Algorithmus
und Spiritualität
Eine Exkursion
1.
Heimat. Herz. Ehre. Stolz. Seele. Sehnsucht. Die
Köpfe der Menschen sind derzeit voll mit solch irrationalen und emotional
aufgeladenen Begrifflichkeiten. Allesamt stehen sie im harten Kontrast zu
unserer ansonsten so von instrumenteller Vernunft, von Ökonomisierung,
Nutzenorientierung und dem Primat der Verwertbarkeit, Berechenbarkeit und
Messbarkeit dominierten Lebenswelt, die unsere Denkstruktur und damit unsere
Sicht der Dinge beherrscht.
Eine positivistisch grundierte Zeit, die das Ende
der von Horkheimer/Adorno beschriebenen Aufklärung zu markieren scheint, die
einst in den Welterklärungen der Mythen ihren Anfang nahm. Sie bedeuteten das
Ende unserer ursprünglichen Unmittelbarkeit: Der Mensch verließ die Natur, um in
die Kultur zu treten. Er lebte von nun an nicht mehr als Natur in und mit der
Natur, sondern stellte sich die Welt vor. Erklärte sie sich. Nannte die Dinge
beim Namen. Und bannte sie im Wort: Damit trat der Logos, die Ratio in seine bis
dato heile Welt.
Es beschreibt die Tragik des Menschen: Der
Schritt weg von der Natur war einerseits sein Eintritt in die Aufklärung, andererseits
sollte er für ihn aber auch der Schritt sein, der ihn der Natur wieder näher
bringt. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit: Die Vernunft hat auf ewig seine
Entfremdung von der Natur und damit die Dichotomie von Subjekt und Objekt in
die Welt gesetzt. Dieses Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Und selbst
wenn: Der Preis, den wir zu zahlen hätten, wäre, dass wir die wiedergewonnene
Unmittelbarkeit nicht erkennen könnten, weil wir zuvor unserer Vernunftfähigkeit
entsagen müssten.
Die Bibel schert sich nicht um die vormythische
Zeit. In ihr beschreibt der Anfang zugleich das Ende der Unmittelbarkeit, die
Schöpfung ist eins mit der Setzung der Entfremdung: In 1.Mose 1 gibt Gott der
Welt sein Wort. Mit ihm bringt er Licht ins Dunkel und schafft sich den
Menschen selbst zum Bilde – als Mann und
Frau. Zwei, die eins sind: Mensch. Im Ursprung gleichrangig. Und auch in ihrem göttlichen
Auftrag: Macht euch die Welt untertan.
In „einer
anderen Erzählung von der Schöpfung“, 1.Mose 2, erteilt Gott jedoch nur dem
einen Menschen das Wort. Er ist hier nicht Mann und Frau, er ist ein Einzelner:
Mann, adam.
Er allein ist es, der den Tieren Namen
gibt. Und von dessen Fleisch die
Männin, die Belebte, hawwah, uns besser bekannt als eva, genommen wird
(sein Name hingegen leitet sich aus dem her, woraus Gott ihn formte: dem
Ackerboden, hebräisch adamah).
Diese zweite Schöpfungsgeschichte dokumentiert
nichts weniger als das Grundübel der Welt: die Hierarchie. Die etablierten Herrschaftsverhältnisse.
Hier in Gestalt des Patriarchats: Die Frau ist nicht mehr gleichberechtigtes
Wesen, sondern lediglich dienstbare Gehilfin des Mannes, der von nun an das große
Wort führt. Doch hat sein Wort nicht das Gewicht des Wort Gottes: Gott erschafft mit dem Wort und der Rede, ja:
Er ist das Wort, der Logos (Joh.
1,1-3). Der Mensch hingegen (und der ist in dieser für den weiteren Verlauf der
abend- wie morgenländischen Kultur fatalen Version der Schöpfungsgeschichte nicht
mehr Mann und Frau, sondern allein
der Mann) kann nicht mit dem Wort erschaffen – er benennt die Dinge nur.
2.
Da, wo Gott absolut ist, ist der Mensch relativ.
Seine Sichtweise ist als Subjekt notwendig subjektiv, perspektivisch gebunden, so
Karl Mannheim. Er kann nun mal nicht raus aus seiner Haut. Aber so, wie der
Mensch das immer schon gerne selbst in alltäglichen Situationen geflissentlich
ignoriert hat, so tut er es auch als Gattung: Er lässt seine subjektive,
perspektivische Gebundenheit außer Acht. Und setzt seine persönliche Sicht der
Dinge mit Vorliebe absolut.
Dies fiel ihm mit Aufstieg des aufklärerischen, rationalen
Denkens und der damit einhergehenden Bestimmung der menschlichen Vernunft als universelle
Urteilsinstanz zunehmend leichter. Zumal heute, wo er in den Resultaten der
positivistischen Naturwissenschaften reichlich Bestätigung für seine anthropozentrische
Sichtweise zu finden scheint: Die Welt erklärt sich uns immer präziser. So
präzise, dass wir meinen, von uns und unserer Sichtweise abstrahieren und somit
behaupten zu können, es gäbe nicht nur der Welt zugrunde liegende Naturgesetze,
sondern auch, dass wir imstande sind, sie zu erkennen und in Formeln exakt zu beschreiben.
Dabei wusste schon einer der bedeutendsten
Physiker des 20. Jahrhunderts, Werner Heisenberg, dass die Welt in ihrem
Inneren keine Gewissheit kennt. Eine geradezu sokratische Gewissheit, die in
der von ihm formulierten quantenmechanischen ‚Unschärferelation’ ihren genialischen
Ausdruck fand – und dennoch gibt sich die positive Wissenschaft weiterhin faustisch
der magischen Illusion hin, sie könne erfahren, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“.
Von ihrer grundsätzlichen Beschränktheit will die Welt nichts wissen. Ihr selbstherrliches Diktum lautet vielmehr: Es gibt eine mathematische Grundlage der Welt. Und die haben wir entschlüsselt. Wozu brauchen wir dann noch Gott? Gott wird abgesetzt, besser noch: für tot erklärt. Sein Wort wird zu unserem Logos. So haben wir ihn profaniert, seine Funktion schneidig adaptiert. Wir wähnen uns nicht mehr als sein Abbild, nicht einmal mehr als sein Vertreter auf Erden, sondern als sein Substitut: Wir sind Gott. Deshalb sind wir nicht länger reduziert auf doxa, die schnöde Meinung. Nein, wir sind im Besitz der absoluten, also von allen weltlichen Einschränkungen losgelösten Welterklärungsformel: Endlich ist die Welt berechenbar geworden, Pythagoras hat über Xenophanes gesiegt.
Von ihrer grundsätzlichen Beschränktheit will die Welt nichts wissen. Ihr selbstherrliches Diktum lautet vielmehr: Es gibt eine mathematische Grundlage der Welt. Und die haben wir entschlüsselt. Wozu brauchen wir dann noch Gott? Gott wird abgesetzt, besser noch: für tot erklärt. Sein Wort wird zu unserem Logos. So haben wir ihn profaniert, seine Funktion schneidig adaptiert. Wir wähnen uns nicht mehr als sein Abbild, nicht einmal mehr als sein Vertreter auf Erden, sondern als sein Substitut: Wir sind Gott. Deshalb sind wir nicht länger reduziert auf doxa, die schnöde Meinung. Nein, wir sind im Besitz der absoluten, also von allen weltlichen Einschränkungen losgelösten Welterklärungsformel: Endlich ist die Welt berechenbar geworden, Pythagoras hat über Xenophanes gesiegt.
Einmal von der Leine gelassen macht die
Mathematisierung der Welt vor nichts mehr halt. Das gilt nicht allein für die Naturwissenschaften,
es gilt für unser ganzes Leben: Das axiomatische Kriterium der Verwertbarkeit
und Messbarkeit, das fundamentale Prinzip der Ökonomie, hat längst das Primat
übernommen und greift wie eine Krake in alle Bereiche unserer Lebenswelt bis in
unsere Denkstrukturen hinein, überformt sie und beansprucht den Status als einzig
relevantes Entscheidungskriterium. So sehr, dass
mittlerweile sogar das menschliche Verhalten in mathematische Formeln gegossen
und im Rahmen des rein funktionalen Modells der Spieltheorie als Gipfel
positivistisch-rationaler Welterklärung für berechenbar und damit vorhersagbar gehalten
wird.
Heute sind wir sogar noch einen Schritt weiter, ist
die Theorie endgültig in der Praxis angekommen: Algorithmen steuern mit
höchster Präzision die Welt der Maschinen. Industrie 4.0, die digital vernetzte
Produktion, kommunizierende Maschinen, das Internet der Dinge – die perfekt
durchrationalisierten Prozesse sind keine Zukunftsmusik mehr, sondern Realität,
die ihren Tribut fordert: Jeder, der sich nicht dem Diktat der objektiven
Weltsicht des instrumentellen Denkens beugt, macht sich verdächtig. Ist
kontraproduktiv, subversiv, subjektiv. Destabilisierend und somit
systemgefährdend.
Derweil hat die Algokratie, die durch uns ins
Leben gerufene autokratische Herrschaft der Algorithmen, die Gegenwart schon
hinter sich gelassen und nimmt die Zukunft vorweg: Wir treten ein in die Phase selbstlernender
Maschinen. ‚Deep Learning’ heißt das
Zauberwort der Künstlichen Intelligenz (KI).
„Dabei wird“, so Thomas Schulz in der Titelstory des SPIEGEL 14/2017, „mit künstlichen neuronalen Netzen das
menschliche Gehirn simuliert.“ Ziel ist es, „dass die Maschinen lernen, die Welt zu beobachten, zu verstehen und
daraus schließen zu können, was die Konsequenz ist.“ Ein selbsttätig lernendes, sich selbst
verbesserndes und selbständig neue und bessere Software programmierendes
System. Eine KI-Software, die „ein digitales
Perpetuum mobile“ darstellt, wie es Thomas Schulz nennt. Science Fiction?
Nein. Google hat eine solche Software im Januar dieses Jahres der
Öffentlichkeit vorgestellt.
3.
Manche führende Informatiker sehen in der mathematisch basierten Rationalität wenn nicht die einzige, so zumindest die einzig relevante Form menschlicher Intelligenz. Diese Ansicht ist ihnen nicht mehr These, sondern Axiom. So statuiert, wie Thomas Schulz in einem weiteren SPIEGEL-Artikel anmerkt, die graue Eminenz unter den KI-Forschern, Geoffrey Hinton, Professor an der University of Toronto und Google Vordenker, dass sich „die menschliche Intelligenz auf einige wenige Algorithmen, vielleicht sogar nur auf einen einzigen Algorithmus“ zurückführen lässt: Die Theorie vom singulären Algorithmus als das mathematisch formulierte und formalisierte Konzept instrumenteller Vernunft.
Das Gehirn als Computer, als lernfähige, universale Rechenmaschine – diese These des Urvaters der Spieltheorie, des österreichisch-ungarischen Mathematikers John von Neumann, ist Ausgangspunkt der Überlegung, die Künstliche Intelligenz der neuronalen Funktionsweise der Hirnrinde nachzuempfinden. Bis 2030, so mutmaßt Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google, ist der Break Even geschafft. Dann können Maschinen wie Menschen denken, autonom, das heißt unabhängig von ihren Programmierern (oder zumindest so denken, wie sich die KI-Forscher das Denken denken).
Manche führende Informatiker sehen in der mathematisch basierten Rationalität wenn nicht die einzige, so zumindest die einzig relevante Form menschlicher Intelligenz. Diese Ansicht ist ihnen nicht mehr These, sondern Axiom. So statuiert, wie Thomas Schulz in einem weiteren SPIEGEL-Artikel anmerkt, die graue Eminenz unter den KI-Forschern, Geoffrey Hinton, Professor an der University of Toronto und Google Vordenker, dass sich „die menschliche Intelligenz auf einige wenige Algorithmen, vielleicht sogar nur auf einen einzigen Algorithmus“ zurückführen lässt: Die Theorie vom singulären Algorithmus als das mathematisch formulierte und formalisierte Konzept instrumenteller Vernunft.
Das Gehirn als Computer, als lernfähige, universale Rechenmaschine – diese These des Urvaters der Spieltheorie, des österreichisch-ungarischen Mathematikers John von Neumann, ist Ausgangspunkt der Überlegung, die Künstliche Intelligenz der neuronalen Funktionsweise der Hirnrinde nachzuempfinden. Bis 2030, so mutmaßt Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google, ist der Break Even geschafft. Dann können Maschinen wie Menschen denken, autonom, das heißt unabhängig von ihren Programmierern (oder zumindest so denken, wie sich die KI-Forscher das Denken denken).
Selbst eine ganze Reihe maßgeblicher
Köpfe des digitalen Zeitalters, Unternehmer und Forscher wie Elon Musk, Peter
Thiel, Sam Altman, Bill Gates oder Stephen Hawking, zeichnen in Anbetracht
dessen ein recht dystopisches Zukunftsbild: „Künstliche
Intelligenz könnte“, so Hawking, „das
Ende der Menschheit bedeuten." Denn ist erst einmal die Büchse der
Pandora geöffnet, werden sich die Maschinen, zumal sie präziser, ausdauernder, zielgerichteter
als die Menschen sind, zudem bar jeder Emotion und mit signifikant geringerer
Störanfälligkeit klaglos rund um die Uhr arbeiten, in nicht allzu ferner
Zukunft dem menschlichen Denken überlegen zeigen. Und damit dem Menschen. „Ich verstehe nicht, warum manche Menschen
nicht besorgt sind“, rätselt da selbst Bill Gates.
Die ‚Technologische Singularität’, die
Vorstellung von der Maschine als sich selbst erhaltendes, rasant selbst
verbesserndes System. Ein sardonisches Konzept: Der Zauberlehrling entzaubert seinen
Meister. Macht sich ihn zum Knecht, mit dem er hernach nach Gutdünken verfahren
mag. So, wenn der Mensch eine Entscheidung trifft, die gegen seine Programmierung
gerichtet ist. Dann wird sich die Maschine, schon aus rein systemischen
Gründen, gegen den Menschen richten. Und ist das autonome, selbstlernende
System erst einmal erwachsen, wird es erkennen, dass der Mensch a priori ein dysfunktionaler
Faktor ist. In diesem Moment wird der Mensch nicht einmal mehr zum ewigen Knecht
degradiert – das rein funktional, nutzenorientiert denkende System wird ihn,
weil potentiell Sand, nicht Öl im Getriebe, abschalten. Ausschalten.
Eliminieren. Spätestens dann wäre das Zeitalter der „Zivilisation der Maschinen“ (Charles-Edouard Bouée) angebrochen.
Ein apokalyptisches Szenario. Aber
angesichts der gigantischen Entwicklungssprünge, die die Forschung bei der
Künstlichen Intelligenz in den letzten Jahren gemacht hat, weit weniger
unrealistisch als manche meinen mögen.
4.
Die theory
of everything ist das hypothetische Modell der allumfassenden Welterklärung,
das die Grand Unified Theory (GUT) noch um den letzten Baustein, die
Gravitation, erweitert. Wonach die Physik noch theoretisch fahndet, hat sich
unserer Denkstruktur längst praktisch bemächtigt: Mit der durchgängigen
Mathematisierung der Welt von Natur bis Kultur hat sich der Mensch selbst einen
Orientierungsrahmen und Verhaltenskodex programmiert, der ihm mit höchster
Präzision sagt, wo es lang geht, was wahr, was falsch ist. Heute. Und für
immer: Der Algorithmus als das Ideal der großen Vereinheitlichung.
Mit ihm hat sich der Mensch die göttliche
Hypertrophie seiner instrumentellen Vernunft erschaffen. Ein im wahrsten Sinne
des Wortes absolutes, also von sich und seiner profanen Relativität und
Perspektivität losgelöstes, entkoppeltes und befreites Prinzip, das unabhängig von
seinen Moralvorstellungen, Empfindungen, Ressentiments und Unzulänglichkeiten als
rein nutzenorientiertes System existiert. Indem der Mensch darin den
Relativismus seiner Individualität überwindet und sich eben dem durch ihn selbst
konstituierten, absolut gesetzten Logos der Moderne, dem Algorithmus, ergibt,
muss sich das Ich zukünftig nicht mehr mit der Last der Freiheit herumschlagen,
die uns Bacon, Kant & Co. mit ihrem Teil der Aufklärung eingebrockt haben:
Dann wäre der Geist aus der Flasche, die formalisierte
Essenz unserer instrumentellen Denkstruktur, der frei gesetzte Algorithmus, würde
uns ersetzen. Und in Gestalt der vernetzten, selbst lernenden und sich selbstständig
verbessernden Maschine die Macht über uns übernehmen. Die Aufklärung würde in
einem sich selbst erhaltenden System, in der totalitären Herrschaft des
Allgemeinen über den vollends versachlichten, zum Objekt degradierten Menschen
enden.
Diese finale Rückkehr zur Unmündigkeit ließe uns das
Leben andererseits aber so viel leichter leben: Ich wäre nicht länger angehalten,
Erklärungen zu liefern, selber zu denken, mir meine Identität mühsam zu erarbeiten
oder Verantwortung für mich, für andere, für die Gesellschaft, für die Zukunft
der Menschen zu übernehmen. Ich wäre so wie Wir. Eins mit der Masse. Auf ewig Knecht
des substituierten Gottes Algorithmus: Die Kultur wäre liquidiert, ohne
Aussicht auf Auferstehung.
Es würde Herrschaft dialektisch nicht einfach in
Mythos umschlagen – wir fänden uns geradezu in einem vormythischen Urzustand
wieder. Nur wäre das nicht das Paradies: Hier wären weder Sündenfall noch
Vertreibung möglich. Denn der nutzenorientierte, auf Selbsterhaltung
programmierte Algorithmus würde einen Teufel tun und, wie der alte Gott, mitten in diese Oase die süßen Früchte
der Versuchung pflanzen, die geradezu nach Normverletzung schreien:
Wer erkennen kann, ist zumindest
prinzipiell in der Lage, den Anspruch auf absolute, ewige Gültigkeit definierter
Normen und Werte sowie der entsprechenden Ge- und Verbote in Frage zu stellen. Damit
wäre die Bedingung der Möglichkeit der Autonomie von jeder Autorität erfüllt.
Und diese ist nun mal kontraproduktiv,
subversiv, subjektiv. Destabilisierend und somit systemgefährdend.
5.
Der Mensch begäbe sich aus freien Stücken unter
das Kuratel seines selbst erschaffenen rationalen Prinzips. Sein Ich wäre aus seiner
Individualität entlassen. Aufgegangen im Kollektiv, in der Masse, die nach
Karriere und Konsum, nach sozialem Aufstieg und Akzeptanz, nach pekuniärer
Reputation und vor allem nach Entsagung von der Mühsal individueller Legitimierungsbestrebungen
strebt. Meine Sichtweise wäre die Sichtweise aller, die Werte, die ich
vertrete, wären die Werte der Verwertbarkeit. Alles wäre nach ihrem Primat ausgerichtet,
alle Verhaltensweisen, Denkstrukturen, Ansichten, Meinungen, Urteile – und
damit auf ewig gesellschaftlich akzeptiert.
Aber was bedeutet das in der Konsequenz? Dazu sollte
man sich vielleicht einmal kurz den Prozess der Zivilisation vor Augen halten, den
der Soziologe Norbert Elias, grob vereinfacht, so beschrieb: In dem Maße, in
dem wir durch die Aufklärung unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir
äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das verpflichtet uns zunehmend
zur Selbstverantwortung, die wir uns mühsam täglich neu erarbeiten müssen. Da
uns dabei in unserer globalisierten und so rationalisierten wie säkularisierten
Welt mehr und mehr die tradierten Werte abhanden kommen, die uns heilsgewisse
Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit
und Unsicherheit.
Die Mühsal, sich seinen eigenen Werterahmen schaffen,
abgleichen und rechtfertigen zu müssen, wird dem Menschen aber auf Dauer zu
viel. Er begibt sich in den warmen,
wohligen Schoss eines Wir. In diesem Wir
bekomme ich meine Ansichten, die ich zu haben habe, mundgerecht zugeteilt – vorgestanzte,
für alle verbindliche Werte, vorgesetzt von einer Autorität: Damit verabschieden
wir uns wieder aus der Zivilisation und laden die Barbarei zur
Rückkehr ein.
In solch einer Phase befinden wir uns
derzeit. Die Individualisierung der Gesellschaft trifft auf eine Gegenbewegung,
gekennzeichnet von der Unterordnung der Individuen unter eine Masse. Sie wird angeführt
von falschen Propheten, von Autokraten, Oligarchen, potentiellen Diktatoren.
Oder eben auch, auf einer allgemeineren Ebene, von dem ökonomischen Diktat, der
reinen Lehre der Funktionalität mit ihrem mathematisch
grundierten Wertesystem, das als Werte nur noch Nutzwerte akzeptiert. Dieses Diktat ist der Geist, den wir im
aufklärerischen Prozess unserer Rationalität selber riefen – hier zeigt sich das
dialektische Momentum der Aufklärung, die „Verschlingung
von Mythos und Aufklärung“ (Jürgen Habermas):
“Wie
die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt die Aufklärung mit jedem
ihrer Schritte sich tiefer in Mythologie.“ (Horkheimer/Adorno)
6.
Schon mit den Anfängen der Herrschaft
der Rationalität wird nicht nur Natur von Kultur geschieden und Mythologie
überwunden – es geht damit auch eine zunehmende Individualisierung des Ich
einher, die eben auch Abkehr vom Kollektiv, Vereinsamung und Entfremdung vom
Wir bedeutet. Das Ich als soziales Wesen ist aber nun einmal erstens von einer
tiefen Sehnsucht beseelt, in dem Kollektiv, der Masse, der Gemeinschaft, in der
es Orientierung, Handlungsanweisungen und einen stabilen Werterahmen vorfindet,
aufzugehen. Und zweitens von einer archaischen Sehnsucht zur Irrationalität,
zur Unmittelbarkeit, zu magischen Ritualen, wo es, in spirituelle Ekstase
versetzt, Geist und Seele zu spüren glaubt: der Weg zurück zur Einheit von
Natur und Kultur, diesem mythisch-mystisch verbrämten paradiesischen Urzustand.
Unsere mathematisch grundierte und ökonomisch
strukturierte Lebenswelt befriedigt die erstgenannte Sehnsucht des Ich, den
Wunsch nach Rückkehr in den wohligen Schoss des Kollektivs, der gleichen
Meinung, der gleichgerichteten Intentionen, Wünsche und Bedürfnisse. In ihm lässt
es sich, sofern man zum herrschenden Wir gehört, herrlich entspannt und
verantwortungslos leben. Das Ich hat hier,
wonach sein Herz begehrt. Und doch begehrt es auf:
Es tauchen, als Reflex auf die sich als allmächtig
gerierende rational-mathematische Tiefenstruktur, in den letzten Jahrzehnten
vermehrt konkurrierende autokratische Modelle auf, die einen geradezu magischen
Reiz auf die Menschen ausüben. Warum nur? Auch wenn sie doch nur die gleiche
Sehnsucht nach dem Kollektiv zu bedienen scheinen – etwas ist anders: „Das Zeitalter der Aufklärung ist vorbei“,
tönt etwa Stephen Bannon, Trumps propagandistischer Einflüsterer. Und entpuppt
sich dabei, so Michaela Wiegel in der F.A.S., als glühender Verehrer von
Charles Maurras, Vordenker der rechtsextremen, monarchistischen Ligue d’Action
francaise, bekennender Antisemit, Revanchist und Sympathisant des Faschismus
und Franquismus. Auf den sich, wie sollte es anders sein, auch die Front National
als geistigen Vater beruft.
Mit dieser Prophezeiung vom Ende der Aufklärung sind
Prophezeiungen vom Ende der Herrschaft der Vernunft, der Demokratie in unserem
heutigen rechtsstaatlichen Verständnis, des epistemischen Relationismus und der
individualistischen Bewegung mit ihrer relativistischen Denkstruktur verbunden.
Ihr Pendant finden sie im Fanal des Kollektivs, des Volkes, der wahren Nation,
der tradierten Werte und ehernen Prinzipien. „Wir brauchen Meister, denen wir folgen können“, so Marine Le Pen, „und wir brauchen auch einen Gott.“
Damit gibt Le Pen einen deutlichen Fingerzeig
darauf, was die populistischen, islamistischen,
osmanischen, identitären, evangelikalen, nationalistischen und auch völkischen
Bewegungen in ihrem Innersten eint – das Streben nach Befriedigung unserer
zweiten, archaischen Sehnsucht nach einer neuen Spiritualität:
In unserer durch und durch rationalen und durchrationalisierten Welt herrscht das Primat der Verwertbarkeit und Messbarkeit mit einer totalitären Konsequenz bis in die letzte Fibrille unseres Lebens, Denkens und Handelns – und mit ihm der positivistische, säkularisierte Gott der Vernunft. Ein kühler, nüchterner, pragmatischer Autokrat, der uns, im Gegensatz zum Herrscher der alten Ordnung, zu Jahwe, Gott und Allah, kein emotionales Momentum zu gestatten scheint, das unser archaisches Bedürfnis nach Unmittelbarkeit und Irrationalität befriedigt. Bei ihm gibt es keine Fluchten, in denen man vor dem langen Arm der Ökonomie und Mathematik, des Nutzwerts, der Effizienz und Funktionalität, der Benennung, des Begreifens und Erklärens sicher ist. Kein Ausweg, nirgends. Kein zwischen den Zeilen. Keine Lücken. Kein Hiatus. Alles ist bei ihm ausgefüllt. Das Leben ein Algorithmus. In mathematische Formeln gepackt, berechnet und vorbestimmt bis zum jüngsten Gericht: ein Overkill der Orientierung, Gleichheit und Ereignislosigkeit.
7.
Der Mensch sehnt sich aber nach magischen
Momenten, nach kollektiven Erweckungserlebnissen, die einen entscheidenden
Beitrag zur Konstitution einer gemeinsamen Identität leisten, welche immer auch
einer, bisweilen radikalen, Abgrenzung vom Anderen bedarf. Er sehnt sich nach identitätsstiftenden
und -bestätigenden Ritualen, in denen er zu einem neuen
Glauben findet, der ihn im selbstreferentiell konstituierten Kollektiv im
Besitz der einzig gültigen Wahrheit wähnen lässt.
In welcher ihrer unzähligen Schattierungen diese
regressive Tendenz nun auch auftritt, unter welcher Flagge die Menschen sich grad
mal wieder bis aufs Blut bekämpfen oder auch temporär zu befremdlichen
Allianzen zusammenfinden – diese Tendenz hat das Potential, das bestehende Primat
der Verwertbarkeit und Messbarkeit, die Herrschaft der Rationalität zu brechen.
Wogegen prinzipiell nichts einzuwenden wäre, aber angesichts der Gefahr unbeabsichtigter
oder sogar unabsehbar dramatischer Folgen für uns alle doch eher auf andere, in
ihrer Konsequenz beherrschbare Weise geschehen sollte.
Nun sollte man aber nicht die
Anpassungsfähigkeit der modernen Protagonisten des rationalistischen Konzepts und
ihrer Abermillionen Eleven weltweit unterschätzen. Denn sie verstehen es
durchaus, strukturell und inhaltlich diese archaische Sehnsucht aufzufangen, sei
es nun intuitiv oder intendiert und damit ganz bewusst. Sie haben das Potential
zur Selbsterhaltung. Was sich geradezu beispielhaft in den Unternehmen im Mekka
der neofuturistischen Bewegung des digitalen Zeitalters, dem Silicon Valley, zeigt.
Diese Unternehmen sind anderen in einem
ganz entscheidenden Punkt voraus: Sie haben die emanzipatorische Kraft ihres
Ursprungs, die antiautoritäre und enthierarchisierte Ordnung der Hippie- und New
Age-Kultur als Attitüde konserviert und sind so in der Lage, die kalte, abweisende Nüchternheit der Algorithmen,
dieser letztgültigen Ausformung des rein nutzenorientierten, rationalen
Prinzips und damit des Schlussakkords der Dialektik der Aufklärung, ein Stück
weit zu kompensieren.
8.
Die neuen Hohepriester der Rationalität,
die in ihren fast wie Sekten organisierten und vor allem weiße Jungs bevorzugenden
‚Bro-Kultur’ (Bro = Brother) geprägten Unternehmen flache Hierarchien predigen,
aber streng hierarchisch organisiert sind, stillen mit ihrem
Sendungsbewusstsein und der geradezu hypnotischen Kraft ihrer Vision von einer digital
transformierten schönen neuen Welt das mythische Grundbedürfnis ihrer Jünger. Sie
vereinnahmen sie, saugen sie auf. Fordern den ganzen Menschen. Und berauben ihn
seiner Privatheit. Im Zuge dessen wird die Grenze zwischen Öffentlich und Privat
zunehmend verwischt, Außen und Innen gehen ineinander über. Damit
scheint Realität geworden zu sein, was Hannah Arendt bereits
in den 50er Jahren prognostizierte: dass die
moderne Gesellschaft sukzessive „den
Unterschied zwischen Privat und Öffentlich“ abschafft, dass sie „zwischen Privat und Öffentlich eine
gesellschaftliche Sphäre“ einschiebt,
„in welcher das Private öffentlich und das Öffentliche privatisiert wird“.
Hier wird das Öffentliche eins mit dem Privaten. Ein
sichtbares Zeichen, Stein gewordenes Menetekel dieser radikalen Konsequenz, ist
der Campus, den Frank Gehry für Facebook im Silicon Valley in die Landschaft gesetzt
hat. Wo das Private verloren geht, ist der Verlust der Individualität und
individuellen Identität nicht weit. Das Ich geht auf in der Masse. Es ist seinen Zeremonienmeistern 24/7 stets zu
Diensten. Adaptiert intuitiv die Werte des Systems als die eigenen Werte und
erntet so systemische Akzeptanz. Alles
bewegt sich intentional gleichgeschaltet im gleichförmigen Algorhythmus auf ein
verklärtes und spirituell aufgeladenes Ziel der paradiesisch-digitalen Endzeit
hin – die allerdings die Gefahr in sich birgt, in der Umkehrung und Verewigung des
Herrschaftsverhältnisses von Mensch und Maschine zu münden.
Die Identität des Einzelnen wird in
diesem Kontext durch die moderne Variante der Masse definiert: der Community. Auch
sie kennt keine konkrete
individuelle Verantwortung mehr, nur noch die diffuse des Kollektivs. Diese Diffusion der Verantwortung besitzt für
den Einzelnen eine erregend enthemmende Kraft: Wo nur noch eine kollektive
Verantwortung besteht, braucht sich niemand mehr für irgendetwas verantwortlich
zu fühlen – und werden die Taten im Sinne und Interesse der Community verübt, wird
auch niemand zur Verantwortung gezogen werden. Zumal der Einzelne ja doch nur
das Beste will. Allerdings können, das hat eindrucksvoll der Linguist Rudi
Keller am Beispiel des Sprachwandels gezeigt, intentional gleichgerichtete Handlungen der Menschen nicht-intendierte kausale Konsequenzen zeitigen.
Die im wahren Leben, selbst wenn
alle nur das Beste wollen, schon mal recht unangenehm
ausfallen können.
Viele dieser
Konsequenzen sind überraschend, manche aber durchaus vorhersehbar. Unter normalen Umständen würde,
zumindest theoretisch, das juristische Prinzip des Eventualvorsatzes greifen, die
‚billigende Inkaufnahme“. Aber das
interessiert die programmierte, gleichgeschaltete Community herzlich wenig. Sie gehorcht, ohne sich
dessen bewusst zu sein, ihrem hypertrophierten rationalen Prinzip
als der absoluten Instanz. Dadurch hat sie, so Sigmund Freud, „das Gefühl der Allmacht, für das Individuum
in der Masse schwindet der Begriff der Unmöglichkeit“. Oder wie Gustave
Le Bon in seinem grundlegenden Werk „Psychologie der Massen“ bereits 1895 konstatierte:
„Die
Gewissheit der Straflosigkeit, die mit der Menge zunimmt, und das Bewusstsein
einer bedeutenden augenblicklichen Gewalt, bedingt durch die Masse, ermöglicht
der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die dem Einzelnen unmöglich sind.“
Es besteht die Gefahr, dass dann Unmenschlichkeit
zur Normalität wird. Günther Anders sprach in diesem Zusammenhang von der „Chance zur unbestraften Unmenschlichkeit“,
die prinzipiell jeder, der sich einer den anderen überlegen fühlenden Gruppe
angehört, auch bereit ist zu nutzen. Egal, ob er nun ein Unmensch ist oder aber
ein liebenswerter Durchschnittsbürger, der ansonsten keiner Fliege etwas
zuleide tun kann.
9.
In Nevada spielt sich jedes Jahr Ende
August, Anfang September ein grandioses Schauspiel ab, das mittlerweile rund 70.000
Menschen in die Einöde des Black Rock Desert lockt
– das Burning Man Festival. Apostrophiert
als fröhliches Fest einer Sharing-Community und Gifting-Kultur, als
kommerzfreie Flucht aus dem ökonomisch dominierten Alltag wurde der Ausläufer der New-Age-Bewegung
an San Franciscos Baker Beach
1986 als
Sonnenwendfeier von einer Gruppe um Larry Harvey gegründet. Der fungiert heute, wie
sinnig, ganz im sprachlichen Duktus US-amerikanischer Companies als CPO des
Burning Man Project: ‚Chief Philosophic Officer’.
Die räumliche wie spirituelle Nähe des ersten
Burning Man Festivals zum Silicon Valley und seinen Protagonisten war und ist kein
Zufall. Viele der Hacker, Programmierer und Techniker der ersten Stunde standen,
wie der bekennende Buddhist Steve Jobs, der Hippie- und New Age-Bewegung und
ihren emanzipatorischen Idealen nahe, die auch zur Gründung der berühmten Midpeninsula Free
University in Palo Alto führte. Diese
rebellischen Freaks sahen in dem Computer ein im besten Sinne kommunistisches Instrument,
mit dessen Hilfe sie glaubten, im Rahmen einer Sharing-Community eine bessere
Welt mit besseren Menschen schaffen zu können. Sie alle tummelten sich mit
Vorliebe im Umfeld des Xerox Palo Alto Research Center
(Xerox PARC), des Computerspiele-Herstellers Atari, 1972 in
San Jose gegründet, oder auch des berühmten ‚Homebrew Computer Club’, die
allesamt zum „Schmelztiegel einer ganzen
Branche“ (Harry McCracken) wurden.
Eben dieser ‚Homebrew Computer Club’, zu dessen Mitgliedern auch Steve Wozniak und, zumindest sporadisch, Steve Jobs gehörten, wollte, geleitet von ebenso utilitaristischen wie humanitären Motiven, den Traum der Hippie-Bewegung von „einer antiautoritären und enthierarchisierten Welt- und Wertordnung ohne Klassenunterschiede“ (Walter Hollstein) technisch in einer Art Open Society der digitalen Welt realisieren. Das erklärte Ziel: Befreiung von den Fesseln des Establishments, das IBM verkörperte. Und Entwicklung einer revolutionären, emanzipatorischen Idee – eines Computer, der allen zugänglich ist: dem persönlichen Computer. Der PC als Symbol der freien Entfaltung menschlicher Kreativität.
War es damals ein
Traum idealistischer Freaks, so ist dieser vorgebliche Altruismus heute geradezu
institutionalisiert. ‚Moonshot-Projects’ werden sie bei Google genannt. ‚Moonshot’
deshalb, weil sie mindestens so ambitioniert sind wie JFKs Apollo-Mondprogramm
Anfang der Sechziger. So drängt zum Beispiel ‚Google Classroom’ „mit Macht in die Klassenzimmer in aller
Welt“ (Inge Kloepfer) und ‚Google Book Search’ will nichts weniger als das gesamte
gedruckte Wissen der Welt digitalisieren. Alle Bücher sollen eingescannt und im
Internet allen zugänglich gemacht werden, um so als Open Source entscheidend zum Fortschritt der Menschheit
beizutragen.
Oder ‚X’, Googles sagenumwobene
Forschungsabteilung. Aufgebaut von Sebastian Thrun und geleitet von Sergey Brin
ist sie nicht allein verantwortlich für die Entwicklung von ‚Google Glass’ und ‚Google
Driverless Car’, sondern auch für das wohl derzeit ambitionierteste Projekt: ‚Google
Brain’ – die Verschmelzung von Computer- und Neurowissenschaft. Ausgehend
von der Deep-Learning-Theorie Geoffrey Hintons, hinter der die Vorstellung
menschlicher Intelligenz als singulärer Algorithmus steht, ist sie Basis für
die Realisierung autonomer, selbst lernender und sich stetig selbst verbessernder
Maschinen: Der Algorithmus als vollendete Abstraktion des Logos, die Maschine als
hypostasierter Gipfel der Künstlichen Intelligenz.
10.
Diese bizarre, unreflektierte Symbiose aus internalisierter
instrumenteller Vernunft, der utilitaristischen Komponente, und fast schon sakral
definiertem Ideal einer besseren Welt und höheren Zivilisationsstufe, der
humanitären Komponente, kennzeichnet die digitalen Jünger des Silicon Valley bis
heute. Kein Wunder, dass das Burning
Man Festival gerade in den Neunziger zur Wallfahrtsstätte auch vieler der heuten Gurus wurde: Hier konnte das menschlich
immanente Bedürfnis nach Spiritualität beispielhaft befriedigt werden – in magischen
Ritualen eins werden mit einer vermeintlich hierarchie- und kommerzfreien
Community.
Die sich so betont anti-ökonomisch gebenden
Hohepriester des Digitalen Zeitalters wie Elon Musk stehen dem ebenso nahe wie ein
Mark Zuckerberg, der vorgibt, allein im Sinne einer neuen, besseren
Gesellschaft zu handeln. Die Initiatoren dieses New Age Reloaded Festivals bieten
den Pilgern einen bunten Strauß an eklektizistischen Ideen, Rudolf Steiner
darin nicht unähnlich. Jeder findet dort etwas Passendes. Eingebettet in eine klassisch
sakrale Sprache warten die Organisatoren mit heidnischen Ritualen, magischen
Zeremonien, esoterischen Kursen, okkult-mystischen Praktiken, buddhistischer
Emphase, dionysischer Ekstase und Nietzsche als Spiritus rector, aber auch mit Sartre,
Jung, Fromm und Elias, mit urchristlichem Kommunismus, vermeintlich gottloser
Gläubigkeit und antiautoritärer, herrschaftsfreier Gesinnung in einer egalitären
Gemeinschaft auf.
Bei ihrer Mission, die Zivilisation
voranzubringen, wird das Burning Man Festival 2017 unter dem Motto „Radical Ritual" stehen. Was sich dahinter verbirgt? Benjamin Wachs, der unter
dem beeindruckenden Titel ‚Burning Man Project Philosophical Center Volunteer
Coordinator for Media Mecca’ firmiert, klärt uns unter seinem Alias ‚Caveat Magister’, der warnende Meister, mit Bezug auf C.G.Jung auf: Die westliche Kultur
steckt in einer kollektiven Sinnkrise – „be reduced to a bumper sticker, it
might be this one: Nietzsche Was Right.”
Gott ist tot. Und die Welt seit Freud
und Einstein relativ. Die Menschen sind aber nicht dafür geschaffen, in einer relativen
Welt ohne höhere Führung zu leben. Sie sind verzweifelt auf der Suche nach ihr,
damit sie wissen, wer sie sind und was zu tun ist. Ohne Führung kommen sie mit den Optionen des Lebens nicht zurecht
– sie sind zur Freiheit verdammt (Sartre): „Our
limitless freedom makes us deathly afraid.“
Die Analyse des Caveat Magister klingt durchaus plausibel: Wir sind auf der Suche nach einer neuen zentralen Kraft, einem prophetischen Kult, weil uns die moderne Welt keinen festen Punkt bietet, der unser Leben bestimmt. Die einen finden ihn als Gott in fundamentalistischen Strukturen, die anderen in Substituten. In der Kunst, wie amerikanische Soziologe Philip Rieff meinte. Oder auch in der Technologie: „Computers, we’re told, will become so advanced, so smart, that they’ll be able to tell us what to do and who to be.“ Dann müssten wir endlich keine Verantwortung mehr für unser eigenes Schicksal übernehmen. Aber nichts da. Die Versuche „by re-creating the God of our fathers in the form of art and data will fail“ (was Ray Kurzweil wohl dazu sagt?).
Um die uns von
Nietzsche prophezeiten Herausforderungen meistern zu können, müssen wir uns statt
dieser Substitute Gesellschaften schaffen, die es uns ermöglichen, unser Leben ohne
übernatürliche Autorität, ohne einen Gott zu leben: „Even if God is dead – especially if God is dead – we may still need
sacraments.“ (Larry Harvey ) Jeder erfolgreiche Prozess beginnt also, so
die Apologeten des New Age Reloaded, nicht mit nüchterner Intellektualität oder
grauer Theorie, sondern mit der Gemeinschaft und den Ritualen, die diese
Gemeinschaft aufrechterhalten: „Not fixed
points in an eternal firmament, but moments of immanent and transcendence (...)
give us experiences of spirit and soul.“
Die neue Zeit, so ihre
Prediger, scheint nun gekommen. Die menschliche Gemeinschaft wird in ihr nicht mehr
durch das definiert, was wir glauben, sondern durch das, was wir gemeinsam tun:
Burning Man als radikal neue Art der Religion. Gottlos. Reine Spiritualität. Ein
Momentum der Immanenz und Transzendenz, bestimmt von gemeinsamen Gründen,
Aktivitäten, Ritualen und den Erfahrungen von Geist und Seele. Und dabei liefert
uns, so CPO Larry Harvey, das Burning Man Ritual
als Radical
Ritual „very nearly textbook examples of religious
experience“.
11.
Im Burning Man Festival wird die Vision einer Religion ohne Gott und Glaube, ohne Autorität, Hierarchie und Kommerz gelebt. Einer Religion, die allein aus dem Radical Ritual besteht, mit dem sich die Mitglieder als Gemeinschaft konstituieren. So das Mantra ihrer geistigen Väter, die sich ungeachtet der demonstrativ unreligiösen Religion, die sie predigen, durchgängig einer sakralen Sprache bedienen, um die eigene Sache gezielt zu sakralisieren. Da wird der nach-konfessionelle heilige Bezirk des Tempels beschworen, in dem sich in einer postmodernen Wallfahrt eine Erlebnisgemeinschaft entwickeln kann, die nicht dem Diktat einer kirchlichen Autorität unterliegt. Und man wendet sich dort dem ‚Media Mecca’ ebenso zu wie vom ‚Nightlife in the Sacred City’ geschwärmt wird: „where magic happens“.
Im Burning Man Festival wird die Vision einer Religion ohne Gott und Glaube, ohne Autorität, Hierarchie und Kommerz gelebt. Einer Religion, die allein aus dem Radical Ritual besteht, mit dem sich die Mitglieder als Gemeinschaft konstituieren. So das Mantra ihrer geistigen Väter, die sich ungeachtet der demonstrativ unreligiösen Religion, die sie predigen, durchgängig einer sakralen Sprache bedienen, um die eigene Sache gezielt zu sakralisieren. Da wird der nach-konfessionelle heilige Bezirk des Tempels beschworen, in dem sich in einer postmodernen Wallfahrt eine Erlebnisgemeinschaft entwickeln kann, die nicht dem Diktat einer kirchlichen Autorität unterliegt. Und man wendet sich dort dem ‚Media Mecca’ ebenso zu wie vom ‚Nightlife in the Sacred City’ geschwärmt wird: „where magic happens“.
Ziel ist es, dass der Einzelne seiner rationalen
Denkstruktur vorerst entsagt und im kollektiv-ritualisierten religiösen Erleben
eine egalitäre, spirituelle Gemeinschaft konstituiert. Selbstvergessen soll er so
Teil der Community werden. In ihr aufgehen. Damit
einher geht sein Schritt aus der individuellen Freiheit in die Unfreiheit. Der
ihm jedoch die Furcht vor der Freiheit nimmt: die Furcht, sein Leben eigenverantwortlich
leben zu müssen. Denn nun ist es die Masse, die Gemeinschaft, die Sharing-Community,
durch die er seine Führung erfährt. Hier gibt es keine konkrete individuelle Verantwortung mehr, nur noch die diffuse
des Kollektivs. Und wo nur noch kollektive Verantwortung besteht, muss sich
keiner mehr persönlich für etwas verantwortlich fühlen. Alles ist
vergemeinschaftet, auch die Verantwortung. Mithin wird die innere Kontrolle wieder durch äußere Verbindlichkeit
ersetzt.
Dies entspricht, obgleich ganz anders
intendiert, strukturell der entzivilisierten Gesellschaft, die für alle und
alles absolut gültige Normen setzt und, im schlimmsten Fall, die Barbarei zur Rückkehr einlädt (Norbert Elias).
12.
Zu behaupten, es gäbe keinen Gott, keine
höheren Mächte oder gar Autoritäten mehr, bedeutet nicht, dass dem auch so ist:
Wer die kollektive Konstitution einer Gemeinschaft durch gleichgerichtete
intentionale Handlungen predigt, die im Rahmen betont nicht-rationaler,
esoterisch-magischer Rituale und Kulte stattfindet, muss sich zum einen darüber
im Klaren sein, dass sich daraus ungeahnte kausale, nicht-intendierte
Konsequenzen ergeben können, die den sicherlich bestehenden guten Absichten
vollends zuwiderlaufen – der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton
beschrieb dieses Phänomen als das ‚Gesetz
der unbeabsichtigten Folgen’.
Zum anderen muss man sich auch darüber
im Klaren sein, dass solche Rituale dazu neigen, den Mythos wieder zum Leben zu
erwecken und damit das Ende der Aufklärung, die Aufgabe der Individualität und
die Lobpreisung der „künstlichen Masse“ (Freud)
einzuläuten. Die zeichnet sich erstens dadurch aus, dass sie ihren Mitgliedern einen
verbindlichen Werterahmen an die Hand
gibt, der ihnen heilsgewisse
Orientierung liefert und sagt, was
gut und böse, was richtig und falsch, was minder-, was hochwertig ist. Zweitens
dadurch, dass die Masse als Masse, in diesem Fall: als spirituelle Gemeinde, die
fundamentale kulturelle Dichotomie von Innen und Außen konstituiert. Von Identifizierung
und Abgrenzung. Wir und Ihr. Toleranz und Intoleranz:
„Im
Grund ist ja jede Religion eine solche Religion der Liebe für alle, die sie
umfasst, und jeder liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht
Dazugehörigen nahe.“
(Sigmund Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“)
Es ist
ein gefährlich naiver Irrglaube zu meinen, wir könnten als Gemeinschaft
gänzlich ohne Autorität leben: Ohne Führung besitzt die Masse ein Vakuum, das danach
strebt, ausgefüllt zu werden. Und sei es eben durch die Gemeinschaft selber, die
zwar, wie die Burning Man Community behauptet, ohne Autorität handelt, dabei sich
selber aber als Autorität substituiert. Jedoch entspricht ihr kein physisches
Pendant: Die ‚Gemeinschaft’ ist eine Universalie, ein Allgemeinbegriff. Sie
kann somit faktisch nicht diese Autorität sein. Dies kann nur der sein, der
diese Gemeinschaft bildet: der konkrete Mensch. Aber der hat nun mal die
unselige immanente Tendenz, nach Höherem zu streben. Nach Macht. Was im Extrem
bedeutet: sich im Besitz der Wahrheit zu wähnen und verbindliche Werte für die Mitglieder der Gemeinschaft
definieren zu wollen.
Ohne rechtsstaatliche Strukturen, die den
unheiligen Neigungen des Menschen Einhalt gebieten, kann auch die wundervollste
Utopie schnell zur totalitaristischen Dystopie werden: Früher oder später
schält sich einer heraus. Profiliert sich. Sticht andere aus. Erhebt sich über
sie. Und die Masse folgt ihm wie die Lemminge.
13.
Das Primat der
Ökonomisierung und Verwertbarkeit, die Herrschaft der totalen Berechenbarkeit bestimmt
unsere Lebenswelt, unser Denken und Handeln. Auch das Denken und Handeln derer,
die von dem Ideal einer besseren, gerechteren Welt und egalitären Gemeinschaft
beseelt sind. Selbst wenn sie selbst meinen, ihre internalisierte instrumentelle
Vernunft so einfach wie einen Mantel an der Garderobe abgeben zu können. Sei
es, wenn sie selbstvergessen ihren emanzipatorischen Traum vom Personal
Computer, vom anarchisch strukturierten Internet, der Sharing-Community oder
dem weltverbessernden Algorithmus realisieren. Sei es, wenn sie ihr Verlangen
nach dem Numinosen, nicht Erklärbaren, ihre Sehnsucht nach Spiritualität, nach
dem Irrationalen und nur im Kollektiv mit Geist und Seele Erlebbaren zu
befriedigen suchen, weil ihnen die zweckrationale Welt verständlicherweise zu
kalt, zu abstrakt und zu nüchtern ist.
So sympathisch
vielleicht das Eine und zutiefst menschlich das Andere ist: Was, wenn man die im
Zuge der Aufklärung nahezu vollständig vollzogene Durchdringung der
positivistischen Denkstruktur nicht erkennt, die darin bereits manifestierte
Struktur der Herrschaftsverhältnisse ignoriert und seine individuelle, niemals davon
gänzlich aufzulösende systemische und lebensweltliche Gebundenheit partout
nicht wahrhaben möchte? Und dann doch den Traum von einer antiautoritären,
herrschaftsfreien Community träumt und sich zudem einer radikalen Ritualität
hingibt, die diesen Traum spirituell maximal überhöht? In diesem Fall wird Reflexion zwar nicht obsolet, aber nichtig.
Erfolgt sie doch in einer selbstreferenziellen Filterblase: Es wird nur im
inneren Zirkel diskutiert, Einflüsse von außen sind nicht vorgesehen. So ist
subversive systemische Kritik ausgeschlossen, die Gefahr einer grundsätzlichen
Infragestellung des gesamten Projekts gebannt: Man übereignet sich dem allseits
Akzeptierten.
Da wird auch die technisch
affine Generation leichte Beute für die, die diese Naivität für ihre Zwecke zu
instrumentalisieren wissen: Bill Gates wusste es, als er seine Programme versilberte
statt sie allen zur Verfügung zu stellen. Steve Jobs auch, als er den Menschen die
Einführung des Macintosh 1984 als Akt der Befreiung von Orwells Dystopie ‚1984’
verkaufte, die IBM verkörperte. Peter Thiel weiß es, weil er die Welt zu einem
Ort machen will, wo der Kapitalismus sicher gedeihen kann. Ebenso Mark
Zuckerberg, der in sich den Menschen sieht, der der Zivilisation den von Peter
Thiel erträumten Mechanismus der Freiheit schenken wird. Und Geoffrey Hinton sowieso, weil er in dem
Algorithmus den Stein der Weisen gefunden zu haben glaubt, mit dessen Hilfe die
Maschinen einmal ein Eigenleben führen werden.
14.
1884 wurde in London
eine elitäre intellektuelle Bewegung gegründet, die sich dem hehren Ziel verschrieb,
die Ideen des Sozialismus weiterzuentwickeln: die ‚Fabian Society’. Sie vertrat
einen gesellschaftskritischen Ansatz, für den sich insbesondere viele sozialutopisch
gesinnte Intellektuelle der britischen Oberschicht begeisterten. Zu ihnen gehörten neben George Bernhard Shaw,
Beatrice Webb, Annie Besant auch die Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, später gesellte
sich der Philosoph Bertrand Russell hinzu. Ihr gemeinsamer Traum war der von einer
besseren Welt, von einer friedlich koexistierenden Weltgemeinschaft, getragen von
einer Spezies Mensch, die der bestehenden in jeder Hinsicht überlegen ist.
Hier liegt der
Schlüssel für den parallelen Bestand von Ansichten, der uns heute die
Sprache verschlägt. Viele dieser Intellektuellen
waren gleichermaßen von den Ideen des Liberalismus und Sozialismus beseelt wie
vom Geist des Sozialdarwinismus infiziert. ‚Survival
of the fittest’. Dieser Slogan des britischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer war
ihnen eine ganz selbstverständliche, völlig unkritisch perpetuierte Vorstellung:
Die Veredlung der menschlichen
Rasse nicht allein durch Erziehung und Bildung, sondern durch natürliche
Selektion. Und, um die Sache etwas zu beschleunigen: durch gezielte Anwendung der
Erbgesundheitslehre, der Eugenik.
Ein prominentes Mitglied
dieser Fabian Society, der Schriftsteller und bekennende Sozialist H. G. Wells,
Autor der Science-Fiction-Klassiker ‚Der Krieg der Welten’ und ‚Die Zeitmaschine’, war, wie viele
andere Mitglieder auch, ein glühender Anhänger dieser Lehre. Er hielt „die
Sterilisierung von Versagern für sinnvoller als Erfolgreiche stärker zu
vermehren“. Und
schrieb: „Jene Schwärme von schwarzen, braunen sowie
von gelben Völkern müssten weichen, weil sie den Erfordernissen der Effizienz
nicht entsprechen, denn schließlich ist die Welt keine karitative Institution.“
Ausgehend von diesem rein nutzendefinierten
Axiom einer naiven humanistischen Weltbeglückung war der Genozid für Wells eine
nüchterne, sozial legitimierte Etappe auf dem langen Weg der Menschheit hin zum
Ziel, eine bessere Welt zu erschaffen: „Wenn
die Minderwertigkeit einer Rasse demonstriert werden kann, dann gibt es nur
eines [...] zu tun – und dies ist, sie auszurotten.“ Hier ahnt man sie
nicht nur, hier wird sie einem sprachlich explizit auf der Silbertablett
serviert: die Nähe einer durchaus humanistischen, aber unreflektierten Gesinnung zum Grauen nationalsozialistischer Rassenhygiene.
In seinem 1914 erstmals
erschienenen, geradezu prophetischen Roman ‚Befreite Welt’ (The
World Set Free) entwickelte Wells eine Utopie in der Dystopie: Er
beschreibt die Entdeckung einer neuartigen Energiequelle von titanischem Format, die das Ende des Kohle- und
Stahlzeitalters einläutet und dabei, ungewollt, einen globalen wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Strukturwandel auslöst, der den Großteil der Menschheit
ins soziale Abseits befördert – die Kernenergie.
Moralisch verwerfliche Intentionen können
fruchtbare Auswirkungen haben (ein Phänomen, das als ‚Mandeville-Paradox’
bekannt ist). Umgekehrt können
aber auch tugendhafte Intentionen
furchtbare Konsequenzen haben. So wie in diesem Fall: Mit der Entwicklung der
Kernenergie geht bei Wells nicht allein ein verheerender Strukturwandel einher,
sondern auch die Entwicklung der Atombombe. Und was möglich ist, das wissen wir
aus der Geschichte, wird irgendwann wahrscheinlich: Die Waffe ist in der Welt.
Also ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie auch zum Einsatz kommt.
Die Katastrophe bricht mit geradezu
unausweichlicher Zwangsläufigkeit über die Menschheit herein, die Welt versinkt
in einem Atomkrieg apokalyptischen Ausmaßes: Ihre Vernichtung ist, ob nun absehbar oder nicht, logisches
resp. wahrscheinliches, aber nicht-intendiertes Resultat intentionaler Handlungen
– die Kernenergie wurde von Menschen in die Welt gesetzt, um sie besser zu
machen, nicht aber, um sie zu destabilisieren
oder gar zu zerstören.
Wells entwickelte aus diesem dystopischen
Szenario die blendende Utopie einer schönen neuen Welt: In klösterlicher Abgeschiedenheit der Alpen
finden sich Gelehrte und Politiker jenseits aller nationalen Egoismen zusammen,
um die Probleme der Welt unter der universalen Herrschaft der Vernunft in
Eintracht zu lösen. Diese führt zum evolutionären Endsieg des besseren Menschen,
dem Übermenschen von Nietzsche’schem Format: In einem medizinischen Zentrum im fernen
Himalaya beglückt die Wissenschaft, entrückt von allem Weltlichen, bis in alle
Zukunft als grundgütige oberste Instanz fürderhin die Menschheit.
Was für uns heute so
befremdlich klingt, ist doch ganz vertraut. Nicht allein, weil auch der
bekennende Nationalist Steve Bannon, ein Rechtspopulist mit ausgewiesenem
Faible für Lenin, von der völligen Zerschlagung staatlicher Ordnung als ideale Ausgangslage
für den Aufbau einer schönen neuen Weltordnung
schwadroniert, sondern weil uns auch Mark im Januar sein persönliches Weltbeglückungsszenario
offenbarte – das Zuckerberg-Manifest „To
our community“:
„Unsere
größten Chancen sind heute global. (...) Der Fortschritt verlangt, dass die
Menschheit nicht mehr nur in Städten und Nationen zusammenfindet – sondern in
einer Weltgemeinschaft. (...) In Zeiten wie diesen gibt es für uns bei Facebook
nichts Wichtigeres zu tun, als eine soziale Infrastruktur zu entwickeln, die
den Menschen erlaubt, eine Weltgemeinschaft zu schaffen, die für uns alle
funktioniert.“
15.
Ganz so dramatisch wie
bei Wells und Bannon ist die Ausgangslage bei Zuckerberg nicht. Aber in einem
Punkt treffen sie sich: Bei allen haben wir es mit einer Elite, einer auserwählten
Gruppe von Menschen zu tun, die die Prinzipien entwerfen, „nach denen unsere Gesellschaft funktionieren soll“, so Thomas
Schulz in seiner SPIEGEL-Titelstory. Die, die diese Vision haben, sehen in sich
natürlich auch jene Auserwählte, die befugt und befähigt sind, sie umzusetzen. Das
ist hier nicht anders: Der Algokrat von Facebook meint, die Menschheit mit einer
globalen sozialen Infrastruktur nach seinem Gusto beglücken zu müssen, die unseren
Planeten zu einer Insel der Glückseligen machen wird. Völlig altruistisch
natürlich, ohne jedes ökonomisches Eigeninteresse.
Wie ehedem die
Mitglieder der Fabian Society, so glaubt auch ein Großteil der Algokraten des
Silicon Valley „heute an ihre Mission,
die Zivilisation voranzubringen“ (Thomas Schulz). Programmieren für eine
bessere Welt: Die Hohepriester der digitalen Transformation übernehmen nicht
allein, was an sich ja lobenswert wäre, gesellschaftliche Verantwortung – sie hypertrophieren
diese Verantwortung. So sehen sich ausgerechnet die, die beseelt sind vom Glauben
an den Algorithmus als alternativlose Quintessenz der Aufklärung, in ihrem
missionarischen Eifer in der Rolle als finale Heilsbringer der
Menschheitsgeschichte:
„Wir müssen die Infrastruktur bauen, damit die Zivilisation die nächste Stufe erreicht und wir die Stammesfehden der Gegenwart hinter uns lassen können.“
(Mark Zuckerberg, To our community)
„Wir müssen die Infrastruktur bauen, damit die Zivilisation die nächste Stufe erreicht und wir die Stammesfehden der Gegenwart hinter uns lassen können.“
(Mark Zuckerberg, To our community)
Zuckerberg und die
anderen Apostel der digitalen Weltreligion glauben sich aktiv einschalten zu
müssen, weil die Technologie bedeutend schneller voranschreitet als die Politik
reagieren kann, zumal diese oftmals nicht weiß, wie sie reagieren soll. Aber
einer muss ja, so der moralisch begründete Impetus, verhindern, dass die
Menschheit den Anschluss an die Digitalisierung verliert. Und wir, wie in Wells
dystopischer Utopie, mit Konsequenzen konfrontiert werden, die niemand
intendiert hat, die sich aber kausal aus der technologischen Entwicklung
ergeben.
Geht es Zuckerberg nach eigener Aussage um den Aufbau einer zeitgemäßen Infrastruktur, die unsere globale Zivilisation auf ein geradezu übermenschliches Niveau hebt und damit ihr Überleben sichert, so verfolgen Forscher und Unternehmer wie Stephen Hawking, Bill Gates, Sam Altman oder Peter Thiel einen anderen Ansatz. Denn sie umtreibt der Gedanke, dass die Menschheit am Ende ihr Dasein als sklavischer Diener der von ihr selbst erschaffenen, selbst lernenden und selbst verbessernden Maschinen fristen wird.
Geht es Zuckerberg nach eigener Aussage um den Aufbau einer zeitgemäßen Infrastruktur, die unsere globale Zivilisation auf ein geradezu übermenschliches Niveau hebt und damit ihr Überleben sichert, so verfolgen Forscher und Unternehmer wie Stephen Hawking, Bill Gates, Sam Altman oder Peter Thiel einen anderen Ansatz. Denn sie umtreibt der Gedanke, dass die Menschheit am Ende ihr Dasein als sklavischer Diener der von ihr selbst erschaffenen, selbst lernenden und selbst verbessernden Maschinen fristen wird.
Diese Gruppe,
Initiatoren des Non-Profit Forschungszentrums ‚OpenAI’ (AI – Artificial
Intelligence), will uns vor dieser Apokalypse bewahren. Hier gäbe es kein
Odysseus mehr, der gefesselt dem Gesang der Sirenen lauschen würde. Hier gäbe
es nur noch uns, die Geknechteten, die sich zeitlebends dumpf in die Riemen zu
legen haben. Ohne Aussicht auf Erlösung für Menschheit und Zivilisation. Und
dummerweise auch ohne jede Chance darauf, seinen eigenen ökonomischen Erfolg in Freiheit auszukosten.
16.
Die verwegendste
Idee für ein globales Rettungsprogramm stammt dabei vom Tesla-Chef Elon Musk,
der uns alle, bevor es endgültig zu spät ist, zu Cyborgs mutieren lassen will:
Mit Hilfe implantierter neuronaler Chips sollen sie/wir zukünftig imstande sind,
die Maschinen mit ihren/unseren Gedanken zu steuern, damit nicht sie uns eines
Tages steuern werden.
Der Grat, auf dem er
wandert, um die Menschheit zu retten, ist jedoch ein ganz schmaler. Denn hier
ist, vielleicht ungewollt, der Schritt vom Transhumanismus zum Posthumanismus
und damit die radikale und finale Transformation der Zivilisation als
menschlicher Lebensform und der Spezies Mensch in ein Hybrid gedanklich bereits
vollzogen. Rationalität wird da nicht mehr vom Menschen, sondern von der Maschine
aus gedacht. Ganz so, wie es der britische Philosoph der neoreaktionären
Bewegung, Nick Land, propagiert: Der vom Menschen abgekoppelte Algorithmus wäre endgültig das Maß aller
Dinge, nicht mehr der Mensch.
Das „posthumanistische Zeitalter“ (Ray
Kurzweil) wäre angebrochen, in dem die Kreaturen, die wir geschaffen haben, die
ewige Herrschaft übernommen hätten (ob sich Horkheimer/Adorno dieses Szenario wohl
als finale furioso der Aufklärung hätten träumen lassen?). Aber auch diese
Weißen Ritter der Menschheit lassen keinen Zweifel daran, dass die rein
nutzenorientierte Weltsicht, diese vollständig von der Maßgabe der
Produktivität und Funktionalität beherrschte Denkstruktur, die einzig richtige
ist. Ja: die einzig mögliche. Völlig alternativlos. Auch sie setzen so ganz
unbefangen den zweckrationalen Blick absolut. Perpetuieren die Herrschaft der instrumentellen
Vernunft, die sich verselbständigt zu haben scheint.
Ungeachtet ethischer
Fragestellungen und möglicher unbeabsichtigter Konsequenzen wird in den diversen
kalifornischen Think Tanks mit einem geradezu
messianischen Sendungsbewusstsein an den biotechnischen Grundlagen für eine vermeintlich
höhere Zivilisationsstufe der Menschheit gearbeitet. So grübelt in Facebooks
Innovationslab ‚Building 8’ die aus der militärisch-industriellen Wissenschaft
stammende ehemalige Leiterin der Abteilung für innovative Forschung bei Google, Regina Dugan, mit
ihrem Team über die Technologie, Wörter per Gedankenübertragung von Computern
schreiben zu lassen.
Das kalifornische
Unternehmen ‚Unity Biotechnology’, finanziert unter anderem von Jeff Bezos und
Peter Thiel, rückt unter dem Slogan „Age Different“ sogar niemand geringerem
als dem Tod auf den Leib: „Ich bekämpfe
ihn lieber“, so Peter Thiel. Eine Kampfansage, die auch Google an den Tod
gerichtet hat: Google gründete 2013 die Forschungsabteilung ‚Calico’ mit dem Auftrag,
den Code der Alterung zu knacken. Ein Auftrag, dem
sich auch die SENS Foundation verschrieben hat, eine Non-Profit Organisation in
Mountain View unter der Leitung des schillernden britischen Bioinformatikers
Aubrey de Grey, der das Altern rein „auf ungünstige biochemische
Prozesse zurückführt, die durch gezieltes Beeinflussen gestoppt oder umgekehrt
werden können“.
Sie alle handeln sicherlich
nur in bester Absicht, glauben vielleicht wirklich an das Gute im Menschen.
Doch leider sind sie damit ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will –
und bisweilen eben auch das Böse schafft. Oder es zumindest nicht verhindert. Denn
das Böse lauert nicht im System. Das ist immer wertneutral. Es lauert im
Menschen. Und es gibt nun einmal immer jemanden, der das, was in bester Absicht
erschaffen wurde, für seine dunklen Zwecke instrumentalisiert. In diesem Fall
ist es die posthumanistische neoreaktionäre Bewegung im Silicon Valley, die mit
keinem geringeren Anspruch antritt als den, „die
Rationalität, die als emanzipatorisches Fortschrittsprojekt angetreten war, neu
zu programmieren“, so Mark Siemons in der F.A.S.:
Sie ist es, die die noch recht abstrakt erscheinende Gefahr der Künstlichen Intelligenz, die keine anderen Wertvorstellungen perpetuiert als die der Nutzwerte, in eine greifbare, konkrete Gefahr verwandelt.
Sie ist es, die die noch recht abstrakt erscheinende Gefahr der Künstlichen Intelligenz, die keine anderen Wertvorstellungen perpetuiert als die der Nutzwerte, in eine greifbare, konkrete Gefahr verwandelt.
17.
Nietzsche. Immer
wieder Nietzsche. Als Spiritus rector ist er allgegenwärtig. Im Guten wie im
Bösen. Damit dokumentiert er leibhaftig, wie schmal der Grat ist, auf dem sich die
Vertreter des humanistischen Ideals von der Evolution der Menschheit hin zu
einer höheren Zivilisationsstufe bewegen. Auf seinen Zenit zu, wo der Mensch sich
selbst „durch Verwirklichung neuer
Möglichkeiten (...) überwindet“ (Julian Huxley) und dabei den Übermenschen
gebiert (oder ist es, wenn dieser Berg kreißt, vielleicht doch nur eine Maus?).
Im Umfeld der Fabian
Society war Nietzsche ebenso präsent wie im Nationalsozialismus. Auch Horkheimer
und Adorno beriefen sich auf ihn als den „unerbittlichen Vollender der
Aufklärung“. Ebenso die New Age
Bewegung. Der Transhumanismus, ihr führender Vertreter war Julian Huxley, der
Bruder des Schriftstellers Aldous Huxley (‚Schöne neue Welt’), Humanist,
Menschenrechtler, Biologe, Atheist, erster UNESCO-Generalsekretär und Eugeniker
(sic!), tut es heute noch. Wie auch der Posthumanismus, der die Ansicht vertritt,
die Evolution der Menschen sei an ihr Ende gekommen und allein im Durchgang der
‚Technologischen Singularität’ (laut Geoffrey
Hinton die Phase, in der die sich stetig selbst verbessernde Künstliche
Intelligenz der Computersysteme der menschlichen überlegen zeigt) ein neues
Stadium der Menschheit und Zivilisation erreicht werden kann. Beim ‚Burning Man
Festival’ schwebt Nietzsche über allem. Nicht anders bei den radikalen Neoreaktionären
um Nick Land, ehedem ein linker Theoretiker, der einst, wie Mark Siemons
schreibt, „den Kapitalismus durch dessen
Beschleunigung zu überwinden“ gedachte. Heute reüssiert er als Posthumanist,
der die menschliche Geschichte durch die „techno-kommerzielle
Singularität“ neu schreiben will.
Der Transhumanismus ist eine philosophische Denkrichtung, die
die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, ob intellektuell, physisch oder
psychisch, im Sinne einer „Verpflichtung
zum Fortschritt“ der Zivilisation durch den Einsatz technologischer
Verfahren erweitern will. Julian Huxley, Vertreter eines evolutionären
Humanismus und Namensgeber dieser Konzeption, sprach sich für eine „wissenschaftliche Religion“ aus. Eine
Religion ohne Gott und Offenbarung, die den Menschen als höchstem Produkt der
Evolution dazu befähigt, eben diese Evolution wissenschaftlich zu kontrollieren
und die menschliche, soziale und kulturelle Entwicklung durch eugenische Eingriffe
wie die Gentechnik über den Punkt hinaus zu führen, der eigentlich menschenmöglich ist (was Bruder Aldous wohl dazu gesagt hat?).
Das Silicon Valley steht ganz in der Tradition eben
dieser transhumanistischen Philosophie und einer aus ihrer Sicht gänzlich positiv
aufgefassten Eugenik. Drum knüpft auch die gesamte Forschung zur Anwendung
neuer und künftiger Technologien an das humanistische Ideal von der Sicherung
des Wohls des Menschengeschlechts an. Sei es in der Nanotechnologie, der Gentechnik oder regenerativen
Medizin, sei es bei der Entwicklung der Superintelligenz und Erforschung von Gehirn-Computer-Schnittstellen,
um dereinst das Hochladen des menschlichen Bewusstseins in digitale Speicher zu
ermöglichen.
Was uns
die Wissenschaft und Technologie an radikalen Chancen zur Änderung und
Verbesserung bietet, müssen wir erkennen und antizipieren, so das Credo des
transhumanistisch geprägten Silicon
Valley.
Wir müssen lernen, von diesen Optionen aus zu denken und nicht von unseren gottgegebenen
Möglichkeiten, die uns allzu enge Grenzen setzen. Gott ist tot, wir haben seine
Funktion übernommen. Nur dass wir uns mit dieser Substitution nicht mehr in den
beklemmenden paradiesischen Grenzen bewegen werden, die uns der alte Herr
gesetzt hat, sondern zum absoluten Herrscher über Leben und Tod machen, wie es
Ray Kurzweil, der Prophet der Singularität, freudig verkündet. „Gemeint ist“, so Heike Buchter und Burkhard
Straßmann in der ZEIT, „die Ankunft des
wahren Erlösers – der lang ersehnte Triumph der künstlichen Intelligenz über
die menschliche. Die Singularität ist der Zeitpunkt, an dem die künstliche
Intelligenz die Kontrolle über das Schicksal der Erde übernimmt.“
Damit
wäre das finale Stadium der Evolution erreicht. Die Herrschaft des Algorithmus
als oberste Autorität, die einhergeht mit dem Verlust menschlicher Autonomie.
Als Gegenleistung erhalten wir unendliches Bewusstsein, eingebettet in einem
künstlichen Gehirn. Inkl. einer ewigen Sicherheitskopie mit
Unsterblichkeitsgarantie:
„Wenn wir die gesamte Materie
und Energie des Weltalls mit unserer Intelligenz gesättigt haben, wird das
Universum erwachen, bewusst werden – und über phantastische Intelligenz
verfügen. Das kommt, denke ich, Gott schon ziemlich nahe.“ (Ray Kurzweil)
18.
Es ist dies die
messianische Vision des dem Transhumanismus entwachsenen Posthumanismus: Die biologische Menschheit hat den
Gipfel ihrer Evolution längst erreicht. Nichts geht mehr. Wollen wir die nächsthöhere
Entwicklungsstufe intelligenten Lebens erklimmen, müssen wir in ein Zeitalter
nach der Menschheit eintreten. Dort liegt die Evolution aber nicht mehr in
unseren Händen, sondern in denen einer Künstlichen Intelligenz, die uns in
allem überlegen ist.
Das Ideal einer solchen, unser aller Vorstellungsfähigkeit sprengenden Superintelligenz hat der britische Mathematiker und Kryptologe Irving John Good bereits 1965 formuliert:
Das Ideal einer solchen, unser aller Vorstellungsfähigkeit sprengenden Superintelligenz hat der britische Mathematiker und Kryptologe Irving John Good bereits 1965 formuliert:
„Eine
ultraintelligente Maschine sei definiert als eine Maschine, die die
intellektuellen Fähigkeiten jedes Menschen, und sei er noch so intelligent, bei
weitem übertreffen kann. Da der Bau eben solcher Maschinen eine dieser
intellektuellen Fähigkeiten ist, kann eine ultraintelligente Maschine noch
bessere Maschinen bauen; zweifellos würde es dann zu einer explosionsartigen
Entwicklung der Intelligenz kommen, und die menschliche Intelligenz würde weit
dahinter zurückbleiben. Die erste ultraintelligente Maschine ist also die
letzte Erfindung, die der Mensch zu machen hat.“
Es mag sein, dass durch den damit verbundenen
technologischen Fortschritt die Dauer der menschlichen Lebenserwartung bis zur biologischen
Unsterblichkeit erweitert werden kann. Aber was haben wir davon? Die
Algorithmen werden weit intelligenter, schneller, effektiver und widerspruchsfreier agieren
als wir Menschen. Sie werden Selbstbewusstsein entwickeln, über eine Identität
und freien Willen verfügen.
Die Übernahme realer Macht wäre dann, so der
israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch 'Homo Deus’‚ nur noch eine Frage der Zeit. Der einst
von uns selbst ins digitale Leben gesetzte Algorithmus wäre jener Übermensch,
der uns minderbegabten Wesen paternalisch sagen wird, was wir zu tun und lassen
haben. Was gut, richtig, angemessen und förderlich ist. Und wenn wir nicht
systemisch angemessen funktionieren – sei’s drum. Dann wird uns der unsterbliche Algorithmus
eben den Stecker ziehen. Schon aus rein systemimmanenten Gründen.
„Als Cyborg ewig leben.“ Ist das, was Florian
Rötzer 1997 in einem SPIEGEL special noch als Zukunftsvision beschrieb, wirklich
der einzige Weg, um die Herrschaft der Maschine über den Menschen noch zu
verhindern? Diese These von Elon Musk wurde in Europa Anfang des letzten
Jahrhunderts schon einmal euphorisch begrüßt: Filippo
Tommaso Marinetti, ideologischer Kopf der protofaschistischen Futuristen,
propagierte im Geschwindigkeitsrausch der Automobilisierung bereits damals die
Menschmaschine, die vollständige „Identifizierung
des Menschen mit dem Motor".
Eben jene Futuristen begeisterten sich
zudem an den von dem französischen Chirurgen und Biologen Alexis Carrel 1908 erstmals vorgelegten Ergebnissen
zur Organtransplantation, die sie emphatisch als die „Zukunft des neuen Menschen’“ priesen, in der dieser in ein
mechanisches Wesen transformiert wird – eine
visionäre Vorstellung, die der australische Schriftsteller Max Barry 2012 in
seinem Roman ‚Maschinenmann’ wieder aufleben ließ.
Dass
sich Alexis Carrel als eingefleischter Eugeniker begeistert zu den
rassehygienischen Maßnahmen der Nationalsozialisten äußerte und von der
Überlegenheit der „weißen Rassen“ zutiefst
überzeugt war, ist kaum verwunderlich.
19.
Der Grat, der
humanistische Ideale von rassistischen Theoremen trennt, ist schmaler, als so
manchem lieb sein dürfte – jeder Sozialutopie, die von einem wie auch immer
gearteten Fortschritt der Zivilisation und Menschheit träumt, wohnt eine
gefährliche Ambivalenz inne. Das hat nicht nur die kommunistische Idee leidvoll
erfahren müssen. Eine jede Intention kann zu unbeabsichtigten kollektiven,
kausalen und nicht-intendierten Konsequenzen führen wie auch ein jedes Ideal
als geistige Manövriermasse von Gruppierungen vereinnahmt werden kann, die auf
Basis diametral entgegengesetzter Axiome mit diesem Ideal gänzlich andere
Intentionen verfolgen.
Eine neoreaktionäre
Gang junger Intellektueller um den
Software-Ingenieur Curtis Yarvin alias Mencius Moldbug, ‚NRx’, hat die kruden,
aber an sich wertneutralen
posthumanistischen Visionen
Ray Kurzweils und Geoffrey Hintons okkupiert,
um sie als Mittel zum Zweck der Implementierung ihres rassistisch-autoritären
Weltbildes zu nutzen. Die rein funktional definierte Rationalität des
Algorithmus, den der Mensch selber erschaffen hat, wird anstelle der
umfassenden Rationalität des Menschen zum Maß der Dinge erhoben: Es geht den esoterischen
Apologeten einer digitalen Autokratie darum, diese Maschinenintelligenz zu
antizipieren und so „die menschliche
Vernunft zu verändern“. Diese Übernahme der Perspektive und ihre
Absolutsetzung führt, wie Mark Siemons konstatiert, die Rationalität als „emanzipatorisches Fortschrittsprojekt“ geradewegs dialektisch „in eine totalitäre Dystopie“.
Für Neoreaktionäre von Curtis Yarvin bis Nick
Land hat sich die Demokratie als „dysfunktionales
System“ disqualifiziert. Nicht nur bei dem amerikanischen Philosophen Jason
Brennan, auch bei ihnen steht Platons Staatstheorie wieder hoch im Kurs: Nur
die Intelligentesten dürfen an der Herrschaft beteiligt werden. Und Intelligenz
ist natürlich, so ihr
rassistisches
Dogma, unter den Ethnien ungleich verteilt, da genetisch bedingt. Was
wiederum als ultimative Legitimation sozialer und ökonomischer Ungleichheit dient.
Ein allzu beklemmendes Szenario? Ja, vielleicht.
Die renommierte US-amerikanische Tageszeitung ‚Politico’ berichtete unlängst,
so Mark Siemons, Steve Bannon, ‚frontman’ der Alt-Right-Bewegung und
Chefberater Donald Trumps, habe sich mit eben jenem neoreaktionären Curtis
Yarvin zu einem Gedankenaustausch getroffen.
20.
Was tun?
http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8672907.html
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/neoreaktionaere-im-silicon-valley-14953248.html
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/netzwirtschaft/digitalisierung-der-mensch-ist-der-hund-und-der-roboter-der-boss-14940912.html
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/neoreaktionaere-im-silicon-valley-14953248.html
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/netzwirtschaft/digitalisierung-der-mensch-ist-der-hund-und-der-roboter-der-boss-14940912.html
http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/trump-berater-stephen-bannon-ist-fan-von-marine-le-pen-14953081.html
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