswelt, erwerbe ich ein spezifisches Kulturwissen, das, trotz der
intersubjektiv
geteilten, ausgetauschten und so etablierten Welterfahrungen, die eine
Gemeinschaft konstituieren, so einzigartig ist wie mein Fingerabdruck. All
meine Erlebnisse und Erfahrungen gehen als Teil in die Bedeutung mit ein, die,
zum Beispiel, Kunst für mich persönlich hat, ungeachtet des Sprachspiels, in dem
der Begriff zu verstehen ist. Es schwingen singuläre, manchmal täglich andere, emotional grundierte individuelle Konnotationen mit, aber auch solche,
die der Begriff in unserer Kultur als Resultat eines kollektiven Prozesses mit
sich bringt. Wie sollen angesichts dessen zwei Menschen dieser asynchronen
Kommunikation entkommen, sie auch nur ein ansatzweise gleiches Verständnis einer Sache haben? Oder je imstande sein
festzustellen, ob dies der Fall ist oder nicht? Dass ein solch intersubjektives
Verständnis, das eine flüssige Kommunikation sichert, tatsächlich gegeben ist,
kann, trotz aller konstituierenden kollektiven Prozesse, immer „nur wechselseitig unterstellt werden“ 12
(Liedtke 2016: 40).
Das gilt in erster Line für unseren alltäglichen Gebrauch
der Worte, auch für den geisteswissenschaftlichen
Kontext, weniger jedoch für den naturwissenschaftlich-mathematischen. Also
dort, wo die Bedeutung eines Wortes oftmals nicht sein Gebrauch in der Sprache,
sondern per definitionem gesetzt und von den anderen Teilnehmern des Sprachspiels
akzeptiert ist (wobei Husserl dem wohl entgegnen würde, dass dies nur Schein ist: „Gleich mit Galilei beginnt (…) die Unterschiebung der
idealisierten Natur für die vorwissenschaftlich anschauliche Natur“ (Husserl 2012:
53). Hier ist die Bandbreite der Bedeutung des
Wortes eingeschränkt und ihrer individuellen lebensweltlichen Variationsbreite, ihrer
Konnotationen und Implikationen künstlich enthoben. Es wird in gewisser Weise
eine relative Bedeutung absolut gesetzt und aus Gründen der effektiven
Kommunikation bis auf Weiteres einvernehmlich ideologisiert. Wird diese
Bedeutung jedoch nicht beständig reflektiert, sondern unreflektiert
perpetuiert, so besteht die Gefahr, dass sich ein nachlässiger Gebrauch
einschleicht: Wissenschaftliche Sprachspiele sind dafür, da man sich hier gerne mit
Autoritäten schmückt und lieber auf die Schultern von Riesen steigt statt deren
Begriffsgebrauch zu hinterfragen, sehr empfänglich.
2.10 Ausbruch
aus dem Gefängnis der Dichotomie
Gemeinsam ist soziokulturellen
Phänomenen, so von Hayek, dass „aus
Regelmäßigkeiten individuellen Verhaltens (der) Charakter der daraus
resultierenden Ordnung“ rekonstruiert werden kann, (Keller 2014: 62). Dumm
nur, dass wir „in einer von Dichotomien
geprägten Kultur“ (Keller 2014: 63) leben, die keinen rechten Sinn für
prozessual definierte Erklärungsmuster hat. Da gibt es eben die von der Natur
aus gegebenen Dinge auf der einen und die künstlichen, von Menschen
geschaffenen Artefakte auf der anderen Seite. Basta. Nehmen wir das so hin,
haben wir größte Schwierigkeiten, die einfachsten Dinge des alltäglichen Lebens
und Miteinanders
auch nur ansatzweise angemessen zu beschreiben.
Ob Bräuche, Traditionen oder wissenschaftliche Diskurse – ich folge ihnen
nicht aufgrund meines Verstandes oder meiner Vernunft, auch nicht aufgrund
meines Gefühls oder
meiner Instinkte. „Ich folge sozialen
Regeln“ (Keller 2014: 64). Und „wenn
ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind“
(Wittgenstein 1977: 134 (PU 219)). Einer Regel folge ich also nicht bewusst,
ich reflektiere sie nicht oder stelle sie in Frage. Ich folge ihr ganz automatisch,
weil sie Teil der Lebenswelt ist, in die ich hineingeboren wurde. „Soziale Regeln werden gleichsam zu unserer
zweiten Natur. Sie sind ein Teil meines Ich“ (Keller 2014: 65). Sie sind
weder natürlich gegeben noch künstlich geschaffen. Eine Sprache zu sprechen
heißt also, gewissen nicht verabredeten, nicht durch Übereinkunft erzielten
oder von einer supranationalen Normungsorganisation gesetzten sozialen Regeln
zu folgen. Ihre Befolgung13 erfolgt nicht bewusst, nicht geplant und
nicht vorsätzlich. Und ihre Befolgung dient,
wie gesagt, in erster Linie nicht der Verständigung, sondern der Beeinflussung: Ich will jemanden dazu bringen, „etwas
Bestimmtes zu tun bzw. zu glauben“ (Keller 2014: 65).
In Platons Dialog ‚Kratylos’, Nukleus abendländischer Sprachphilosophie, stehen sich zwei Positionen diametral gegenüber. Die des namensgebenden Kratylos, der behauptet, dass allem, was es an Benennbarem gibt, von Natur aus eine objektiv richtige Benennung zukommt (‚physei’). Sein Kontrahent Hermogenes hingegen vertritt die recht modern anmutende Auffassung, dass die Verbindung von Bedeutung und Ding vom Menschen gemacht wird. Wortbedeutungen werden demnach willkürlich festgelegt und beruhen auf Konvention, also Übereinkunft und Gewohnheit (‚thesei’) (Platon 1980: 124 ff.). Grundsätzlich können sie, so Hermogenes, von jedem geändert werden. Ja, jeder ist jederzeit imstande, seine eigene Privatsprache zu schaffen und einem Wort die Bedeutung eines anderen Wortes zu geben, wodurch die neue Benennung gültig und richtig wird.
In Platons Dialog ‚Kratylos’, Nukleus abendländischer Sprachphilosophie, stehen sich zwei Positionen diametral gegenüber. Die des namensgebenden Kratylos, der behauptet, dass allem, was es an Benennbarem gibt, von Natur aus eine objektiv richtige Benennung zukommt (‚physei’). Sein Kontrahent Hermogenes hingegen vertritt die recht modern anmutende Auffassung, dass die Verbindung von Bedeutung und Ding vom Menschen gemacht wird. Wortbedeutungen werden demnach willkürlich festgelegt und beruhen auf Konvention, also Übereinkunft und Gewohnheit (‚thesei’) (Platon 1980: 124 ff.). Grundsätzlich können sie, so Hermogenes, von jedem geändert werden. Ja, jeder ist jederzeit imstande, seine eigene Privatsprache zu schaffen und einem Wort die Bedeutung eines anderen Wortes zu geben, wodurch die neue Benennung gültig und richtig wird.
Um dem Gefängnis
der Dichotomie von physei vs. thesei, von natürlich vs. künstlich zu entkommen,
hinterfragt Keller die mechanistische Variante der gegensätzlichen
Erklärungsmodelle: Was heißt das nun genau, etwas sei künstlich, also ‚von
Menschen gemacht’? Ein Gegenstand, der von Menschen gemacht wurde, kann, so
Keller, (A) ein „Ergebnis menschlicher
Handlungen“ sein oder (B) „aufgrund
menschlicher Intentionen entstanden“ sein. „Nun impliziert zwar B A, aber A impliziert nicht B“ (Keller 2014:
83). Das, was aufgrund menschlicher Intentionen entstanden ist (B), ist auch
das Ergebnis menschlicher Handlungen (A), aber Ergebnisse menschlichen
Handelns (A) müssen nicht zwingend intendiert (B) sein. Darauf wies schon
Mephisto hin, der ja, zumindest nach eigener Aussage, stets das Böse will und stets das Gute
schafft. Solche Resultate sind dann „Ergebnisse
menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer
Intentionen“ (Keller 2014: 84). Damit passt das Erklärungsmuster
nicht mehr in die klassische Dichotomie – Resultate dieser Art sind zwar, wie
Artefakte, künstlich, aber eben nicht wie diese gezielt, geplant und
vorsätzlich geschaffen.
Alle Phänomene, „which are indeed the results of human
action, but not the execution of any human design“ (Keller 2014: 85;
zitiert nach Adam Ferguson 1767: 187) gehören in diese dritte Kategorie – neben
den Kategorien ‚natürlich’ und ‚künstlich’. Keller nennt diese soziokulturellen
Phänomene darum „Phänomene der dritten
Art“ (Keller 2014: 85): Sie sind nicht intendierte kollektive Folgen zum
Teil millionenfacher
gleichgerichteter intentionaler individueller Handlungen. Folgen eben jenes
Wirkens der unsichtbaren Hand, das Adam Smith beschrieb. Dazu gehört die Entstehung der
Inflation ebenso wie die des Trampelpfads auf dem Universitäts-Campus, des
Staus aus dem Nichts oder eben der Sprach- bzw. Bedeutungswandel.
2.11 Intendieren,
Meinen, Bedeuten
Um eine
angemessene Erklärung soziokultureller Phänomene wie das des Sprachwandels oder,
ihm logisch vorausgehend, der Etablierung von Bedeutung liefern zu können, kann
man nicht bei bestehenden Strukturen beginnen, sondern muss methodologisch eine
Erklärung dafür liefern, wie diese Strukturen entstehen: „Ausgangspunkt der Erklärung sind handelnde Individuen“ (Keller
2014: 164). Diese „nominalistische
Strategie“, wie sie der Linguist Frank Liedtke im Rekurs auf den britischen
Sprachphilosophen Jonathan Bennett nennt, ist alternativlos: „Jede andere Strategie wäre hoffnungslos
zirkulär“ (Liedtke 2016: 43).
Die Frage, wie
sich Bedeutung systematisch etablieren kann, geht mit der Frage einher, wie
sich bei anderen das Verständnis eben dieser Bedeutung systematisch etablieren
kann. Denn auf der Handlungsebene, auf der sich der Mensch Zeit seines Lebens
de facto bewegt, ist er immer in soziale Kontexte eingebunden (es sei denn, wir
reden hier über einen ewigen Robinson Crusoe ohne Chance auf einen Freitag). Das
heißt, es muss gezeigt werden, was es bedeutet, wenn ein singuläres
Sprachverhalten von einem anderen ‚verstanden’ wird. Und wie im Zuge der „sozialen Kristallisation“ (de Saussure
2013: 16), die als soziokulturelles Phänomen auch ein Prozess der unsichtbaren
Hand ist, also nicht geplant, nicht gezielt, nicht vorsätzlich, nicht bewusst abläuft
und potentiell endlos, also nie abgeschlossen ist, eine singuläre „Sprecher-Bedeutung“ (H. Paul Grice) über
den Weg der etablierten Bedeutung zur konventionellen Bedeutung eines
Äußerungstyps werden kann.
Bedeutungskonstitution
ist nie eine einseitige Angelegenheit. Wenn ich etwas sage und niemand ist da,
dem ich es sage, dann gibt es auch niemanden, dem das, was ich sage, etwas
sagt. Mithin läuft in dieser Konstellation meine Intention ins Leere, ist das,
was ich sage, bedeutungslos. Es bedarf also immer eines Gegenübers (idealer
Weise eines Menschen, nicht Alexa), der die Grundbedingungen dafür erfüllt,
dass er das, was ich ihm sage, in der Lage ist zu erfassen. Wenn ich diesem
Gegenüber etwas sage, was nicht durch schnöden Rückgriff auf den
konventionellen Sprachgebrauch verständlich ist, so muss dieser Gegenüber,
damit er weiß, was ich mit dieser Äußerung meine, meine Intention erkennen, mit
der ich meine Äußerung gemacht hat: ‚Die Tür ist offen’. Verfügt mein Gegenüber
über ein ausreichendes Kontextwissen, so wird er hoffentlich erkennen, dass es
sich hier z.B. um eine Aufforderung handelt, endlich die Tür zu schließen, weil
es wie Hechtsuppe zieht.
Zu wissen, „was jemand mit einer Äußerung meint“ (Liedtke
2016: 35), bedeutet, die Intention des Sprechers zu erkennen. Diese
kommunikative Intention oder „Sprecher-Intention“
(H. Paul Grice) ist die Bedeutung der Äußerung: die „Sprecher-Bedeutung“ (H. Paul Grice) – damit stehen wir strukturell
gesehen am Anfang der Bedeutungsetablierung. Bedeutung konstituiert sich nur in
Ausnahmefällen als ein Akt der Setzung, in der Regel resultiert sie aus einer
dialogisch strukturierten Situation, in der der Angesprochene die „reflexive Intention“ (Liedtke 2016: 37)
erkennen muss, um zu wissen, was der Sprecher meint (also die „Sprecher-Intention“
resp. Sprecher-Bedeutung“ erkennen).
Der britische
Sprachphilosoph Herbert Paul Grice hat für den Fall des Meinens (und damit mein
Verstehen dessen) ein handlungstheoretisches Grundmodell entwickelt:
i.
Ich intendiere, dass du
erkennst, dass ich mit meiner Äußerung a beabsichtige.
ii.
Ich intendiere, dass du
meine Intention (i.) erkennst.
iii.
Ich intendiere, dass du
erkennst, was ich mit meiner Äußerung a beabsichtige, indem du meine Intention
(ii.) erkennst.
Der
Angesprochene muss also eine reflexive, interpretative Leistung erbringen, um
den Gehalt der kommunikativen Intention (die Sprecher-Intention), also das mit
der Äußerung Gemeinte, die intendierte Wirkung (die Sprecher-Bedeutung)
verstehen zu können. Um eine realistische Chance zu haben, diese Leistung
erbringen zu können, muss er über relevantes Kontextwissen verfügen. Diese
Informationen „umfassen allgemeines
Weltwissen, also physikalische Gesetze oder kulturelle Praktiken, außerdem
Einschätzungen der aktuellen Situation und schließlich das, was im Diskurs
vorher gesagt oder im Text vorher geschrieben wurde“ (Liedtke 2016: 38).
Dazu gehört auch das von Karl Mannheim beschriebene konjunktive Denken, das mit
einem ebensolchen Wissen korrespondiert. Bei diesem Wissen handelt es sich um
akkumulierte geteilte, ausgetauschte Erfahrungen, intersubjektiv konstituiert
durch Gemeinschaft (und so Gemeinschaften bildend). Und doch ist dieses nie zur
Gänze explizierbar, obwohl es doch zur „Orientierung
in und Gestaltung und Interpretation von einer Welt beiträgt, in der wir
zuhause sind“ (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22).
Lassen wir an
dieser Stelle Mannheims grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit der
reflexiven Vergegenwärtigung gemeinschaftskonstituierenden Wissens einmal
beiseite: Bei sprachlichen Äußerungen vom einfachen Typ wie ‚Die Tür ist offen’
sind die genannten Aspekte gewiss von nachrangiger Bedeutung, wenn es um das Erkennen
der Sprecher-Bedeutung geht. Aber es sind komplexere Äußerungen denkbar, in
denen ein etwas umfangreicheres Welt- und Kontextwissen erforderlich ist. So bei
einem Satz wie: „Eine Kunst, die im
Grunde keine Kunst mehr sein will, sondern Belehrung, endet rasch in solchen
Fallen der Bigotterie“ (Rauterberg 2017: 37).
Ob die
Interpretation des Gemeinten durch den Angesprochenen mit der von mir
intendierten Interpretation übereinstimmt, kann, so Liedtke, „nur wechselseitig unterstellt werden“ (Liedtke
2016: 40). Im Gespräch kann ich dies vielleicht noch durch eine simple
Nachfrage in Erfahrung bringen. Bei der Lektüre des Artikels von Hanno
Rauterberg wird das schon schwieriger. Angenommen, diesem Satz (bzw. den darin
gebrauchten Worten, insbesondere dem Begriff ‚Kunst’) kommt hier eine singuläre
Sprecher-Bedeutung zu: Wie soll ich, wenn es aus dem Kontext nicht eindeutig
ersichtlich ist, herausfinden, ob meine Hypothese der Sprecher-Bedeutung
richtig ist, ob also Herr Rauterberg und ich „übereinstimmende Interpretationen der Situation haben oder nicht“ (Liedtke
2016: 40)? Um gerade in Fällen wie diesen eine halbwegs realistische Chance auf
eine flüssige Kommunikation zu haben, müssen wir „auf eine gängige Bedeutung der geäußerten Ausdrücke zurückgreifen“
(Liedtke 2016: 41) können (Liedtke ist der Ansicht, dass Sprecher_innen wie
Adressat_innen eben dies auch ständig tun, es also in der Regel eine solche gängige
Bedeutung gibt (was zu beweisen wäre).
Aber reicht nicht schon die Suggestion einer gängigen Bedeutung, um die
flüssige Kommunikation aufrecht zu erhalten? Dies scheint mir im alltäglichen
Gebrauch der Sprache der Normalfall zu sein).
2.12 Von der
singulären zur konventionellen Bedeutung
Die etablierte Bedeutung
eines Ausdrucks ist, wie gesehen, weder etwas, was ‚physei’ ist, also natürlich
gegeben, noch etwas, was ‚thesei’ ist, also durch Gewohnheit und Übereinkunft
erzielt. Sie ergibt sich in der Regel als Resultat menschlicher Handlungen,
nicht aber als Ergebnis eines menschlichen Plans – „sie entsteht letztlich aus singulären sprachlichen Äußerungen und
ihrer Intentionszuschreibung“ (Liedtke 2016: 41). Es sind daran immer
Sprechende beteiligt, die bestimmte Intentionen haben, sowie Mitsprechende, die
diesen Ausdrücken und Äußerungen in aktuellen Situationen bestimmte Intentionen
zuschreiben. Aus dem millionenfachen Vollzug solcher Handlungen entstehen
ungeplante, nicht vorsätzliche, kollektive kausale Resultate – idealiter die
etablierten Bedeutungen. Und, in letzter Konsequenz, „allmählich eine Einzelsprache als Durchschnitt der Verwendungen vieler
Sprecher“ (Liedtke 2016: 41) so wie sich ganz ähnlich aus solchen Einzelfällen
„auch andere etablierte Formen der
menschlichen Interaktion oder auch der menschlichen Kultur“ (Liedtke 2016:
41) in einem Prozess der unsichtbaren Hand entwickeln.
H. Paul Grice
hat ein idealtypisches Modell entwickelt, wie wir uns eine solche systematische
prozessuale Entwicklung innerhalb einer Sprachgemeinschaft von der singulären Situationsbedeutung
hin zur konventionellen Bedeutung vorzustellen haben:
a. Situationsbedeutung: „sie gilt nur in der spezifischen Verwendungssituation“ (Liedtke 2016: 42). Die geäußerten Sätze und Worte ergeben
sich in diesem Fall ausschließlich aus dem konkreten Kontext der Äußerung.
Diese Bedeutung differenziert Grice in die
a.1 Situationsbedeutung eines Ausdrucks sowie
a.2 Situationsbedeutung eines Sprechers
Letztere (a.2)
ist hier von vorrangigem Interesse: Anhand des reflexiv angelegten Grice‘schen
Grundmodells
i.
Ich intendiere, dass du
erkennst, dass ich mit meiner Äußerung a beabsichtige.
ii.
Ich intendiere, dass du
meine Intention (i.) erkennst.
iii.
Ich intendiere, dass du
erkennst, was ich mit meiner Äußerung a beabsichtige, indem du meine Intention
(ii.) erkennst.
erschließt sich
die jeweilige Intention des Sprechers. Aus dieser Sprecher-Intention ist die
singuläre Bedeutung des Sprechers, seine Situationsbedeutung, zu ersehen. Sie
ist, sprachlogisch gesehen, die erste, ursprünglichste Form der
Sprecher-Bedeutung. Und damit der Anfang des Prozesses zur
Bedeutungsetablierung, an dessen Ende erst die etablierte und dann die
konventionelle Bedeutung steht – hier handelt es sich um „die Ableitung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aus dem Begriff der
(reflexiven) Sprecher-Intention“ (Liedtke 2016: 43).
Die zweite hier relevante Art der Bedeutung ist die
b. zeitunabhängige Bedeutung: „die etablierte Bedeutung, die einem Ausdruck (sei es ein Wort oder ein Satz) unabhängig von einer bestimmten Verwendungssituation, also zeitunabhängig, zukommt“ (Liedtke 2016: 42)
b. zeitunabhängige Bedeutung: „die etablierte Bedeutung, die einem Ausdruck (sei es ein Wort oder ein Satz) unabhängig von einer bestimmten Verwendungssituation, also zeitunabhängig, zukommt“ (Liedtke 2016: 42)
Da nun viele
Ausdrücke, so auch ‚Kunst’, mehrdeutig sind, „geht aus dem Verwendungskontext hervor, welche von den Möglichkeiten
im Bedeutungsspektrum realisiert wird“ 14 (Liedtke 2016: 43). Diese
im Kontext verwendete Variation der etablierten
Bedeutung nennt Grice die „angewandte
zeitunabhängige Bedeutung“. Um die aktuelle
Bedeutung zu erkennen, muss erstens herausgefunden werden, ob es sich um eine
angewandte zeitunabhängige Bedeutung (b.)
oder aber um eine Situationsbedeutung (a.) handelt und zweitens, wenn es sich
um (b.) handelt, welche der Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum dann hier
Anwendung findet.
Die Frage ist
nun, „wie sich die zeitunabhängige
Bedeutung aus der Situationsbedeutung ableiten lässt“ (Liedtke 2016: 43).
Dazu muss man in dem Erklärungsmodell
den erstmaligen Gebrauch einer Bedeutung durch einen Sprecher annehmen – die
erwähnte Sprecher-Intention als singuläre Bedeutung des Sprechers.
Erkennt der Angesprochene die reflexive Intention, so versteht er sie als die
Situationsbedeutung des Sprechers. Lässt nun der Sprecher diese offensichtlich
recht verständliche Verwendungsweise zur Gewohnheit werden, die von weiteren
Angesprochenen erkannt wird, so unterstellen diese ihm, dass er mit dem
Gesagten auch in der neuen Situation meint, was er zuvor erstmalig gemeint hat
– dass er „ein bestimmtes Verfahren in
seinem Repertoire“ hat (Liedtke 2016: 44).
Wenn nun andere
zukünftig „mit dieser Verwendung in
dieser Art von Situation“ (Liedtke 2016: 44) rechnen, ist aus der
Sprecher-Bedeutung die etablierte Ideolekt-Bedeutung eines
Ausdruckstyps geworden. Erweitert sich dieser nun so etablierte Sprachgebrauch
einer Person kontinuierlich (aber ungeplant, ungezielt, nicht vorsätzlich oder
gar bewusst), indem verschiedene Sprecher einer Gruppe seine Verwendungsweise
übernehmen und erweitert sich die Gruppe dann sukzessive um immer weitere
Gruppen, wird sie „zur zeitunabhängigen
Bedeutung des Äußerungstyps“ (Liedtke 2016: 44). Und, als das kollektive, ungeplante
und nicht intendierte Resultat
all dieser ungezählten individuellen intentionalen Handlungen, zur etablierten
und schließlich zur konventionellen Bedeutung eines Ausdruckstyps – bei diesem kollektiven
Resultat handelt es sich um eben jene „soziale
Kristallisation“, von der der schweizerische
Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure15 gesprochen hat: „Zwischen allen Individuen, die so durch die
menschliche Rede
verknüpft sind, bildet sich eine Art
Durchschnitt heraus: alle reproduzieren – allerdings nicht genau, aber
annähernd – dieselben Zeichen, an die dieselben Vorstellungen geknüpft sind“ (de Saussure
2013: 15).
Muss ich bei einem singulären Sprachgebrauch, der Sprecher-Intention,
noch diese reflexive Intention erkennen, um zu verstehen, was gemeint ist, wird
sie „ab einer bestimmten
Konventionalisierungsstufe (…) obsolet“ – sie „ergibt sich aus der
Verwendung eines etablierten Sprachmittels“ (Liedtke 2016:
44). Damit ist systematisch der Prozess beschrieben, der „von der individuellen Gewohnheit eines Ausdrucksgebrauchs hin zu einer
kollektiven Praxis“ führt (Liedtke 2016: 44). In diesem intersubjektiv
konstituierten Sprachspiel korreliert die etablierte Verwendungsweise mit einer
entsprechenden Verständnisweise, die eine flüssige und gelungene Kommunikation
sicherstellt. Idealiter.
2.13 Die soziale Welt – ein Trampelpfad
„Das Wesen der menschlichen Kultur im Allgemeinen
und das der Sprache im
Besonderen“ (Keller 2014: 87) erweist sich
weder als ein Naturphänomen noch als ein Artefakt –
es ist ein Phänomen der dritten Art. Unser Problem, dies angemessen zu beschreiben,
liegt darin begründet, dass wir zwar um eine solch „trichotome Unterscheidung“ (Keller 2014: 89) wissen, sie aber in „dichotomer Terminologie“ (Keller 2014:
89) treffen müssen. Unser sprachliches Handicap zeigt sich plakativ an
folgendem Beispiel, das Keller gibt: Wir unterscheiden nicht allein natürliche
von künstlichen Blumen, wir unterscheiden auch natürliche Zahlungsmittel (Geld)
von künstlichen Zahlungsmitteln (Geldsurrogate) (Keller 2014: 88). Und das,
obwohl natürlich jeder weiß, dass natürliche Zahlungsmittel nicht natürlich sind,
sondern künstlich (von Menschen geschaffen).
In Ermangelung
eines passenden Adjektivs verwenden wir „umgangssprachlich
das Adjektiv ‚natürlich’ zweideutig“ (Keller 2014: 89). So tragen wir
selbst – unbewusst, ungewollt, ungeplant, unbeabsichtigt – zur Verwirrung und
Verstetigung des dichotomen Sprachgebrauchs bei. Ganz so, wie ich als
Autofahrer dazu beitrage, dass sich ein Stau aus dem Nichts entwickelt. Oder
als Fußgänger, dass ein Trampelpfad entsteht:
A ist spät dran und will auf dem schnellsten und kürzesten Weg zu B. Er stellt sein Auto auf dem Parkplatz ab und überquert eilig den Rasen. A1, A2 und An parken ebenfalls dort, der eine oder andere ist vielleicht auch spät dran. Allen gemeinsam jedoch ist ein ausgeprägter Hang zur Faulheit. Weshalb auch sie nicht den eigentlich vorgesehenen, aber verdammt langen Fußweg nehmen. Sondern die Abkürzung über den Rasen. Und nach einigen Wochen oder Monaten kommt es, wie es kommen muss: Es ist ein Trampelpfad entstanden.
Weder der Stau
noch der Trampelpfad gehörte „zu den
Intentionen der einzelnen Handelnden“ (Keller 2014: 90), beides ist aber
das kollektive Resultat gleichartiger Handlungen aller am Prozess Beteiligten –
es sind dies kollektive Epiphänomene individueller intentionaler Handlungen.
Jeder Einzelne trägt dabei im Kollektiv Verantwortung für etwas, wofür er als
Einzelner nicht verantwortlich ist.
A will auf dem kürzesten Weg zu B. Schafft A das, so ist die Handlung ‚gelungen’, das ‚Ergebnis’ eingetreten („primäre Intention“, Keller 2014: 91). Das angestrebte Ziel dieser primären Intention ist, dass ich pünktlich zu meiner Verabredung komme – dies ist die ‚Folge’ meiner Handlung („sekundäre Intention“, Keller 2014: 92). Tritt sie ein, ist die Handlung nicht nur ‚gelungen’, sondern auch ‚erfolgreich’. Tritt sie nicht ein, weil A trotz aller Bemühungen zu spät kommt, wäre die Handlung zwar ‚gelungen’, aber nicht ‚erfolgreich’. Was ist aber nun der Trampelpfad – Ergebnis oder Folge der Handlungen von A?
Nichts von
beidem. Denn zum einen beabsichtigt A ja nicht, einen Trampelpfad anzulegen – A
will nur pünktlich sein, weshalb er den kürzesten Weg wählt. Zum anderen würde
es A, selbst wenn er es wollte, beim besten Willen nicht schaffen, einen
Trampelpfad durch seinen Gang über den Rasen anzulegen. Das klappt nur im
Verbund mit anderen: Der Trampelpfad
ist ein kollektives, nicht intendiertes Resultat intentional zumindest partiell
gleichgerichteter individueller Handlungen – bei Phänomenen dieser Art handelt
sich „um kausale Konsequenzen der
Ergebnisse der sie erzeugenden Handlungen“ (Keller 2014: 92).
Solch kollektive
Konsequenzen individueller Handlungen sind, wie gesagt, weder Artefakte noch
Naturphänomene, es sind ‚Phänomene der dritten Art’. Zu ihnen gehören aber
nicht nur so scheinbar banale Dinge wie der Trampelpfad oder der Stau aus dem
Nichts – dazu gehören alle soziokulturellen Ereignisse, also alle sozialen
Institutionen wie Sprache, Recht, Geld, Märkte, Religion, Geschmack, ja: die
Kultur selber. Sie etablieren sich strukturell analog der nominalistischen
Strategie, die prototypisch bei der geschilderten Etablierung singulärer Wortbedeutungen
(sie fordern ein Erkennen und damit Verstehen reflexiver Intentionen, also dessen,
was ein Sprecher meint) und konsequenterweise auch bei der Etablierung verschiedener
„Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum“
(Liedtke 2016: 43) (wie es zum Beispiel bei dem Begriff ‚Kunst’ der Fall ist) zur
Anwendung kommt: vom Einzelnen zum Ganzen, vom singulären zur konventionellen
Gebrauch.
2.14 Mikroebene –
Makroebene
Phänomene dieser
dritten Art werden mittels der Theorie der unsichtbaren Hand erklärt, die Adam
Smith (cf. Kap.1) in die Moralphilosophie und Ökonomie eingeführt hat. Sie
erscheinen, hier zitiert Keller den amerikanischen Philosophen Robert Nozick, „wie das Ergebnis eines absichtsvollen
Planes eines Menschen“, allerdings „auf
eine Weise, die nichts mit irgendwelchen Absichten zu tun hat“ (Keller
2014: 97). Damit ist die Unterscheidung einer Mikroebene von einer Makroebene
angesprochen: Die Ebene der individuellen Handlungen und ihrer perspektivisch
gebundenen Sichtweise sowie die der „Betrachtung
der Makroebene der sozialen Institutionen“ (Keller 2014: 97), also
gewissermaßen die Perspektive der kollektiven Konsequenzen.
Die Betrachtung
der Makroebene ist dabei zwar „prinzipiell
unabhängig von der Mikroebene der sie erzeugenden individuellen
Handlungsweisen“ (Keller 2014: 97). Aber leite ich nicht die Makroebene
anhand einer Invisible-hand-Theorie (wie es die die Etablierung der Bedeutung
eine ist) systematisch aus der Mikroebene her, so beschreibe ich die Makroebene
bestenfalls, aber ich erkläre sie nicht. So wie es bei dem Phänomen des Staus
aus dem Nichts, des Trampelpfads und auch der Inflation ist, so ist es auch bei
der Sprache, dem Sprach- und Bedeutungswandel und der Kultur im Allgemeinen:
Sie alle sind Resultat „des sozialen
Handelns der Individuen“ (Keller 2014: 98). Aber dabei nicht zielgerichtet oder
vorsätzlich entstanden, nicht geplant, nicht intendiert, nicht gewollt.
Allerdings sind
diese Resultate keine Resultate in dem Sinne, dass sie finale Stadien des
Prozesses ihrer Genese bezeichnen, sondern „Episoden
in Prozessen kultureller Evolution, die weder einen benennbaren Beginn noch ein
benennbares Ende haben“ (Keller 2014: 99). So sind denn auch die Veränderungen
von morgen als „die kollektiven
Konsequenzen unserer kommunikativen (resp. sozialen, S.O.) Handelns von heute“
(Keller 2014: 105) – und die Veränderungen von übermorgen als die Konsequenzen
von morgen zu verstehen. Ad infinitum.
Sind diese
kollektiven Konsequenzen das kausale Momentum der Erklärung, etwas, was
eigentlich „für Naturphänomenerklärungen
kennzeichnend ist“ (Keller 2014: 101), so stellen die intentionalen
kommunikativen resp. sozialen Handlungen das finale Momentum dar. So „wie es für Artefakterklärungen
kennzeichnend ist“ (Keller 2014: 101). Dieses Zusammenspiel
entgegengesetzter Faktoren ist für soziokulturelle Phänomene charakteristisch –
finale resp. intentionale Handlungen zeitigen kausale Konsequenzen, der freie
Wille hat notwendige Auswirkungen. Die Konsequenzen müssen jedoch, wie
beschrieben, aus intentionalen Handlungen ableitbar sein, vice versa müssen „kollektivistische Begriffe (…) reduzierbar
sein auf individualistische Begriffe, sonst sind sie ohne Erklärungswert“ (Keller
2014: 121):
„Wenn zu kommunizieren vorteilhaft für die
Gesellschaft wäre, ohne auch vorteilhaft für die Individuen zu sein, wäre es
schwierig zu erklären, wie sich dieser Brauch hätte etablieren können“ (Keller 2014:
121/122).
2.15 Kultur – eine flüchtige Episode
„Man kann, was Kultur ist, was soziokulturelle
Phänomene sind, in entscheidenden Aspekten nicht begreifen, wenn man sie nicht
als Phänomen der dritten Art sieht“ (Keller 2014: 208). Wie alle sozialen
Institutionen ist die Kultur weder natürlich gegeben noch ein Artefakt: Sie ist
das Resultat eines Invisible-hand-Prozesses. Und der zeichnet sich nun einmal
dadurch aus, dass er kollektive, kausale sowie nicht intendierte, nicht
zielgerichtete, potentiell endlose Ergebnisse millionenfacher individueller
intentionaler Handlungen zeitigt. Kultur als dieses Ergebnis ist also kein
Ergebnis im Sinne eines zumindest temporär fixierten End-Produktes: Ihr
Seinszustand ist der einer flüchtigen Episode (auf der synchronen Zeitachse) in
einem zeitlichen Kontinuum (der diachronen Zeitachse).
Was nicht
bedeutet, dass sich die Bedeutungszuschreibungen, also das, was von einer
einzelnen Person, einer bestimmten Gruppe oder auch einer ganzen Gesellschaft
unter ‚Kultur’ verstanden wird (und auch das Verständnis kann von Person zu
Person, von Gruppe zu Gruppe, von Gesellschaft zu Gesellschaft zu gleichen Zeit
so weit divergieren, dass es zwischen ihnen kaum eine Schnittmenge gibt), von
einem Tag auf den anderen wandeln: Ähnlich, wie es innerhalb einer bestimmten
Gruppe ein kommunikatives Mindestmaß an Kontinuität im Gebrauch bestimmter
Äußerungstypen, also eine Stabilität in der „Art
der diachronischen Identität“ (cf. Kap. 2.15, Keller 2014: 132) zur
Verständnissicherung geben muss, so muss es auch innerhalb einer bestimmten
Gruppe ein soziales Mindestmaß an Kontinuität bestimmter Werte auf der
diachronen Zeitachse geben: eben die ‚diachronische Identität’.
Es leben in der
Regel drei, maximal vier Generationen zur gleichen Zeit. Somit besteht die
Notwendigkeit einer Verständnissicherung qua Kontinuität und Stabilität erst
einmal nur für eben jene drei, maximal vier parallel lebenden und miteinander
kommunizierenden Generationen. Von der ersten zur fünften besteht sie aus
verständlichen Gründen jedoch kaum noch, hier begegnet der Kulturwandel dem
Sprachwandel: Die Kultur als Phänomen hat sich in einem Generationen übergreifenden
Invisible-hand-Prozess gewandelt, ohne dass es die daran Beteiligten bemerken
bzw. bemerkt haben. Ebenso hat sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs ‚Kultur’,
der als Signifikant jedoch gleichgeblieben ist, in einem ebensolchen Prozess
gewandelt, ohne dass es die daran Beteiligten bemerken bzw. bemerkt haben. Das
heißt: Von Generation zu Generation wird sich in einem Prozess stetiger
Erneuerung und Wandlung durch die einzelnen Mitglieder der jeweils
nachfolgenden Generation der Anteil des ursprünglichen Verständnisses so weit
reduzieren, dass die erste Generation, würde sie in die fünfte Generation
katapultiert werden, große Schwierigkeiten haben dürfte, das nun vorherrschende
Verständnis von Kultur als das ihre zu identifizieren (ähnlich verhält es sich
beim Verständnis der Kunst). Und das, obwohl so mancher aus dieser fünften
Generation steif und fest behaupten dürfte, dass es sich bei der gegenwärtigen
Kultur (und dem gegenwärtigen Verständnis von Kultur) um nichts Anderes handelt
als eben diese tradierte Kultur (und das tradierte Verständnis von Kultur).
Womöglich sind
dies sogar dieselben, die den prozessualen Charakter der Kultur ignorieren oder
gar ganz generell bestreiten, weil sie ein Verständnis von Kultur im Sinn
haben, welches sie interessegeleitet künstlich setzen wollen, um einen
bestimmten Zustand als verbindlich zu definieren – wobei sie natürlich in
solchen Fällen zumeist die Deutungshoheit beanspruchen. So etwa, wenn die puristischen
Wahhabiten für sich in Anspruch nehmen, die authentische Lehre des Islam zu
vertreten, eine Weiterentwicklung des Koranverständnisses rigoros ablehnen, stattdessen
interessegeleitet eine bedingungslose Rückbesinnung auf die Zeit des Propheten
Mohammed verlangen und in der Scharia die einzig wahre, ewig gültige und für
alle verbindliche Rechtsform sehen. Bei ihrem Bemühen um eine entzeitlichte,
absolut gesetzte Fixierung des Verständnisses, die strukturell einer
künstlichen Setzung als Artefakt, d.h. als End-Produkt gleichkommt, ist ihnen
nun sprachlich und damit denkstrukturell ein Phänomen behilflich, von dem wir
schon eingangs sprachen: unser Hang zur Hypostasierung, der mit der
Vitalisierung und Anthropomorphisierung korreliert.
Strukturell ähnliches
passiert, wenn auch nicht ansatzweise in solch extremer Ausprägung, bei der aktuellen
Debatte um die ‚deutsche Leitkultur’: Hier wird (1.) die Existenz von etwas
behauptet, das es in dieser Form
nicht gibt und gar nicht geben kann – die Kultur als ein zumindest temporär der
Zeit enthobenes, fixiertes Phänomen und nicht als prozessuale Episode. Und (2.)
wird die Kultur, die so bereits artefaktisch, also wie ein End-Produkt
konstituiert ist, hypostasiert, vitalisiert und anthropomorphisiert. Wie die Elektrizität,
die Sprache, der Markt oder der Dax, so auch die Kultur resp. die Leitkultur: „Sie werden zu Akteuren stilisiert“ (Keller
2014: 199; cf. Kap. 2.1). Ein schönes, geradezu prototypisches Beispiel dafür hat
der Soziologe und vormalige
Bundestagspräsident Norbert Lammert in einem Vortrag in der Herzogin Anna
Amalia Bibliothek in Weimar Anfang 2016 geliefert:
„Jede aufgeklärte
Kultur wird sich selbst nicht für die einzige,
einzig mögliche, allen anderen überlegene halten. Leitkultur beansprucht nicht, überall in der Welt für alle zu
gelten, sondern nur, aber natürlich, für die jeweils eigene Gesellschaft und ihre Mitglieder. Jede Kultur, die sich selbst ernst nimmt, ist insoweit eine
Leitkultur.“
Hier ist es
wieder, dieses sagenhafte animal rationale, von dem Keller sprach: ‚Kultur
nimmt sich ernst’, ‚Leitkultur beansprucht Geltung’, ‚Aufgeklärte Kultur hält
sich nicht für überlegen’. Dabei zitiert Lammert den Schriftsteller Adolf Muschg, der auf die Frage ‚Brauchen wir eine
Leitkultur?’ antwortete: „Der Westen
braucht keine Leitkultur, er ist eine“ – hier wird sprachlich sowohl der
‚Westen’ als auch die zur Diskussion stehende ‚Leitkultur’ als ein
vergegenständlichtes Etwas apostrophiert. Aber Kultur wird nicht gesehen und
verstanden als das, was sie ist: eine prozessuale Episode.
Was
Muschg recht ist, ist Thomas de Maizière billig. In einem Gastbeitrag für die
ZEIT, in dem er seine Grundsätze für eine
"deutsche Leitkultur" vorlegte, hypostasierte auch er die
(Leit-)Kultur und beschreibt sie als ein der Zeit enthobenes, fixiertes
Phänomen und nicht als prozessuale Episode:
„Es gibt so etwas wie eine
‚Leitkultur für Deutschland’ (…) Wir haben in unserem Land eine Zivilkultur
bei der Regelung von Konflikten (…) Wenn wir aber darauf achten, dass wir
uns unserer Leitkultur bewusst sind und sie vorleben, dann wissen wir
um die Stärke dieser Leitkultur, können einiges aushalten und müssen
weniger aushalten, je überzeugender unsere Leitkultur wirkt. Wenn
wir uns klar darüber sind, was uns ausmacht, was unsere Leitkultur ist,
wer wir sind und wer wir sein wollen, wird der Zusammenhalt stabil bleiben,
dann wird auch Integration gelingen – heute und in Zukunft.“
Lammert, Muschg
und de Maizière lassen sich, wie nahezu alle, die diese Diskussion begleiten, von
der Sprache verführen (dieser hypostasierende Ausreißer sei mir erlaubt): Es
gibt keine Kultur. Zumindest keine in dem Sinne, in dem von ihr gesprochen
wird. Sowohl bei der Kultur als Phänomen als auch bei dem Bedeutungsgehalt des
Begriffs ‚Kultur’ (und damit bei unserem Verständnis) sichert allein die diachronische
Identität eine generationenübergreifende Kontinuität und Stabilität. Kultur und
unser Verständnis von ‚Kultur’ können sich aber, wie gesehen, schleichend und
von den Beteiligten, obgleich ein (kollektives) Resultat ihrer individuellen
intentionalen Handlungen, unbemerkt wandeln. So wie „kaum ein mittelalterlicher Mensch angenommen haben (dürfte), Glück sei
aktueller Besitz, weil Glück im Mittelalter als ein zukünftiger Zustand galt,
der über gegenwärtiges Leiden erreicht wurde“ (Eco 1990: 286)16,
so war in der Renaissance, im Rückgriff auf Cicero, für die
Vorstellung von der Menschlichkeit nicht die Achtung vor den Menschen und damit
ihre ‚menschliche’ Behandlung zentral, sondern die Geistesbildung, die im
Mittelalter erloschene studia humanitatis.
Doch was ist mit unserer modernen Vorstellung von Menschlichkeit17 als
Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit,
Milde, von Toleranz, Respekt und Wohlwollen – ist sie tatsächlich so
universell, wie manche glauben? Wird sie in den USA, von Montgomery/Alabama bis
nach San Francisco, gleich verstanden und gleich gelebt? Und ist sie in
Vorpommern die Gleiche wie in Serbien, Syrien, im Tschad, in China oder in Nord-Korea?
Konnte die Bergpredigt seinerzeit so verstanden wurde, wie wir sie heute
verstehen oder verstehen wir sie falsch, weil aus unserer heutigen Perspektive
betrachtet?
Wenn
Universalien, also Allgemeinbegriffe, hypostasiert oder gar vitalisiert und
anthropomorphisiert
werden, werden sie, wie Keller hinsichtlich der Betrachtung des soziokulturellen
Phänomens ‚Sprache’ feststellt, oftmals „vom
Sprecher abstrahierend als (relativ) autonomes Gebilde“ (Keller 2014: 171) gesehen.
Sprache erscheint in diesem Moment, um mit Wilhelm von Humboldt zu sprechen,
als ‚Ergon’, nicht als ‚Energeia’. Also als Werk, nicht als Tätigkeit. Diese
Erkenntnis wird allerdings, so zitiert Keller den Sprachwissenschaftler Eugenio
Coseriu, „oft zitiert, in den meisten
Fällen jedoch, um sie rasch wieder zu vergessen und sich in die Sprache als ergon zu flüchten“ (Keller 2014:
171). Was folgt, ist die Betrachtung der Sprache als das, was sie nicht ist.
Ein Umstand, bei dem es sich für Keller aber nicht um eine Flucht, „sondern um ein vom Arbeitsziel gebotenes
Erfordernis“ (Keller 2014: 171) handelt. Dem kann sicherlich zugestimmt
werden. Allerdings mit zwei Einschränkungen:
1. Der Mensch
hat, sei es am Stammtisch oder in der Alma Mater, die Neigung, es sich wie im
Leben so auch im Denken einfach zu machen. Was im wissenschaftlichen Diskurs
dazu führen kann, dass man, wenn man aufgrund gebotener Erfordernisse ein
Phänomen (wie die Sprache oder die Kultur) quasi in einem anderen
Aggregatzustand betrachten muss, als es faktisch gegeben ist, diese
grundlegende Erkenntnis bei der Betrachtung des Phänomens nicht einschränkend im
Hinterkopf behält, sondern sie, genau darauf weist Coseriu hin, schlicht
vergisst. Ob das nun aus Trägheit, Laxheit, Unachtsamkeit, Gewohnheit oder was für
Gründen auch immer geschieht – es führt oftmals zu einem perpetuierten, unreflektierten
Gebrauch der Worte (und die Sprache nimmt nun mal ganz wesentlichen Einfluss
auf unser Denken). Und deren Verwender werden dann, so der Germanist Steffen
Martus (cf. Kap. 2.1), weiter „in ihrem
‚Sprachpanzer’ hausen und durch Wortdunst ihre handwerklichen Fehler
verschleiern“.
2. Zu sagen,
dass die Sprache in der praktischen Linguistik, trotz Humboldts Einsicht, in
der Regel nicht so betrachtet wird, wie sie gegeben ist, sei „ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis“,
ist für viele Beteiligten leider nur ein willkommenes, billiges Argument, um
sich von vornherein aus der Affäre und intellektuellen Verantwortung zu ziehen:
Sie machen nicht einmal den Versuch, die Dinge
systematisch so zu betrachten und zu beschreiben, wie sie sind. Heidegger (wie
auch in anderer Weise Wittgenstein, cf. Riedel 1990: 7) hat einen solchen
Versuch unternommen. Hat versucht, einen Fluchtweg aus dem Gefängnis der
Sprache zu finden, sich aus dem ‚Sprachpanzer’ zu lösen und unvorbelastete Begrifflichkeiten
zu kreieren, um die Phänomene angemessener beschreiben zu können. Ein Ding der
Unmöglichkeit, sicherlich. Aber lieber an der Unmöglichkeit ehrenvoll scheitern
als sich wohlig in einer dauerhaft perpetuierten sprachlichen (und damit
denkstrukturellen) Unangemessenheit intellektuell einzurichten.
2.16 Gegenläufige
Handlungsmaximen
Einen
Invisible-hand-Prozess in Gang zu setzen, kann durchaus ein geplantes
Unterfangen sein. So, wenn sich bekennende Homosexuelle offensiv als ‚Schwule’
bezeichnen, um dem Begriff ‚schwul’ seine stigmatisierende und diskriminierende
Funktion zu nehmen (Keller 2014: 129). Eine ähnliche Strategie wurde in den USA
Anfang des 20. Jahrhunderts von den African Americans verfolgt, als es gang und
gäbe war, sie als ‚negro’ zu diskreditieren, indem sie sich „das Wort aneigneten und positiv besetzten“ und „die Schreibweise ‚Negro’ (mit einem großen
‚N’) statt ‚negro’ verwendeten“ (Niedermeier 2014: Einleitung, o.S.).
Aber eine
Planung bewirkt noch nicht den Vollzug. Den bewirken erst die, die sich dem entdiskriminierenden
Gebrauch anschließen. Kaum anzunehmen, dass im Laufe des diachronen Prozesses
der Verwendung die einzelnen Sprecher dabei nun einen Bedeutungswandel zu
initiieren beabsichtigen – „aber faktisch
bewirken sie ihn“ (Keller 2014: 129). Ganz ähnliches passiert, wenn der
eine oder andere Kunsthistoriker eine singuläre Sprecher-Bedeutung (cf. Kap.
2.11 und 2.12) des Begriffs ‚Kunst’ verwendet: Will er eine Chance haben, dass sie
einmal zu einer etablierten oder gar konventionellen Bedeutung dieses Begriffs
wird, also zu einer der verschiedenen ‚Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum’
(Liedtke), so muss diese Begriffsverwendung nach Maßgabe des methodologischen
Individualismus „den langen Marsch durch
das Handeln der Individuen“ (Keller 2014: 129) antreten – und „muss durch ihn erklärt werden“ (Keller
2014: 129).
Dabei hat diese
singuläre Sprecher-Bedeutung realistischer Weise nur dann eine Chance auf
Etablierung, wenn sie wenigstens zum Teil mit der tradierten Bedeutung (oder
einer ihrer Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum) übereinstimmt. Wenn also keine
gewisse Kontinuität im Gebrauch besteht, keine Stabilität in der „Art der diachronischen Identität“ (Keller
2014: 132) gegeben ist, so ist die Chance, dass die reflexiven
Sprecher-Intentionen von anderen verstanden werden, recht gering – man verstößt
in diesem Fall geradezu prototypisch gegen eine der fundamentalsten
Handlungsmaximen:
„Rede so, dass du verstanden wirst.“
Diese Maxime
zielt auf einen Zustand der Homogenität in der Sprachverwendung, der nicht nur
die Möglichkeit einer flüssigen Kommunikation sicherstellt, sondern eine solche
Kommunikation überhaupt erst ermöglicht. Und weil Kommunikation nie eine
einseitige Sache ist, sondern immer eine dialogisch angelegte, lässt sich diese
Maxime in eine klassisch reziproke Kommunikationsstrategie übersetzen:
„Rede so, wie du denkst, dass der andere
reden würde, wenn er an deiner statt wäre.“ (Keller 2014: 137)
Diese Strategie
wirkt stabilisierend. Und wird zum Beispiel als Anpassungsstrategie eingesetzt,
um seine Gruppenzugehörigkeit zu dokumentieren und zu zementieren:
„Rede so wie die anderen.“ (Keller 2014:
138)
Sie ist nicht
nur bei Straßengangs oder Fußballfans beliebt, sondern auch bei ausgewiesenen
und vermeintlichen Kunstexperten, wenn sie mal wieder in ihren arttypischen
Art-Talk verfallen – Keller nennt sie „statische
Maximen“ (Keller 2014: 139). Demgegenüber gibt es jedoch widerstrebende,
destabilisierende Sprach- und Verhaltensmuster
– Keller nennt sie „dynamische Maximen“
(Keller 2014: 139). Eine solche ist zum Beispiel:
„Rede so, dass du beachtest wirst.“ (Keller 2014:
139)
Befolge ich
diese Maxime, will ich originell und innovativ sein. Diese Strategie darf ich aber
nicht überstrapazieren. Denn wenn ich zu originell, zu innovativ werde, also zu
wenig Rücksicht auf einen Minimalkonsens in puncto Verständlichkeit nehme,
gefährde ich eben diese – und damit den Erfolg meiner Absichten: „Jede Innovation riskiert das Verständnis“
(Keller 2014: 140). Wenn ich nun „auffallen,
aber doch verstanden werden“ will (Keller 2014: 141), muss ich beide Typen
von Maximen, statische wie auch dynamische, gleichzeitig befolgen. Und einen Kompromiss
finden, der beiden gerecht wird – schließlich lautet „die Hypermaxime unseres Kommunizierens“ (Keller 2014: 142):
„Rede so, dass du die Ziele, die du mit
deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.“ (Keller 2014:
142)
‚Verstehen’
heißt im Kontext der Grice‘schen Theorie, „alle
[offenen] Intentionen des Sprechers erkennen“ (Keller 2014: 133). ‚Nicht
verstehen’ bedeutet, „nicht alle offenen
Intentionen erkennen“ (Keller 2014: 133). Und ‚missverstehen’, dass “dem Sprecher Intentionen unterstellt
(werden), die dieser nicht gehabt hat“ (Keller 2014: 133). Nun ist es aber
so, dass wir durchaus nicht alle „Intentionen,
die wir beim Kommunizieren verfolgen, (auch) kommunizieren“ (Keller 2014:
134). Ja, manchmal beabsichtigen wir sogar geradezu, dass unsere Absicht, „auf die es beim Vollzug einer Äußerung
besonders ankommt“ (Keller 2014: 135), gerade nicht erkannt resp.
verstanden werden. Was in der Konsequenz allerdings bedeutet, dass, im
Gegensatz zum landläufigen Verständnis, Verständigung gerade „nicht ‚der Zweck’ der Sprache“ ist – „allenfalls einer unter vielen“ (Keller
2014: 135). Es kann andere, vorrangige Ziele einer Kommunikation geben. So zum
Beispiel, andere von mir zu begeistern, eine gelungene Verständigung nur
vorzugaukeln, jemanden zu täuschen, einzuschüchtern, mir gewogen zu machen oder
auch schlicht für ein ‚very stable genius’ gehalten zu werden. Letzteres ist
ein beliebtes Ziel des amtierenden amerikanischen Präsidenten, in moderater
Form kommt es aber durchaus auch in der breiten Bevölkerung vor. Und selbst bei
ausgewiesenen Kunstexperten soll ein solches Verhaltensmuster, so hört man, schon
dann und wann aufgetreten sein.
3. Ein historischer Abriss
3.1 kunst und techné
Worüber reden
wir, wenn wir über Kunst reden? Wir reden zunächst einmal über ein Können. Denn
in der Tat ist das althochdeutsche ‚kunst’ ein Verbalabstraktum zu ‚können’ und
bedeutete ursprünglich ‚Wissen, Verstehen’. Es ist eine Lehnbedeutung, die sich
aus der Übersetzung des lateinischen ars
und griechischen techné herleitet.
Letzteres bezeichnete einst das handwerkliche Können, erweiterte seinen
Bedeutungshorizont aber schon in der Frühzeit der griechischen Antike auf alle
Arten von Tätigkeiten. Damit verbunden war die Vorstellung eines praktischen
Wissens, das ein planvolles und intentionales Handeln ermöglichte und als
endlicher Prozess auf ein Ziel, télos,
ein Werk, ergon, ausgerichtet war – in
dieser artefaktischen Konzeption prägt techné
als Gegensatz zur physis unsere abendländische
Denkstruktur bis heute: in Form der Dichotomie von künstlich vs. natürlich.
Umfasste techné nun einerseits von der
Leichenbestattung bis zur Dichtung alle möglichen Tätigkeiten, so
differenzierte man andererseits die verschiedenen Tätigkeiten nach ihrem sozialen
Status. Niedere Künste, also solche, die Schmiede, Köche oder eben Leichenbestatter
ausübten, wurden von den höheren Künsten unterschieden, denen Redner, Dichter
oder Musiker nachgingen. Hatte für die Sophisten die Kunst der Rede, also die
Strukturierung von Wissen und dessen Weitergabe, den höchsten Stellenwert, so
näherte sich die techné bei Platon unserem heutigen Begriff der Wissenschaft an:
Für ihn stand nicht das bloße handwerkliche Können im Zentrum – er betonte so
sehr die epistéme, das Wissen um die Objekte
der jeweiligen techné, sowie das
Wissen um die mit den Tätigkeiten verbundenen Zielen und Zwecke, dass epistéme und techné für ihn fast zu Synonymen wurden.
Aristoteles sah
demgegenüber in der „schöpferischen
Tätigkeit, die sich in der Kunst darstellt“ (Windelband/Heimsoeth 1976:
131), die „praktische Vernunftbetätigung“,
zu der er das Handeln, praxis, sowie
das Schaffen, poiesis, zählte. Dabei
verstand er die techné eher als
praktisches, zweckgerichtetes, anwendungsbezogenes Können und trennte sie deutlich
von dem methodischen, theoretischen Wissen, der epistéme – darin zeichnete sich bereits die neuzeitliche Trennung
von Kunst und Technik wie auch von Kunst und Wissenschaft ab. Für Aristoteles ist „Kunst (…) nachahmende Erzeugung“, ihr Zweck „ist ein ethischer“ (Windelband/Heimsoeth 1976: 131) – sie dient der
Reinigung der Seele, der katharsis18:
„Die Erziehung hat den Menschen aus seinem rohen Naturzustande mit Hilfe der
edlen Künste zu sittlicher und intellektueller Bildung heranzuführen“
(Windelband/Heimsoeth 1976: 130).
3.2 Künste über
Künste
Sokrates’
philosophische Methode wurde ‚Hebammenkunst‘ genannt. Die Sophisten übten sich in
der Kunst der freien Rede. Für Platon waren Kunst und Wissen, epistéme und techné, praktisch austauschbare Begriffe. septem artes liberales, die Sieben Freien Künste, bildeten
in der Antike den wissenschaftlichen Kanon: Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik,
Astronomie. Wobei die freie
Kunst von damals nicht die freie Kunst von heute war – sie beschrieb Fähigkeiten
und Fertigkeiten, die nur dem freien Mann zugestanden wurden, nicht aber dem
Sklaven. Kunst war Baukunst, Heilkunst, Kochkunst, bisweilen sogar Schwarze
Kunst. Casanova beherrschte gleich zwei Künste – die Kunst des Lebens und,
natürlich, die der Verführung. Kunst war, noch bis Kant, auch das Handwerk, das
heute bestenfalls noch Kunsthandwerk ist. Kunst war nachahmende Erzeugung. Gegenpol
zur Natur, künstlich vs. natürlich. Kunst ist: angewandte, schöne, bildende,
darstellende, freie Kunst. Musik gehört, wie auch Tanz, Theater und Film als
darstellende Künste, zu den schönen Künsten – aber studieren kann man sie nicht
an einer Kunstakademie. Da wird nur Malerei, Grafik, Bildhauerei, Fotografie
oder Video gelehrt. Auch der Kunsthistoriker beschäftigt sich eher selten mit
Musik oder Dichtung. Und ein Kunstmuseum muss sich heute immer noch erklären,
wenn dort Tanz oder Theater aufgeführt wird. Kunst ist oftmals Konzept, von
manueller Fertigung und technischer Fertigkeit entkoppelt. Produkt des modernen emanzipierten,
autonomen Subjekts. Resultat kreativer Prozesse. Oder der Prozess selber. Kunst wird
aber auch genannt, was in vormythologischer Zeit des Jungpaläolithikums vor ca. 20.000 bis 40.000 Jahren der
anatomisch moderne Mensch geschaffen
hat. Um nur einige wenige Beispiele der üblichen (oder ehemals üblichen)
Gebrauchsweisen des Begriffs ‚Kunst’ zu nennen.
Diese Vielfalt
der Gebrauchsweisen und seine Zuschreibung auf inkohärente Phänomene macht
deutlich, dass vielleicht das Zeichen gleich blieb, mit ihm über die Jahrhunderte kaum
Gleiches gemeint sein konnte. Die ‚diachronische Identität’19 (Keller), also das
gewisse Mindestmaß an Kontinuität im Gebrauch eines durch ‚soziale
Kristallisation’ (de Saussure)
entstandenen Äußerungstyps, sichert über einen bestimmten Zeitraum ein
generationenübergreifendes Verständnis. Aber besitzt die etablierte Bedeutung
(die regelhafte Gebrauchsweise), die der Äußerungstyp als Episode zu einem
bestimmten Zeitpunkt in dem jeweiligen diachronen Kontinuum hatte, sei es in
der Antike, der Renaissance oder der Aufklärung, eine signifikante Schnittmenge
mit den Bedeutungsvarianten heutiger Prägung? Es hat sich hier kaum eine Art
Durchschnitt herausgebildet, alle reproduzieren nicht einmal annähernd dieselben
Vorstellungen bei denselben Zeichen – um an dieser Stelle einmal de Saussure zu
paraphrasieren20.
Dabei ist mit
dieser beschriebenen Vielfalt noch nicht mal ansatzweise die faktische Vielfalt
der uns völlig unbekannten singulären Sprecher-Intentionen erfasst, der
Ideolekt-Bedeutungen, der gruppenspezifisch etablierten Bedeutungen bis hin zu
der Vielfalt der konventionellen Bedeutungen, von denen die Menschen über die Jahrhunderte
insbesondere im alltäglichen Gebrauch der Sprache (welche schließlich die
häufigste Form der Sprachverwendung ist – nur spricht man von ihr am
seltensten) im Rahmen ihrer individuellen Äußerungen Gebrauch gemacht haben.
Diese
beschriebene Vielfalt erfasst nur die Gebrauchsweisen derjenigen, von denen die
Geschichtsschreibung für gewöhnlich berichtet. Also die der Geistesgrößen des
antiken Griechenlands. Der römischen Philosophen und Dichter. Der großen Namen
des Mittelalters, der Renaissance, der Aufklärung, Neuzeit und Moderne. Aber
nicht der zahllosen
ungenannten Zuschauer der griechischen oder römischen Tragödien und Komödien.
Der begeisterten Zuhörer der Trobadore und Minnesänger. Der aufmerksamen
Leser literarischer Werke. Der völlig hingerissenen Betrachter der Bilder,
Skulpturen, der Videoarbeiten, Installationen und Performance. Also die große
Masse derer, die als singuläre Personen gänzlich unbewusst ihren ungeplanten,
ungezielten, nicht intentionalen, aber entscheidenden Beitrag zur kollektiven
Bedeutungskonstitution des Begriffs ‚Kunst‘ innerhalb einer bestimmten Episode
im diachronen Zeitkontinuum beigetragen haben.
3.3 Funktion des
Theaters
Diente das
Theater im antiken Griechenland zunächst rein kultischen Zwecken, so übernahm
es später eine wichtige Funktion bei der Entwicklung der pólis, der attischen Demokratie und ihres Selbstverständnisses: Es
war das Theater der freien Bürger, das sogar den Frauen offenstand. Dessen
Besuch war nicht allein demokratisches Recht, es war geradezu religiös-moralische
Pflicht, ge- und erlebte politische Partizipation. Der Handlungsverlauf der
Aufführungen war weitgehend reglementiert, die Dichter bezogen sich in ihren
Stücken auf Themen, Handlungen, Personen, Götter und Strukturen, die bei den
Zuschauern als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Eine Deutung der derart
etablierten Gebrauchsweisen musste also nicht dem Gesagten gelten, sondern
bestenfalls dem Mitgesagten, Implizierten.
Der Dichter,
obgleich als Autor hoch geehrt, allen bekannt und von der pólis oftmals sogar bezahlt, trat hier nicht als emanzipiertes,
autonomes biographisches Individuum in Erscheinung, dessen Stücke des Verständnisses
der singulären, quasi erstinstanzlichen Sprecher- oder Autor-Intentionen oder des
künstlerischen Ideolekts bedurft hätten. Denn der Dichter war nur insofern Individuum,
als er Teil des gesellschaftlichen Systems war. Gebunden an Strukturen, Rituale
und Regeln, an Konventionen, Kanonisierungen
und Kodifizierungen besaß er weder die Freiheit „in ihrem negativen Sinne als ‚Freiheit von etwas‘“ noch „in ihrem positiven Sinne als ‚Freiheit zu
etwas‘“ (Fromm 2016: 30). Und damit besaß er auch „nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu
realisieren“21 (Fromm 2016: 31).
Rom übernahm die
wesentlichen Formen und Strukturen des griechischen Theaters und baute sie zu
einem massenwirksamen Instrument der Unterhaltung aus, die der politischen
Machtrepräsentation diente: das Theater als antikes Phänomen staatstragender
und damit den Staat stabilisierender Populärkultur. Mit der formalen
Etablierung des Christentums als Staatsreligion 380 n.Chr22. durch
das Dreikaiseredikt cunctos populos,
spätestens aber mit dem Untergang des Weströmischen Reiches, ging im Westen
auch eine Kultur unter, in der die Kunst eine staatstragende Funktion besaß und
ein Spektakel für die Massen, also eine öffentliche Angelegenheit war –
öffentlich zumindest für die ‚freien Bürger‘. Die christliche Lehre lehnte das
spätrömische Theaterkonzept mit seinem Verständnis von
Öffentlichkeit und öffentlichen Vergnügungen, das auch die Vorführung der Autoritäten
beinhaltete, rundweg ab. So kam es, dass die Bühne durch kirchliche
Theaterverbote über das Mittelalter hinaus weitgehend aus dem öffentlichen Leben
verbannt wurde – Verbote, die zum Teil noch bis ins 18. Jahrhundert aufrecht
erhalten wurden. Zudem begriff sich das (weströmische) Christentum in
platonischer Tradition als eine Religion des logos, nicht des eikón,
des Wortes, nicht des Bildes. Es sollte geschrieben und gesagt, nicht aber
gezeigt werden. Ideale Voraussetzungen also für den Anspruch des Klerus auf
Deutungs- und Tradierungshoheit, der seinerzeit, wie praktisch, die einzige geschlossene Bevölkerungsgruppe darstellte, die lesen und schreiben konnte. So wurde nur das
weitergegeben, was in seinem Interesse war.
Parallel dazu
verlief die Entwertung des Individuums als Schöpfer der Werke: Sie endete im
Mittelalter in dessen Anonymität. Der Autor starb, in Gottes Gnaden, einen
leisen Tod23. Sein Name wurde kaum noch genannt, bekannt oder tradiert,
Signaturen der Werke verschwanden fast völlig. Der Staat fiel sowohl als Auftrag
gebende Instanz als auch als Zweckbestimmung aus. An seine Stelle trat die
Kirche. Und mit ihr wandelte sich die Zielrichtung künstlerischen Schaffens:
Die Werke hatten nun im Wesentlichen der Verherrlichung der Schöpfung Gottes zu
dienen, die den profanen Schöpfern dieser Werke keinen Platz mehr ließ. Sie
wurden aus dem tradierten Bewusstsein eliminiert. Eine Deutung der Bedeutung ihrer
Werke erübrigte sich, waren diese doch als Werke un-bedeutend: Der Klerus als Auftraggeber
und zumeist alleiniger Betrachter (resp. Leser) kanonisierte die Aussagen der
künstlerischen Werke, setzte die Bedeutung des Gezeigten – und setzte damit der
Bedeutung klare Grenzen.
Der Adel als
Auftraggeber trat erst ab dem 12. und 13. Jahrhundert nennenswert
in Erscheinung, insbesondere in der französischen und französisch inspirierten
Hofkultur. Die höfisch-okzitanische Trobador-Lyrik, und in ihrem Gefolge
der Minnesang, gelangte dabei zur höchsten Blüte. Es fanden nun auch andere
Themen neben der Verherrlichung der Schöpfung Eingang in die Literatur. So die Poetisierung
von sippe und minne, die Ideale der Ritterlichkeit mit ihrer
strengen geschlechtsspezifischen Kodifizierung, der Gedanke des Tugendadels,
der auch Nichtadligen eine adlige, ritterliche und damit moralisch edle
Gesinnung zusprach. Dabei wurde die intensive Beschäftigung mit dieser
Literatur oberste höfische Pflicht, ja: moralischer Auftrag.
Aber: Es blieb
in weiten Teilen ein höfisches Spektakel, das Volk hatte nur sporadischen
Anteil am offiziellen Geschehen. Die Masse ging, anders als im antiken Hellas
und Rom, wieder in der Masse unter, von und zu ihr sprach man nicht. Und auch für die
Autoren galt das, was Bertolt Brecht in den ‚Fragen eines lesenden Arbeiters‘ evozierte:
„Wer baute das siebentorige Theben? In
den Büchern stehen die Namen von Königen.“ Aber nicht die Namen derjenigen,
die die Felsbrocken schleppten. So bleibt der
Nibelungenlied-Dichter ungenannt, seine literarische Verantwortlichkeit gegenüber
dem mündlich tradierten Erzählstoff war nach damaligen Verständnis obsolet. Generell
gibt
nur sehr wenige biographische, außerliterarische Spuren. Kaum einer der
volkssprachigen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts ist greifbar, sei er auch noch so namhaft: Gottfried von Straßburg, Heinrich
von Veldeke, Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue, Walther von der
Vogelweide – in zeitgenössischen Berichten oder urkundlichen Aufzeichnungen
sucht man Hinweise auf sie zumeist vergebens.
3.4 Anzeichen
des Wandels
Quell der mittelalterlichen Liebesdichtung war die unerfüllte Liebe zu einer als Ideal verehrten Frauenfigur, deren
wahre Identität von den Dichtern kunstvoll zu verschleiern war. In dieser
Tradition stand mit einem Bein Dante Aligheri, dessen Beatrice sein
Leben bestimmten sollte, ebenso noch wie
nach ihm Francesco Petrarca, der seine Laura
hymnisch preiste. Mit dem anderen Bein aber standen beide bereits an der
Schwelle zu einem neuen Zeitalter: der Renaissance und des Humanismus. Dante,
der mit seiner Dichtung ‚Divina Commedia‘ das Italienische zu einer
Literatursprache entwickelte, und mehr noch Petrarca befreiten sich von den
Fesseln der mittelalterlichen Ordnung mit ihren strengen Regeln, Zwängen und
Konventionen. Dabei war es insbesondere Petrarca, der eine neue Komponente in
der Literatur etablierte: die radikale Subjektivität. Die Besteigung des Mont Ventoux 1336, gemeinsam mit seinem Bruder, stellte
für ihn ein Erweckungserlebnis dar, das sein Leben grundlegend verändern
sollte: Beim Blick von diesem unwirtlich kahlen Gipfel auf die blühende
Landschaft der Provence erlebte er die Welt in ihrer ganzen Diesseitigkeit. Von
nun an war sie ihm nicht mehr beschwerliche Durchgangsstation, ein Leben zum
Tod. Von nun an besaß sie für ihn einen eigenen Wert.
Petrarcas veränderte Sichtweise war Ausdruck einer tiefgreifenden
gesellschaftlichen Veränderung, die vor allem von den oberitalienischen
Stadtrepubliken mit ihren reichen Handelshäusern ausging. Hier entwickelte sich
ab dem 14. Jahrhundert ein selbstbewusstes Bürgertum, das sich zunehmend seiner
tragenden Rolle in der Feudalgesellschaft bewusst wurde. Die tradierten Sozialstrukturen
brachen auf, der Geldadel machte seinen Anspruch gegenüber Adel und Klerus geltend.
In Zuge des Zivilisationsprozesses von der höfischen Gesellschaft hin zur modernen
Leistungsgesellschaft wandelten sich mit den
Sozialstrukturen auch die Persönlichkeitsstrukturen
der am Prozess Beteiligten, insbesondere die des Bürgertums – und mit ihnen
auch deren Sichtweise, Präferenzen und Prioritäten. Als Ausdruck seines erwachenden
Selbstbewusstseins eiferte das Bürgertum Adel und Klerus nach, stellte seine
ökonomische Macht prunkvoll zur Schau. Dabei waren Inhalte, Themen und Sujets
künstlerischer Produktion nicht mehr nur religiöser Natur, sie erwuchsen mehr
und mehr der profanen Lebenswelt.
Diese Änderung der Persönlichkeitsstrukturen machte auch vor den
Künstlern nicht halt. Jetzt, wo sie nicht mehr auf Gedeih und Verderb an kirchliche
und adlige Auftraggeber und damit an deren Kanon und Konventionen, an die
Darstellung von Glaubensinhalten und die Verherrlichung fürstlicher Macht,
gebunden waren, begannen sie sich zunehmend als selbstständig Handelnde zu
begreifen. Als selbstbewusste Subjekte des Geschehens und autonome, eigenverantwortliche
Individuen, die ein Leben vor dem Tod hatten. Die eigene Biographien besaßen,
die es wert waren, in das Werk Eingang und in individueller, unverwechselbarer
Handschrift Ausdruck zu finden.
Ihren
literarischen Reflex erlebte die Entwicklung mit dem Aufkommen der
Künstlerbiographien. Bis dahin wurden allein Herrscher, Feldherrn, Philosophen
und Heilige mit Biographien heroisch gewürdigt, alle anderen waren Bürger
zweiter Klasse, bestenfalls eine historische Randnotiz. Aber nun, Mitte des 16. Jahrhunderts, wurden erstmals auch Künstler einer
solchen Biographie für würdig befunden, wurden sie aus der breiten Masse
hervorgehoben, wurden relevant und für ein breiteres Publikum interessant. So erschien
1550 Giorgio Vasaris Werk Le Vite de’ più eccellenti pittori scultori ed
architettori. Giulio Mancini beendete 1619 seine Considerazioni sulla
pittura. Und 1672 veröffentlichte Giovanni Pietro Bellori sein Buch Le
vite de’ pittori, scultori e architetti moderni.
3.5 Der Weg zur
Moderne
In dem Moment, als
sich der Künstler zusehends als autonomes Subjekt emanzipierte, begann er eine
eigene, individuelle Bildsprache zu entwickeln, die nicht mehr hauptsachlich
auf etablierte Bedeutungen rekurrierte. Sie brachte erstmals eine singuläre
Künstler-Intention zum Ausdruck, eine eigenständige Künstler-Bedeutung, die
sich vom Betrachter, Leser, Zuschauer nicht durch Rückgriff auf gelernte, konventionelle
Gebrauchsweisen der Bildsprache erschließen ließ. Somit war für die Betrachter erstmals
die Herleitung der Bedeutung des künstlerischen Ausdrucks aus der individuellen
Intention erforderlich und, im weiteren Verlauf, das Verständnis des jeweiligen
künstlerischen Ideolekts24.
Das Verständnis
der Werke durch die Betrachter, Leser, Zuschauer war damit nicht mehr umfassend
und ohne Weiteres gesichert. Es galt die individuellen Ausdrucksweisen, diese
singulären Intentionen, die sich uns heute im Rahmen hochkomplexer
individueller Bildsprachen vermitteln, zu interpretieren, um sie verstehen zu
können. Eine Entwicklung, die ab dem 17. Jahrhundert ausgehend von Frankreich à
la longue zur Etablierung eines völlig neuen, zuvor nie dagewesenen, weil bis
dato nie benötigten Teilnehmers am Rezeptionsprozess führte: dem des
Kunstkritikers.
Kunst wurde nunmehr
zu einer autonomen Sphäre und Denkrichtung. Ein Phänomen, das es, wie der
französische Philosoph Jacques Rancière 2013 in einem Gespräch25
mit Stephan Karkowsky im Deutschlandfunk betonte, in dieser Form erst seit dem
18. Jahrhundert gibt. Zuvor hatte die Kunst „noch
nicht dieses Allgemeingültige, was sie heute hat“. Damals hatte sie „einfach einen Zweck zu erfüllen, sie
musste zum Beispiel glorifizieren, (…)
Prinzen darstellen oder Städte glorifizieren, oder eine soziale Funktion
ausführen, oder aber die Ideologie illustrieren und auch wiederum feiern“. Ab Mitte des
18. Jahrhunderts änderte sich „diese Art, überhaupt uns mit Kunst
auseinanderzusetzen als Begriff und auch als Erfahrung“. Seit diesem
Zeitpunkt hatte die Kunst eine
radikal andere Aufgabe, „als einfach nur
schöne Dinge abzubilden. (…) Da ging es einfach um mehr, als nur etwas zu
machen, abzubilden, darzustellen“.
Unsere
Wahrnehmung, unser Verständnis und unsere Interpretation hat sich seitdem
grundlegend verändert. Für Rancière muss deshalb „dieser Kunstbegriff, den wir jetzt haben, und der Anfang des 20.
Jahrhunderts radikal neu gedacht worden ist“, muss einfach alles auf den Prüfstand: Wir müssen „über das Konzept der Modernität in der Kunst noch einmal neu
nachdenken. All das, was in den 1940er-Jahren auch mit der Frankfurter Schule
beispielsweise entstanden ist, die Art, wie man Kunstgeschichte aufgefasst hat,
(…) all das muss neu überdacht werden,
und es muss eine neue Form des Denkens eingeführt werden“.
Ihm geht es „darum, die Dinge in die Kunst wieder zu rücken, die ursprünglich gar nicht zur Kunst gehört haben oder als eine so Art minderwertige Kunst galten wie zum Beispiel die Fotografie oder das Entstehen des Kinos, aber eben auch einfach nur populäre Unterhaltung, beispielsweise in den Music Halls.“ Es sind für ihn „diese einmaligen Ereignisse, die es damals gab, also diese speziellen Momente, die letztendlich dazu geführt haben, dass man die Definition von Kunst neu geschrieben hat, (…) diese Momente, wo etwas zu Kunst geworden ist, was man eigentlich im klassischen Sinne nicht als Kunst bezeichnet hat“, wie etwas, „was in einer gewissen Form als Kunst empfunden wurde, neu definiert worden ist, neu benannt worden ist“.
Das Phänomen des Bedeutungswandels hat es, wie beschrieben, immer gegeben. Er wird, vom Einzelnen unbemerkt, als kollektives Resultat im Rahmen des Prozesses der unsichtbaren Hand so lange ablaufen, wie es kommunizierende Menschen gibt. Und dieser stete Prozess des Bedeutungswandels (und parallel dazu der des Wandels des Verständnisses von ‚Kunst‘), der ja einer des Wandels der Gebrauchsweisen der Begriffe ist, wird sich auch von dem seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert vorherrschenden christlich-abendländischen Dogma und seiner damit verbundenen Tradierung eines kanonisierten Kunstverständnisses (und entsprechenden Bedeutungssetzung) nicht davon abgehalten haben, so abzulaufen, wie er immer abläuft. Wenn auch, aufgrund fehlender schriftlicher Zeugnisse, von uns weitgehend unerschlossen. So wissen wir nur wenig darüber, wie die Menschen über die Werke der Vagantendichter des 11. und 12. Jahrhunderts mit ihrer das Leben der einfachen Leute thematisierenden, aber zumeist lateinisch verfassten Lyrik dachten. Wie in der Bevölkerung über die religiösen Legenden (lat. legenda, das Vorzulesende) gesprochen wurde, über die Volksdichtung, die Märchen und Sagen. Ob in späteren Jahrhunderten die Bänkel- und Moritatensänger für die Zuhörer einen künstlerische Stellenwert besaßen oder nicht – auch das wissen wir nicht.
Ihm geht es „darum, die Dinge in die Kunst wieder zu rücken, die ursprünglich gar nicht zur Kunst gehört haben oder als eine so Art minderwertige Kunst galten wie zum Beispiel die Fotografie oder das Entstehen des Kinos, aber eben auch einfach nur populäre Unterhaltung, beispielsweise in den Music Halls.“ Es sind für ihn „diese einmaligen Ereignisse, die es damals gab, also diese speziellen Momente, die letztendlich dazu geführt haben, dass man die Definition von Kunst neu geschrieben hat, (…) diese Momente, wo etwas zu Kunst geworden ist, was man eigentlich im klassischen Sinne nicht als Kunst bezeichnet hat“, wie etwas, „was in einer gewissen Form als Kunst empfunden wurde, neu definiert worden ist, neu benannt worden ist“.
Das Phänomen des Bedeutungswandels hat es, wie beschrieben, immer gegeben. Er wird, vom Einzelnen unbemerkt, als kollektives Resultat im Rahmen des Prozesses der unsichtbaren Hand so lange ablaufen, wie es kommunizierende Menschen gibt. Und dieser stete Prozess des Bedeutungswandels (und parallel dazu der des Wandels des Verständnisses von ‚Kunst‘), der ja einer des Wandels der Gebrauchsweisen der Begriffe ist, wird sich auch von dem seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert vorherrschenden christlich-abendländischen Dogma und seiner damit verbundenen Tradierung eines kanonisierten Kunstverständnisses (und entsprechenden Bedeutungssetzung) nicht davon abgehalten haben, so abzulaufen, wie er immer abläuft. Wenn auch, aufgrund fehlender schriftlicher Zeugnisse, von uns weitgehend unerschlossen. So wissen wir nur wenig darüber, wie die Menschen über die Werke der Vagantendichter des 11. und 12. Jahrhunderts mit ihrer das Leben der einfachen Leute thematisierenden, aber zumeist lateinisch verfassten Lyrik dachten. Wie in der Bevölkerung über die religiösen Legenden (lat. legenda, das Vorzulesende) gesprochen wurde, über die Volksdichtung, die Märchen und Sagen. Ob in späteren Jahrhunderten die Bänkel- und Moritatensänger für die Zuhörer einen künstlerische Stellenwert besaßen oder nicht – auch das wissen wir nicht.
Was wir aber wissen
ist: Ob ein Werk als ein Kunst-Werk attribuiert wird, ist keine Frage der
Zuschreibung Einzelner, auch nicht der Kunstexperten oder Kunst- und Kulturschaffenden.
Es liegt eben nicht im Auge des Betrachters (auch wenn es der eine oder andere
Kunstbeflissene vielleicht gerne hätte), sondern es ist das kollektive kausale,
nicht geplante und nicht intentionale Resultat unzählig gleichgerichteter
Handlungen Einzelner, ihrer Meinungsäußerungen, kommunizierter Betrachtungen,
Erlebnisse, Eindrücke, die alles mögliche zum Ziel haben und intendieren
können, nur nicht, ein Werk als Kunst-Werk zu apostrophieren (analog ist auch die
Bedeutung des Begriffs ‚Kunst‘ ein solch kollektives Resultat individueller
Handlungen).
3.6 Möglichkeiten
des Verstehens
Das Problem des
Verstehens von Bedeutungen künstlerischer Äußerungen ist eines, dass die Frage
nach der Übereinstimmung von Verständnishorizonten berührt. Wenn in einem
Prozess sozialer Kristallisation im Rahmen einer gesellschaftlichen Gruppe (wie
umfangreich diese auch immer nun sein mag) ein gemeinsames konjunktives Denken
und Wissen etabliert wird, so besteht die Hoffnung, dass die an dem Prozess
Beteiligten zu einem bestimmten Zeitpunkt x (eine beliebige Episode im Zeitkontinuum,
zum Beispiel der Zeitpunkt einer Aufführung der ‚Vögel‘ von Aristophanes im
antiken Griechenland) über eine solche Schnittmenge der Bedeutungen verfügen, so
dass auch ohne den reflexiven Rekurs auf eine singuläre künstlerische Intention
ein problemloses Verständnis resp. eine flüssige Kommunikation darüber möglich ist.
Alle Zuschauer,
Zuhörer, Betrachter oder Leser, die an diesem Prozess der Etablierung nicht
teilgenommen haben, haben es selbstredend deutlich schwerer. Denn da sie nicht
daran Teil hatten, sind sie nicht Teil dessen. Und verfügen deshalb auch nicht
über die entsprechenden Vorbedingungen, die ihnen ein intuitives, problemloses (genauer
gesagt: unterstellt problemloses) Verständnis ermöglichen würden: Die
Schnittmenge der Vorbedingungen, die sich ansonsten durch eine Teilhabe an
diesem Prozess der unsichtbaren Hand einstellen würde, tendiert bei ihnen gegen
Null. In diesem Fall, und das ist die Regel, da nur die wenigsten Menschen auf
der synchronen Zeitachse an dem Prozess teilgenommen haben und natürlich noch niemand
aus der zukünftigen diachronen Zeitachse daran teilnehmen konnte, ist ein halbwegs
angemessenes Verständnis der künstlerischen Werke26 erst durch einen
nachträglichen hermeneutischen Prozess möglich. Wobei dies einen Prozess der
Interpolation darstellt, der fortwährenden, niemals zu einem Ende kommenden und
niemals ihr Ziel erreichenden Annäherung.
Dieses Problem
ist auf der synchronen Zeitachse alltäglich. Es zeigt sich immer da, wo zwei
Gruppen (wie groß sie auch immer sein mögen) aufeinandertreffen, deren
beteiligte Individuen nicht einen gemeinsamen Prozess der sozialen
Kristallisation durchlaufen haben27 – ein Problem, das heute angesichts
der unsäglichen Debatte um
Verteilungsquoten von Flüchtlingen brandaktuell ist. Aber auch im Kontext der
Kunst ist dieses Problem, wenngleich nicht ansatzweise so dramatisch, so doch
strukturell gegeben: Wie wollen wir zum Beispiel die Kunst der Aborigines
verstehen, wenn wir den Prozess der kausalen kollektiven, nicht intendierten
und nicht geplanten Konstitution ihrer Kultur, ihres Kunstverständnisses und
ihrer Bedeutung des Begriffs ‚Kunst‘ nicht durch unsere individuelle intentionale
Teilhabe mitgemacht, mitgetragen und mitverantwortet haben? Analog finden wir
auch auf der diachronen Zeitachse dieses Problem: Unsere ‚diachronische
Identität‘ mit dem antiken Griechenland mag erhofft, behauptet, schlicht
unterstellt oder stillschweigend vorausgesetzt werden. Gegeben ist sie nicht.
Wir können, da
wir aus nachvollziehbaren Gründen nicht am Konstitutionsprozess dieser Kultur,
dieses Verständnisses von Kunst und der Bedeutungskonstitution des Begriff ‚Kunst‘
(resp. techné und ars) teilhatten, nur spekulieren, was mit den damals etablierten
Bedeutungen gemeint sein könnte (vom Verständnis etwaiger singulärer Künstler-Intentionen
ganz zu schweigen). Können nur interpolieren, uns dem Verständnis
annähern, können uns aber niemals des Angemessenheit unseres Ergebnisses sicher
sein: Wen sollten wir in einem dialogischen Prozess befragen können, ob unsere
Interpretation angemessen ist?
Jeder Sprecher einer
singulären Sprecher-Intention, eines Ideolekts, einer gruppenspezifischen und hernach
vielleicht etablierten oder konventionellen Bedeutung, der
darüber beredt Auskunft geben könnte, weilt längst nicht mehr unter uns. Aber
selbst wenn er noch unter uns weilen würde, ist die Möglichkeit einer
dialogischen Verifizierung der vermuteten Sprecher-Intentionen oftmals nur eine
hypothetische. Und so läuft es in der Regel darauf hinaus, dass es sich bei den
hermeneutischen Auslegungen um eloquente Spekulationen handelt, die ein
Verstehen suggerieren, aber ‚Nicht-Verstehen’ bedeuten, weil die Interpreten „nicht alle offenen Intentionen erkennen“ (Keller
2014: 133). Oder sie stellen gar ein ‚Missverstehen’ dar, weil „dem Sprecher Intentionen unterstellt
(werden), die dieser nicht gehabt hat“ (Keller 2014:
133)28.
Verständnissichernd
ist allein die beschriebene Art des Verständnisdurchschnitts29 zwischen den
Individuen (gleichwohl sind auch in dieser sozialen Kristallisation dieselben
Zeichen nicht an exakt dieselben Vorstellungen geknüpft (zum Problem der
Stellvertretertheorie der Zeichen cf. Keller 2018: 79), so gibt es in der diachronischen
Identität der Bedeutungen nur bedingt einen Verständnisdurchschnitt, stellt sie sich
doch gewissermaßen als die diachrone Verlängerung des synchronen Durchschnitts
episodaler Ereignisse des permanent ablaufenden, potentiell unendlichen
Invisible-hand-Prozesses dar. Und eine Bedeutungsidentität, die die
Jahrhunderte überdauert, gibt es nur als reine Vermutung, die niemals
verifiziert werden kann.
3.7 Die Künste
im Wandel
Mit der
Renaissance begann Europas kultureller Aufbruch in die Moderne. Er erfasste nicht
alle künstlerischen Gewerke parallel und auch nicht gleichermaßen. Auch verlief
der Aufbruch alles andere als in makelloser Kontinuität. Es gab zahllose retardierende
Momente, ja sogar Regressionen, Rückfälle in überkommene Muster, die zudem von Kultur
zu Kultur unterschiedlich stark ausfielen.
Das Bürgertum erstarkte, wurde sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung und ökonomischen Macht bewusst: Mit Selbstbewusstsein beanspruchte es seine Position als dritte Kraft neben Adel und Klerus. Einen sichtbaren Ausdruck fand dieses Selbstbewusstsein darin, dass es neben dem Klerus und dem Adel eine immer größere Rolle bei der Auftragsvergabe künstlerischer Produktionen spielte. Nur fühlte sich das Bürgertum nicht sklavisch am vorherrschenden Kanon gebunden, nicht an die die hymnische Lobpreisung der Schöpfung Gottes, nicht an die der jeweiligen Monarchen. Dadurch erschloss sich für die Künstler eine nie zuvor gekannte Freiheit in der künstlerischen Themenwahl und Inszenierung.
Das Bürgertum erstarkte, wurde sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung und ökonomischen Macht bewusst: Mit Selbstbewusstsein beanspruchte es seine Position als dritte Kraft neben Adel und Klerus. Einen sichtbaren Ausdruck fand dieses Selbstbewusstsein darin, dass es neben dem Klerus und dem Adel eine immer größere Rolle bei der Auftragsvergabe künstlerischer Produktionen spielte. Nur fühlte sich das Bürgertum nicht sklavisch am vorherrschenden Kanon gebunden, nicht an die die hymnische Lobpreisung der Schöpfung Gottes, nicht an die der jeweiligen Monarchen. Dadurch erschloss sich für die Künstler eine nie zuvor gekannte Freiheit in der künstlerischen Themenwahl und Inszenierung.
Parallel dazu verstärkte sich in diesen Jahrhunderten die Hinwendung zur Diesseitigkeit,
die in der Reformation ihren ersten zeitgeschichtlich bedeutenden Höhepunkt fand.
Das eigenständige, selbstbewusste Ich erwachte. Und behauptete sich gegenüber
dem Ich, das allein durch die Gruppe, dem es zugehörte, seine Ich-Identität
erhielt. So wuchs dem Künstler neben der Freiheit von kanonisierten Inhalten
einerseits und Freiheit zur
eigenständigen, letztlich eigenverantwortlichen künstlerischen
Aussage andererseits das entscheidende Momentum zu: die Möglichkeit, diese
Freiheiten auch ausschöpfen zu können.
Die Erfindung
des Buchdrucks 1450 markierte in Europa symbolisch diesen Zeitpunkt. Denn diese
technische Revolution war vor allem eine Revolution der Konsequenzen, die sie
eröffnete. Hatte bereits zuvor in dem erstarkten Bürgertum erstmals seit der
Antike wieder ein nennenswerter Teil der Öffentlichkeit die Möglichkeit, aktiv an
der Rezeption künstlerischer Produkte teilzunehmen, so erweiterte sich die
Anzahl der Rezipienten, also der lesenden Öffentlichkeit, mit dem Buchdruck
explosionsartig. Die Verbreitung der Bücher war flächendeckend. Prinzipiell hatte
nun jeder, nicht nur die privilegierte Schicht des Klerus, Adels und einiger weniger
Gelehrter, Zugang zu Büchern. Und jeder, der des Lesens und Schreibens kundig
war, konnte nun lesen, wonach ihm der Sinn stand. Wann und wo es ihm beliebte.
Von nun waren
Literaten frei von Einschränkung und Kanonisierung (was natürlich sogleich die Gegenbewegung
auf den Plan rief – ist es bloß ein Zufall, dass die Zensur, lat. censura,
‚Prüfung, Begutachtung, Kritik‘, als Begriff parallel zur Verbreitung des
Buchdrucks ab dem 15. Jahrhundert ins Deutsche übernommen wurde?). Sie waren frei dazu, Bücher auf
eigenes Risiko zu schreiben, wie auch die ersten Verleger frei dazu waren, sie
auf eigenes Risiko zu veröffentlichen. Was allerdings auch gleich die fatale
Dialektik dieser Freiheit offenbarte: In dem Maße, wie sich das relativ stabile
und homogene soziale Konstrukt der Auftragskunst mit seiner determinierenden Fremdbestimmung
peu à peu auflöste, setzte sich ein System des selbstbestimmten Handelns durch,
das zum prägenden Momentum unserer heutigen Zeit geworden ist: die primäre
Orientierung an ökonomischen Faktoren – die Marktwirtschaftaft, das System des
freien Handels.
Die künstlerisch
Schaffenden gewannen auf Dauer in diesem Prozess der Entfesselung des ganzen
Potenzials ihrer künstlerische Freiheit, die wir heute kennen (und an deren
Resultaten wir heute unsere Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘ orientieren).
Aber diese Freiheit haben sie sich teuer erkauft30: Waren sie vorher zwar dem
Unbill eines klerikalen Patriarchen oder adligen Landesherrn ausgeliefert, so
kannten sie aber ihn und seinen Anforderungskanon aus dem Effeff. Und konnten
sich und ihre Produktion daran ausrichten. Nun jedoch waren sie, obschon frei,
völlig schutzlos dem Prinzip der anonym bleibenden unsichtbaren Hand
ausgeliefert – dem Grundgesetz des Marktes.
Kaum war in
Mainz der Buchdruck erfunden, erfand sich nur wenige Kilometer entfernt in
Frankfurt auch gleich die Buchmesse. In der Handelsmetropole erkannte man
schnell das ökonomische Potential der neuen Technologie. Innerhalb nur weniger
Jahrzehnte entstand und erblühte ein Verlagswesen, das die Stadt am Main zur
europäischen Buchhauptstadt machte. Gerade die Reformation mit ihrer auf
Diesseitigkeit und Betonung des Einzelnen ausgerichteten Konzeption belebten
das Geschäft. Dieses einträgliche, aber auch von Gott und Vaterland relativ
unabhängige und damit potentiell gefährliche Treiben rief die Kaiserliche
Bücherkommission auf den Plan, die sich als Hüterin des Katholizismus verstand.
Die Folge dieser reaktionär gegenreformatorischen Bewegung war, dass sich der
Verlagsbuchhandel, der seine
Geschäfte zunehmend bedroht sah, Richtung Leipzig orientierte. So verlor schließlich
Frankfurt Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts seine exklusive Stellung an
die sächsische Metropole.
Unterdessen
begannen die Künste der Bühnen eine noch breitere Öffentlichkeit für sich zu
begeistern. Und das fernab des Adels, des Klerus, ja auch fernab des
distinguierten Bürgertums. Die Bühnenkünste wie Theater, Singspiel oder Zirkus,
nahmen dabei ganz gezielt eine Bevölkerungsgruppe ins Visier, die bislang fast
völlig vernachlässigt worden war, weil sie, nach ständischen Gesichtspunkten,
am Rande der Gesellschaft
lebte: das einfache Volk. Der Preis, den diese Künste zu zahlen hatten, war,
dass sie im hochwohlgeborenen gebildeten Teil der Bevölkerung nicht einmal ansatzweise
den Stellenwert besaßen, den sie heute, gerade bei diesem, besitzen. So wurde
Shakespeares Globe Theatre auf der verruchten Bankside eröffnet, Londons damaligem Vergnügungszentrum. Ganz in der Nähe übrigens einer Arena für das überaus
beliebte ‚Bear Baiting‘, in der johlende Zuschauer Bulldoggen im ungleichen
Kampf gegen angekettete Bären anfeuerten.
Im yard, dem
Innenhof des Globe, vis-à-vis der Bühne, in greifbarer Nähe zu den
Schauspielern, befanden sich die billigen Plätze. Stehplätze unter freiem
Himmel für einen Penny, allen Witterungsbedingungen ausgesetzt (und das in
London). Kaum anzunehmen, dass da die Aufführungen immer einen gesitteten
Ablauf nahmen. Sie glichen wohl eher, schließlich befand man sich ja auf der
Bankside, wo die Zuschauer erwarten durften, für ihren hart erarbeiteten Lohn zünftige
Brot und Spiele geboten zu bekommen, einem veritablen Spektakel. Dem die
Puritaner mit ihrer fast sprichwörtlichen Lustlosigkeit aber bald schon den
Garaus machten: Sie schlossen 1642 alle Theater und Vergnügungsstätten. Nicht
auszudenken, Shakespeare hätte nicht 1564, sondern erst 1600 das Licht der Welt
erblickt. Seine Werke hätten vielleicht nie das Licht einer Bühne gesehen.
Beanspruchte die Französische Klassik im Absolutismus die Deutungshoheit darüber, was wie auf der Bühne zu zeigen, zu sehen und zu hören war – damit emanzipierte sich der Adel von der kirchlichen Autorität und ersetzte sie durch ihre eigene – so tobte sich, frei und ungebunden, fernab dieser streng reglementierten, ganz Europa dominierenden Vorstellung, eine vom aufstrebenden Bürgertum privatwirtschaftlich organisierte Gegenbewegung auf den Pariser Jahrmärkten aus. Hier ging es bunt durcheinander. Erlaubt war, was das Volk, die Bürger, unterhielt und wofür es bereit war, Geld auszugeben: Es gab keine Trennung zwischen Zirkus und Theater. Sprech- und Musiktheater gehörten zusammen, auch der Tanz hatte hier seinen Platz. Ob Parodien klassischer Tragödien, Marionettentheater, Pantomime, Vaudeville oder auch die Opéra-comique (bis ins 18. Jahrhundert verbot die Ständeklausel dem Bürgertum die Tragödie, die war allein dem Adel vorbehalten) – Paris‘ Jahrmärkte quollen schier über vor verschiedenartigsten künstlerischen Angeboten.
Beanspruchte die Französische Klassik im Absolutismus die Deutungshoheit darüber, was wie auf der Bühne zu zeigen, zu sehen und zu hören war – damit emanzipierte sich der Adel von der kirchlichen Autorität und ersetzte sie durch ihre eigene – so tobte sich, frei und ungebunden, fernab dieser streng reglementierten, ganz Europa dominierenden Vorstellung, eine vom aufstrebenden Bürgertum privatwirtschaftlich organisierte Gegenbewegung auf den Pariser Jahrmärkten aus. Hier ging es bunt durcheinander. Erlaubt war, was das Volk, die Bürger, unterhielt und wofür es bereit war, Geld auszugeben: Es gab keine Trennung zwischen Zirkus und Theater. Sprech- und Musiktheater gehörten zusammen, auch der Tanz hatte hier seinen Platz. Ob Parodien klassischer Tragödien, Marionettentheater, Pantomime, Vaudeville oder auch die Opéra-comique (bis ins 18. Jahrhundert verbot die Ständeklausel dem Bürgertum die Tragödie, die war allein dem Adel vorbehalten) – Paris‘ Jahrmärkte quollen schier über vor verschiedenartigsten künstlerischen Angeboten.
Bürgerbühnen im eigentlichen Sinne waren auch die deutsche Wanderbühnen, die sich seit dem 17. Jahrhundert als Antipoden zu den aristokratischen Hoftheatern entwickelten. Theater ohne festes Ensemble tourten mit Possen und Parodien höfischer Opern und Tragödien im Programm durchs Land. Immer vorausgesetzt, sie erhielten vom jeweiligen Landesherrn eine Aufführungserlaubnis. Hatten die Schauspieler dieser Bühnen eher den Ruf von Schaustellern, mehr fahrendes Volk denn respektable Künstler, so war man ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestrebt, die Schauspieler zu fördern und sie als Künstler zu etablieren. Eine Entwicklung, die dann in der Gründung der ersten Nationaltheater mit festen Ensembles mündete.
Burleske Inszenierungen und gesellschaftskritische Töne waren auch dem Musiktheater, das um 18. Jahrhundert noch nicht vom Sprechtheater getrennt war, durchaus nicht fremd. So darf es nicht verwundern, dass Mozarts Zauberflöte nicht etwa an der Wiener Hofoper Premiere feierte, sondern in Emanuel Schikaneders schlichtem bürgerlichen Freihaustheater – dabei weniger vom Adel bejubelt, sondern mehr von der einfachen Bevölkerung.
‚Kunst‘ wurde
wieder öffentlich im Sinne einer Öffentlichkeit, die nicht allein Klerus hieß,
Adel oder wohlhabendes Bürgertum. Zunehmend wurde auch in öffentlichen Medien
und im öffentlichen Raum diskutiert, insbesondere vom Bildungsbürgertum. Über
Künstler, künstlerische Werke und die Darstellungsformen, aber auch über die Gebrauchsweisen
des Begriffs ‚Kunst‘. Über das, was als ‚Kunst‘ etikettiert werden sollte. Über
Ästhetik, das Schöne und Wahre, über Genie und die Frage des Vorrangs der
Originalität gegenüber handwerkwerklicher Aspekte. Über die eigene Bildsprache
als Ausweis der Individualität. Über Freiheiten und Reglements. Ein Resultat
dieser bis heute andauernden Auseinandersetzungen (und auch dieses Resultat ist
das Ergebnis eines Prozesses der unsichtbaren Hand) war die Trennung der
künstlerischen Gattungen, von Literatur, Tanz, Sprech- und Musiktheater. Ein
anderes war die Einschränkung des Gattungsbegriffs ‚Kunst‘ auf die bildende Kunst,
auf Gemälde, Skulpturen, später Fotografie, Video, Installationen et al. Und
damit sind noch nicht einmal ansatzweise die Diskussionen und Diskussionsebenen
berührt, die in den letzten 200 Jahren unterhalb des Radars der Wahrnehmung des
offiziellen Kulturbetriebes geführt wurden: vom einfachen, bestenfalls
interessierten Betrachter über den Kulturbeflissenen bis hin zum kulturell
engagierten Bürger.
Auch sie haben
über die Jahrhunderte ihren Beitrag zu dem stets fluiden Verständnis von Kunst im
Sinne eines episodalen Ereignisses im steten diachronen Kontinuum als ein nicht
intendiertes kollektives Resultat ungezählter individueller Meinungen und
Stellungnahmen geleistet. Dieser spezifische ‚Seinszustand‘ der Kunst als
episodales Ereignis und kollektives Resultat wird allerdings im öffentlichen Diskurs,
in der Kulturpolitik, im Feuilleton und im gesamten Kunstkontext gerne
zugunsten der Behauptung eines von allen Beteiligten wechselseitig
unterstellten deckungsgleichen Verständnisses überzeitlich existenter und problemlos
explizierbarer etablierter Bedeutungen des Begriffs ignoriert. In diese
Kategorie fallen auch die wohl gebräuchlichsten Gebrauchsweisen des sprachlichen
Zeichens ‚Kunst‘ in unserem Kulturkreis wie die in der von Zeit zu Zeit gestellten
Ewigkeitsfrage ‚Was ist Kunst?‘, die implizit von einem numinosen Wesen der
Kunst raunt, oder die unauslöschliche Neigung zur Vitalisierung und
Anthropomorphisierung, die auch aus der Kunst ein selbsttätiges Handlungssubjekt
macht (‚Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele‘).
Tatsächlich aber
besteht innerhalb einer Kultur bestenfalls eine drei, maximal vier Generationen
währende ‚diachronische Identität‘, eine Schnittmenge in der Verwendung gängiger
Bedeutungen des Begriffs ‚Kunst‘, dem damit verbundenen Verständnis der
Beteiligten und ein vielleicht etwas länger währendes gesellschaftliches
Einvernehmen der Zuschreibung, welches Werk denn als Kunst-Werk gilt.
1Dieser Essay folgt im
Wesentlichen der Theorie des Sprachwandels, die der Linguist Rudi Keller in
seinem Werk ‚Sprachwandel Von der unsichtbaren Hand in der Sprache’ formulierte.
4Auf unsere Gebundenheit
gerade an visuelle Metaphern, namentlich der Spiegelmetaphorik, hat vor allem Richard
Rorty aufmerksam gemacht. Er weist darauf hin, dass den Begründern des
westlichen Denkens im alten Griechenland „das
innere Auge zum unausweichlichen Modell des besseren Wissens“ und „dieses Wissen als ein Sehen von etwas aufgefasst“
wurde (Rorty 1987: 51): Die
optische Abbildung wurde für uns so zu einer Metapher der Erkenntnis. Bei den
Scholastikern spiegelten sich die Dinge in unserer intellektuellen Seele,
unserer „Gläsernen Natur“. Sie ist der
‚mind of man’ des Francis Bacon, „in dem
sich die Strahlen der Dinge ihrer wahren Beschaffenheit nach widerspiegelten“
(Rorty 1987: 55). Der Philosoph Manfred Riedel schließt sich im Vorwort seines
Werks ‚Hören auf die Sprache’ der Analyse Rortys ausdrücklich an: „Das Bild vom Spiegel ist der Sache freilich
so wenig gemäß wie der davon abhängige Vergleich des Denkens mit dem Licht, das
sich im Spiegel bricht. Zu viele Vorgriffe sind in diese alte Bilderwelt der
abendländischen Philosophie eingegangen, die eine authentische Seinserfahrung
und deren Bezug zur Sprache, die wir sprechen, durch Metaphern (des Sehens, der
Erleuchtung, der Reflexion) verdecken. Sie abzubauen, dazu hat Heideggers
Fragen nach der Möglichkeit des Sinnverstehens, die in anderer Richtung auch
Wittgenstein stellt, entscheidend beigetragen“ (Riedel 1990: 7).
5Unsere hypostasierte
Sprache verführt uns immer wieder zu Positionen des so genannten ‚Realismus’.
Nicht zuletzt, weil wir es uns, im alltagssprachlichen Kontext ebenso wie im
wissenschaftlichen Diskurs, nur allzu gerne einfach machen und auf lieb
gewonnene, gewohnte Denkmuster zurückgreifen – selbst ausgewiesene Nominalisten
sind davor nicht gefeit. Zur Geschichte des Universalienproblems siehe auch: de
Libera, Alain (2005): Der
Universalienstreit, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.
6Es sollte nicht verwundern, dass, als mit dem Positivismus Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts der vorläufige Höhepunkt des exaltierten Anspruchs der Aufklärung auf rationale Begründbarkeit und Berechenbarkeit allen Seins erreicht war, nicht nur Nietzsche seine Zeitdiagnose in der griffigen Formel ‚Gott ist tot’ kondensieren konnte, sondern auch, dass genau jetzt, 1870, auf dem Ersten Vatikanischen Konzil, die päpstliche Unfehlbarkeit, der profanierte Absolutheitsanspruch, formuliert wurde. So wurde aus dem Statthalter Christi sprachlich der Statthalter Gottes auf Erden.
7Vom ‚Ding’ spricht auch rund 2300 Jahre später noch Charles Sanders Peirce: „Ein Zeichen ist ein Ding, das dazu dient, ein Wissen von einem anderen Ding zu vermitteln, das es, wie man sagt, vertritt oder darstellt. Dieses Ding nennt man Objekt des Zeichens. Die vom Zeichen hervorgerufene Idee im Geist, die ein geistiges Zeichen desselben Objekts ist, nennt man den Interpretanten des Zeichens“ (Peirce (2000): 204). Wobei ‚Ding’, germanisch ‚ting’, ‚thing’, ursprünglich ‚Übereinkommen, Volks- und Gerichtsversammlung’ bedeutete. Im Zuge des Sprach- und Bedeutungswandels wurde dann aus der in der Gerichtsversammlung behandelten ‚Rechtssache’ die Bedeutung ‚Sache’ verallgemeinert.
8Wenn Wittgenstein konstatiert, dass man „für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung’ (…) dieses Wort so erklären (kann): Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1977: 41 (PU 43), so redet er dabei „nicht von einer großen Klasse von Wortbedeutungen“, vielmehr „sagt (er) uns, was das Wort ‚Bedeutung‘ bedeutet“ (Keller 2018: 86): Sein Gebrauch in der Sprache (und nicht eine stets veränderliche, kontextvariable ‚Bedeutung‘). Doch was ist bei Wittgenstein mit ‚Gebrauch‘ gemeint, was mit ‚Sprache‘? Keller konstatiert: Mit dem Ausdruck ‚Gebrauch‘ ist „nur die Gebrauchsweise in der Sprache gemeint, die Regel des Gebrauchs“ (Keller 2018: 88). Beherrsche ich die Regel des Gebrauchs eines Wortes, kenne ich seine Bedeutung, denn „der Gebrauch (…) ist seine Bedeutung“ (Keller 2018: 90). Damit erschließt sich auch, auf welche Ebene der Sprache Wittgenstein sich hier bezieht: auf die der Langue, der Sprache als überindividuelles Sprachsystem, nicht auf die der Parole, der Realisierung der Langue in konkreten sprachlichen Äußerungen. Das bedeutet auch, dass ‚Bedeutung‘ bei Wittgenstein nichts mit irgendwelchen mentalen Entitäten, Vorstellungen, zu tun hat, die sie auf eine nicht recht erklärliche Weise repräsentieren: „Nicht, was kommuniziert ist, soll Bedeutung genannt werden, sondern was Kommunizieren ermöglicht“ – so Kellers Definition von ‚Bedeutung‘ im Rekurs auf Wittgenstein (Keller 2018: 82).
9Formen „autoritativer Sprachfestsetzungen“ (Keller 2014: 210) gibt es natürlich in Hülle und Fülle: „DIN-Terminologie, Orthographiereform oder Umbenennungen“ (Keller 2014: 210). In Relation zu den milliardenfachen Sprachäußerungen jedoch, die tagtäglich weltweit gemacht werden, sind sie de facto höchst selten. Grund für unsere etwas verschobene Wahrnehmung ist nicht zuletzt die Tatsache, dass diese Versuche oftmals deutlich spektakulärer verlaufen und in einer größeren Öffentlichkeit stattfinden als unsere profanen alltäglichen Gespräche. So sind vor allem die propagandistischen Setzungsversuche der Nationalsozialisten und insbesondere die eines Joseph Goebbels, die Victor Klemperer beispielhaft in seiner Schrift zur Lingua Tertii Imperii, zur Sprache des Dritten Reichs, „LTI Notizbuch eines Philologen“ 1946 beschrieben hat, zu nennen. Hier wird der Gebrauch bestimmter Begriffe und Formen geplant, gezielt und vorsätzlich verabsolutiert und damit ideologisiert, um eine bestimmte Gemeinschaft zu konstituieren und, vice versa, eine andere bis hin zur physischen Eliminierung auszugrenzen.
10Die Dinge stellen sich
oftmals ganz anders dar, als sie uns heute erscheinen: Für den bedeutenden
mittelalterlichen Nominalisten William of Ockham war das ‚Sein der Dinge’,
unserer Objekte, esse subiectivum.
Und das ‚Sein der Gedanken im Geiste’, im Subjekt, esse obiectivum.
Galileo Galilei Il Saggiatore (1623): 232, zitiert nach: Edition Nazionale, Bd. 6: 232, Florenz 1896/ Übersetzung Hoye; William (o.Z:): http://www.hoye.de/galileo/lieferung4
12Diese Reziprozität ist grundlegend. Aber eben eine Unterstellung. Denn trotz aller sozialer Kristallisation und des konjunktiven Denkens ist die Annahme einer gelingenden Kommunikation eine Fiktion: Es ist die menschlich notwendige kontinuierliche Suggestion eines gemeinsamen Gebrauchs und intersubjektiv konstituierten Verständnisses, dessen wir bedürfen, um nicht während eines Gesprächs bei jedem geäußerten Wort gleich in psychotische Zustände zu verfallen. De facto aber reden wir permanent aneinander vorbei. Und tun so, als würden die verwendeten Begriffe mit einem explizierbaren Bedeutungsgehalt ausgestattet sein, das zudem noch allen Teilnehmern des Diskurses (oder auch der Stammtischrunde) in gleicher Weise präsent ist (selbst wenn es so wäre: Wie wollten wir uns dessen vergewissern?).
13 Wobei eigentlich schon
die Begriffe ‚Befolgung’ und ‚Regel’ meines Erachtens irreführend sind. Denn
auch hier schlägt uns die Sprache ein Schnippchen und nötigt uns zu einer
unangemessenen Sprachweise, die eher das Gegenteil dessen sagt, was der Fall
ist: Es sind keine Regeln im Sinne mathematischer Regeln, die ich zu lernen und
zu befolgen habe, um zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Es sind eher in
einem langwierigen evolutionären Prozess herausgebildete Regelmäßigkeiten, die
die Teilnehmer von Sprachspielen zu den von ihnen erhofften Ergebnissen führen.
Die Teilnehmer verhalten sich dabei jedoch nicht nach ihnen, sondern mit
ihnen.
14Idealerweise, möchte man hinzufügen. Denn Voraussetzung dafür ist nicht nur, dass es diese Variationen auch tatsächlich gibt und sie nicht nur (a.) eine charmante Illusion sind, die die Suggestion einer gelungenen Kommunikation ermöglicht, sondern auch, dass (b.) jeder Teilnehmer des Gesprächs um diese Variationen weiß, dass (c.) diese Variationen auch von ihnen in ausreichender Form explizierbar sind und dass (d.) für beide Teilnehmer die jeweils ausgewählte zeitunabhängige Bedeutung die gleiche ist bzw. sich deren mögliche Bedeutungs-Asynchronität in Grenzen hält, so dass die Kommunikation irritationsfrei gelingen kann. Der Fall, dass man ein Verständnis einer zeitunabhängigen Bedeutung möglicherweise nur vortäuscht, weil man in dem Diskurs nicht als Depp dastehen will, sei hier nur am Rande erwähnt (und der Fall, dass ein Verwender dieser Bedeutung deren Kenntnis sprachlich nur eloquent suggeriert, weil er sich als ausgewiesener Kenner des Sachverhalts darstellen möchte, ebenso – ebenso wie der Fall des Gesprächspartners, der diese Unkenntnis bei dem Fachmann zwar vermutet, aber angesichts einer vielleicht allseits dem Verwender zugeschriebenen Kompetenz ebenfalls nicht vor aller Welt als Depp dastehen möchte. Ad infinitum.).
16Deshalb konnte damals
auch niemand, in unserem heutigen abendländischen Verständnis, seines eigenen
Glückes Schmied sein.
17Das Verständnis der auf
Kosten des Katholizismus in Süd- und Mittelamerika stark expandierenden,
erzkonservativen Evangelikalen von der humanitas
wird sich sicher nicht mit der etablierten Bedeutung des Äußerungstyps in den
westlichen Demokratien oder auch mit meiner persönlichen Vorstellung decken.
Ebenso wenig wie es der Humanitasbegriff im Nationalsozialismus tat:
„Eine entartete Auffassung von H. im späteren 19. und beginnenden 20. Jahrh. verfocht unter führender Beteiligung des Judentums den Schutz alles Menschlichen um seiner Selbstwillen, also auch des Minderwertigen und Entarteten. Entgegen solchen, gesunden sittlichen Anschauungen zuwiderlaufenden Ansichten betont die völkische Weltanschauung eine naturgegebene, bes. rassisch bedingte Ungleichheit der Menschen und den Vorrang von Gott und Staat vor einem allgemeinen Menschheitsideal“ (Der Neue Brockhaus: Allbuch in vier Bänden. Band 2 (F-K), Leipzig 1941, S. 456).
Mit den Menschenrechten verhält es sich ähnlich. Ihre Existenz wird im Grunde überall anerkannt, aber als Zeichen bezeichnet der Begriff gänzlich unterschiedliche Vorstellungen: Im Westen bezieht sich der Begriff ‚Menschenrechte‘ auf das Recht eines Individuums, sein Recht einzuklagen, in China auf das Recht der Masse, nicht durch Rechtsbeanspruchung eines Individuums in ihrer Stabilität gefährdet zu werden.
„Eine entartete Auffassung von H. im späteren 19. und beginnenden 20. Jahrh. verfocht unter führender Beteiligung des Judentums den Schutz alles Menschlichen um seiner Selbstwillen, also auch des Minderwertigen und Entarteten. Entgegen solchen, gesunden sittlichen Anschauungen zuwiderlaufenden Ansichten betont die völkische Weltanschauung eine naturgegebene, bes. rassisch bedingte Ungleichheit der Menschen und den Vorrang von Gott und Staat vor einem allgemeinen Menschheitsideal“ (Der Neue Brockhaus: Allbuch in vier Bänden. Band 2 (F-K), Leipzig 1941, S. 456).
Mit den Menschenrechten verhält es sich ähnlich. Ihre Existenz wird im Grunde überall anerkannt, aber als Zeichen bezeichnet der Begriff gänzlich unterschiedliche Vorstellungen: Im Westen bezieht sich der Begriff ‚Menschenrechte‘ auf das Recht eines Individuums, sein Recht einzuklagen, in China auf das Recht der Masse, nicht durch Rechtsbeanspruchung eines Individuums in ihrer Stabilität gefährdet zu werden.
18Heidegger mag diese
zwecklose Zweckbestimmung vor Augen gehabt haben, als er in seinem Vortrag ‚Die
Frage nach der Technik’ eine kritische Auseinandersetzung mit der Technik
anmahnte, die „in einem Bereich geschehen
(muss), der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits doch
von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.“
(Heidegger 2000: 36) Damit zeige sich die Kunst ursprünglich als techné, ist aber, im Gegensatz zu Wissenschaft und Technik, eben nicht durch
dieses Prinzip der Verwertbarkeit gekennzeichnet. Ein Kunstwerk wird nicht, so
Heidegger, zu einem bestimmten Zweck angefertigt. Es kann nicht benutzt werden.
In ihm leuchtet die Welt als Bedeutungsganzheit
auf und kann uns so einen
anderen, befreiten Weg zur Welt und zur Wahrheit aufzeigen, der sich nicht aus
der normierten Weltsicht der Zweckbestimmung, Nutzenorientierung und
Verfügbarkeit ableitet.
19Mark Siemons berichtet
in einem Artikel der F.A.S. (‚Wille zu Welt‘, 28.01.2018) über das chinesische
Konzept der Geschichte, das den Anschein einer fast 3000 jährigen
‚diachronischen Identität‘ erweckt: ‚Tianxia‘
(in etwa: ‚alle unter einem Himmel‘). Es stellt, so Siemons, eine „verblüffend bruchlose Kontinuität der
Mythen, Chroniken und Romane (dar), die sich mit China beschäftigen. Wenn in
China von der Tradition der ‚Geschichte‘ die Rede ist, dann ist vor allem diese
kodifizierte Überlieferung gemeint.“ Und solche kodifizierte
Überlieferungen korrespondieren gerne mit einem codierten Sprechen, „das von jedem verstanden wird, der in der
chinesischen Welt sozialisiert ist, aber nicht außerhalb.“ Nun steht diese
Bedeutungsidentität aber unter dem beschriebenen Verständnis- und
Nachweisvorbehalt: Der Sprach- bzw. Bedeutung- und Verständniswandel ist ein
Prozess, der, solange es nur genügend Sprecher einer lebenden Sprache gibt,
permanent abläuft. Ob die einzelnen Sprecher das nun wollen oder nicht. Dies
gilt nicht allein für alle Bedeutungen, die im Laufe der sozialen
Kristallisation (die auch ein Prozess der unsichtbaren Hand ist) etabliert
wurden – dies gilt auch für kodifizierte Überlieferungen und codiertes
Sprechen. Denn auch sie verschont der
Wandlungsprozess nicht, ist er doch ein von den Intentionen der
einzelnen Menschen unabhängiger kollektiver Prozess, der zu nicht intendierten,
ungeplanten, ungewollten Ergebnissen führt. Die Worte können bleiben, aber die
Vorstellungen, die die Menschen dabei haben, wandeln sich (auch an dieser
Stelle mag man mir meine anthropomorphisierende Redeweise verzeihen – ich
bediene mich hier der Einfachheit halber der klassisch reziproken
Kommunikationsstrategie: „Rede so, wie du
denkst, dass der andere reden würde, wenn er an deiner statt wäre.“ (Keller
2014: 137)). Unabhängig von den einzelnen Verwendern der Sprache. So handelt es
sich weniger um eine „verblüffend
bruchlose Kontinuität der Mythen“, sondern eher um den Mythos einer
verblüffend bruchlosen Kontinuität der Mythen. Wir können nur mutmaßen, ob vor
3000 Jahren mit ‚Tianxia‘ das verbunden wurde, was im heutigen China damit
verbunden wird. Eine definitive Vergewisserung ist, aus naheliegenden Gründen,
unmöglich. Was aber der Angemessenheit dessen, was Siemons sagt, eigentlich
wenig Abbruch tut (cf. Kap. 2.11/2.12). Denn entscheidend ist an dieser Stelle
in China allein die Suggestion einer
fast 3000 jährigen ‚diachronischen Identität‘, die identitätsstiftende Behauptung einer solch durchgehend
identischen Bedeutung und eines gleichbleibenden Verständnisses, ungeachtet
aller Wandlungen der Kontexte, ungeachtet der Struktur der Wandlungsprozesse.
20Im vollen Bewusstsein der heiklen vorstellungstheoretischen Implikationen, die bei der „charakteristische(n) traditionelle(n) Zeichentheorie“ mit der Verwendung des Begriffs ‚Vorstellung‘ verbunden sind: Die Stellvertretertheorie besagt, dass die Zeichen etwas vertreten, was in der Vorstellung gegeben ist. Bei „Kuh, Haus, trinken“ mag diese Vorstellung noch plausibel sein. Aber welche Vorstellungen die Zeichen „nichts, ob, Dienstag, gut, Vetter, ähnlich oder unvorstellbar“ vertreten, darauf habe zumindest ich keine befriedigende Antwort (cf. Keller 2018: 79). Und auf die Frage, welche Vorstellung das Zeichen ‚Vorstellung‘ vertritt, dürfte auch Menschen eine Antwort schwer fallen, die mit einem deutlich größerem Verstand gesegnet sind als ich: „Die Anwendung der Vorstellungstheorie führt bei dem Versuch, sie auf den Ausdruck Vorstellung selbst anzuwenden, zu einem iterativen Regress“ (Keller 2018: 79).
21Dem Dichter waren klare
Grenzen gesetzt. Er war als Individuum einerseits nicht in der Lage, über das
Individuationsniveau hinausgelangen, das die Gesellschaft kennzeichnete, in die
er eingebunden war und die ihm damit zum einen Zwänge auferlegte, zum anderen aber
auch Sicherheit und Geborgenheit gab. Diese prinzipielle Unfreiheit bedeutete
andererseits, dass ihm eine wesentliche Schattenseite des Individuationsprozesses
der Menschen in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft westlichen
Zuschnitts im Allgemeinen und der Künstler im Besonderen erspart blieb: „die zunehmende Vereinsamung“ (Fromm
2016: 27). Der Dichter wuchs nicht aus seiner Welt heraus, war nicht „allein und eine von allen anderen getrennte
Größe“ (Fromm 2016: 27). Er trug damit nicht die schwere Last der
Eigenverantwortung, musste keinen Gedanke daran verschwenden, einen Ausgang aus
selbstverschuldeter Unmündigkeit zu finden. So verwandeln sich ihm die „Fremdzwänge“ noch nicht „in Selbstzwänge“ (Elias 1976: 313).
Dies ist erst das „nicht ‚rational‘
geplant(e)“ Resultat des Zivilisationsprozesses in der abendländischen
Gesellschaft, in dem sich die Persönlichkeitsstrukturen im Zuge des Wandels der
Sozialstrukturen ändern:
„Pläne
und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen
greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. Diese fundamentale
Verflechtung der einzelnen, menschlichen
Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein
einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz
der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung,
die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen,
die sie bilden“ (Elias 1976: 314).
Das gesellschaftliche Gewebe „bildet
das Substrat, aus dem heraus, in das hinein der Einzelne ständig seine
individuellen Zwecke spinnt und webt. Aber dieses Gewebe und sein
geschichtlicher Wandel selbst ist als Ganzes in seinem wirklichen Verlauf von
niemandem bezweckt und von niemandem geplant“ (Elias 1976: 477). Damit
beschreibt Elias nichts anderes als den Prozess der unsichtbaren Hand, in dem
er die „Verflechtungsordnung (sieht), die
den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozeß der
Zivilisation zugrunde liegt“ (Elias 1976: 314).
22Nur am Rande sei erwähnt, dass
die derzeit so sehr gepriesene Geschichte des christlichen Abendlandes mit
einer in dieser Form nie zuvor erlebten, nahezu völligen Auslöschung tradierten
Wissens seinen Anfang nahm: Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass über 99%
aller Bücher schlicht verloren gingen oder, soweit sie nicht von christlichen
Autoren stammten, sogar gezielt vernichtet wurden. Wenn Bücher tatsächlich so
etwas wie ein kollektives Gedächtnis darstellen sollten, dann stellte dieser
Verlust europäische Demenz im Endstadium dar. Das Christentum brachte nicht die
Erleuchtung, ex oriente lux, über die Menschheit. Im Gegenteil, es läutete das
Dunkle Zeitalter Europas ein. Das großartige Wissen der Antike überlebte nur
sporadisch in wenigen Nischen, nur von wenigen gekannt und rezipiert. Und, auf
deutlich breiterer Basis, in arabischen Bibliotheken und Gelehrtenstuben: Ohne
deren Quellen würden wir die Grundlagen unserer abendländischen Philosophie,
von den Vorsokratikern über Platon bis Aristoteles, heute bestenfalls noch vom
Hörensagen kennen. Es sollte zudem bis zur Erfindung des Buchdrucks dauern, bis
wieder eine breitere Bevölkerungsschicht Zugang zum kümmerlichen Rest des
antiken Wissens bekam.
23Bei diesem Autor
handelt es sich nicht um den Autor, von
dem Roland Barthes in seinem Essay ‚Der Tod des Autors‘ spricht: „Der auteur ist eine moderne Figur, die
unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen
Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der
Reformation den Wert des Individuums entdeckte – oder, wie man würdevoller
sagt, der ‚menschlichen Person‘“ (Barthes 2016: 186; cf. hier Kap. 3.4 ff.).
24Der französische Zeichner und Radierer Jaques Callot, der von 1592 bis 1635 lebte, war in diesem Sinn vielleicht einer der ersten modernen Künstler. In seinen Serien Les petites misères de la guerre und Les grandes misères de la guerre brachte er keine kanonisierte Sicht der Dinge oder einen gesamtgesellschaftlichen horror vacui zum Ausdruck – er zeigte, was ihn bewegte. Wie er die Dinge sah. In jedem Bild zeigt sich seine persönliche, existentielle Betroffenheit und damit eine gänzlich andere Wertung als die zu seiner Zeit übliche. So schilderte er detailgetreu die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges, zeigte Bevölkerung wie Täter als Opfer menschlicher Grausamkeit. Zeigte Soldaten, die gelyncht wurden. Als Krüppel endeten. Oder als strange fruits am Galgen. Mit Francisco de Goya, dem diese Arbeiten gut 200 Jahre später in seiner Serie Los desastres de la Guerra als Vorlage dienten, erreichte die Kunst endgültige die Moderne: In seinen Pinturas negras, wie zuvor auch schon in den Los Caprichos (ab 1793), werden die radikale Subjektivität des Künstlers, seine düsteren Phantasien, seine Ängste, seine Verzweiflung und seine Wut angesichts der Armut, Korruption, Brutalität und Ungerechtigkeit zum Sujet. Noch radikaler war vielleicht William Blake als Literat, aber auch als Maler und Radierer: Die wohl entschiedenste Form der Subjektivität wurde ihm zum Quell seiner Inspiration und Kreativität – die Vision. Damit ist in der Form- und Bildsprache das erreicht, was auf linguistischer Ebene ‚singuläre Sprecher-Intention‘ genannt werden kann.
25Das Gespräch wurde anlässlich
des Erscheinens des Buchs ‚Jaques Rencière: Aisthesis‘ (Wien: Passagen-Verlag,
2013) geführt.
26Damit ist nicht ein
Verständnis der Aussagen der Werke
gemeint. Denn Werke sagen nichts aus wie sie mir auch nichts sagen. Dieser
verführerische, in unzähligen kunstwissenschaftlichen Abhandlungen,
Feuilletonbeiträgen, Künstlerbiographien, selbst im Werk Hans-Georg Gadamers
‚Wahrheit und Methode‘ („Wer einen Text
verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen.“ Gadamer 1975: 253) perpetuierte
anthropomorphisierende und vitalisierende Sprachgebrauch macht auch aus dem
künstlerischen Werk das sagenumwobene animal
rationale. Indem ich nun seine Existenz bestreite, bestreite ich aber ganz
und gar nicht, dass Werke nicht ‚Auslöser für etwas‘ beim Leser, Zuschauer,
Zuhörer, Betrachter sein können. Ganz im Gegenteil: Sogar in zweierlei Hinsicht
können sie es sein – aber eben nicht in der Form, wie es dieser anscheinend
unauslöschliche anthropomorphisierende Sprachgebrauch nahelegt. Nicht das Werk
wirkt. Der Leser, Zuschauer, Zuhörer, Betrachter ist es, der das Gelesene,
Gesehene, Gehörte, Betrachtete als Inspiration empfindet:
1.
Inspiration
zur Assoziation: diesseits jeder nachgelagerten Interpretation
und hermeneutischer Abhandlung
2.
Inspiration
zur Interpretation: Wer verstehen will, muss „für die Andersheit des Textes von
vornherein empfänglich sein“ (Gadamer 1975: 253). Hans-Georg Gadamer beschreibt (grob verkürzt, wie er
sagt) den Verstehensprozess, den hermeneutischen Zirkel, wie folgt: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht
immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich
ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man
den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im
Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her
revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht
das Verstehen dessen, was dasteht“ (Gadamer 1975: 251).
27Wobei auch bei denen, die ihn gemeinsam durchlaufen haben, ein gemeinsame Verständnis oftmals nur ein unterstelltes ist – tatsächlich sind die individuellen Verständnisweisen vielfach alles andere als deckungsgleich: Es ist dies die Annahme bzw. die Suggestion eines solchen gemeinsamen und damit gemeinschaftsfördernden, ja: gemeinschaftskonstituierenden Verständnisses.
30Sehr eindringlich hat
bereits 1941 Erich Fromm in seinem Werk ‚Die
Furcht vor der Freiheit‘ beschrieben, was passieren kann, wenn diese Freude
über die Freiheit, die zwar eine Entlassung aus dem Zwang der Fremdbestimmung,
aber eben auch aus behüteter Umzäunung, aus wohliger Einbettung in ein
Kollektiv und damit in ein für mein Ich identitätsstiftendes Wir bedeutet, in
Furcht umschlägt. Und wenn dieses hinausgeworfene, alleingelassene Ich nun
selbstverantwortlich seinen selbstverschuldeten Ausgang zur Unmündigkeit finden
und sich in orientierungsloser Zeit orientieren muss: Es flüchtet. Oftmals ins
Autoritäre, ins Konformistische oder auch ins Selbstdestruktive. Was vielleicht
die hohe Zahl der depressiven Erkrankung (im Bewusstsein der alles andere als ausreichend
geklärten Gebrauchsweise des Begriffs ‚Depression‘) in den
Leistungsgesellschaften abendländischer Prägung erklären mag.
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Martus, Steffen (08.02.2017): Germanistik in der Krise? Der eierlegende Wollmilchgermanist wird dringend gesucht, online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/germanistik-in-der-krise-der-eierlegende-wollmilchgermanist-wird-dringend-gesucht-14865806-p3.html (Stand 14.07.2017)
Lammert, Norbert (24.06.2016): Brauchen wir eine Leitkultur?, online unter: https://blog.klassik-stiftung.de/norbert-lammert-leitkultur/
Maizière, Thomas de (30.04.2017): "Wir sind nicht Burka": Innenminister will deutsche Leitkultur, online unter: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziere-innenminister-leitkultur/seite-2
Martus, Steffen (08.02.2017): Germanistik in der Krise? Der eierlegende Wollmilchgermanist wird dringend gesucht, online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/germanistik-in-der-krise-der-eierlegende-wollmilchgermanist-wird-dringend-gesucht-14865806-p3.html (Stand 14.07.2017)
Rancière, Jacques
(20.11.2013): im Gespräch mit Stephan
Karkowsky
http://www.deutschlandfunkkultur.de/geistesgeschichte-wie-kunst-als-kunst-definiert-wird.954.de.html?dram:article_id=269579
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