Assoziationen zur Frage: Ist das
Kunst?
1.
Man möchte meinen, dies sei eine Frage des Geschmacks. Aber weit gefehlt: Es ist schlicht eine unsinnige Frage.
Man möchte meinen, dies sei eine Frage des Geschmacks. Aber weit gefehlt: Es ist schlicht eine unsinnige Frage.
Die eigentliche Frage hinter der Frage, ob ein
Werk Kunst ist, lautet: Was ist Kunst?
Denn nur wenn diese Frage hinreichend beantwortet werden kann, wäre eine
Zuschreibung eines einzelnen Werkes als ‚Kunst’
überhaupt denkbar. Die Bedingung der Möglichkeit der Beantwortbarkeit dieser Frage
ist jedoch die Annahme der wie auch immer gearteten Existenz einer abstrakten
Idee: dem Wesen einer Sache.
Dieses Wesen ist ein sehr praktikables, jedoch rein
gedankliches Konstrukt, bei dem wir gewisse allgemeinverbindliche Merkmale
imaginieren, um etwas als etwas benennen zu können. In unserem Falle: als ‚Kunst’. Versucht man nun aber ihr Wesen zu
benennen, an dem ein Werk in irgendeiner Form teilhat und es, so geadelt, als ‚Kunst’ bezeichnet werden kann, dann wird
es diffus.
Dass dem so ist, liegt nicht an der Kunst. Das
Problem ist prinzipieller Natur. Denn schon der vermeintlich einfachere
Versuch, das Wesen eines Stuhls zu beschreiben, ist zum Scheitern verurteilt:
Welche Eigenschaften kennzeichnen einen Stuhl unzweifelhaft, eineindeutig, für
alle Ewigkeit, in allen sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten
als ‚Stuhl’? Mir ist nicht eine
bekannt.
Aber selbst wenn diese Frage wider Erwarten
beantwortet werden könnte – bereits die Art der Fragestellung, das wissen wir
seit Ludwig Wittgenstein, ist grundsätzlich unangemessen: Die Frage „Was ist Kunst?“ hypostasiert unterschwellig. So
kann man nur nach einem Gegenstand fragen, der zumindest potentiell über ein
real existierendes Referenzobjekt verfügt – also zum Beispiel der Stuhl, auf
dem ich gerade sitze – nicht aber nach einer gedanklichen Abstraktion, einer Universalie,
der keine physische Entität entspricht. Wie es
eben bei der ‚Kunst’ der Fall ist. Angemessener wäre da eher die Frage: Was verstehen wir unter ‚Kunst’?
Darauf gibt es nun aber keine
allgemeinverbindliche, für alle Zeit gültige Antwort. Es gibt nicht einmal eine
für den gegebenen Moment eineindeutige
Bedeutung des Wortes, also eine verbindliche Gebrauchsweise dieses Wortes in
einem bestimmten Sprachspiel innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Dessen
ungeachtet gehen aber alle Beteiligten stillschweigend
von einer
ausreichenden Schnittmenge der Gebrauchsweisen, sprich: Bedeutungen, und damit
auch analog von einem entsprechend
gemeinsamen Grundverständnis aus. So
auch bei dem Wort ‚Kunst’.
Jede Epoche hat ein anderes Verständnis von ‚Kunst’. Ebenso jede Kultur und Gesellschaft. Wie im Zweifelsfalle auch jede ihrer sozialen Gruppen. Oder womöglich jeder Angehöriger einer solchen Gruppe. Denn jeder ist etwas anders sozialisiert, war etwas anderen Einflüssen ausgesetzt. Bei denen individuell andere familiäre, geschlechtliche, ethnische, ethische, religiöse, psychologische Aspekte in je individueller Ausprägung eine Rolle spielen. Darüber hinaus gehört womöglich jeder zur gleichen Zeit verschiedenen Gruppen an, in denen wiederum verschiedene Einstellungen vorherrschen. Die aber nicht zwingend konstant bleiben müssen – was heute gilt, kann in ihnen morgen schon wieder ganz anders aufgefasst werden.
Die Frage „Was verstehen wir unter 'Kunst'?“ könnte also bestenfalls auf
eine im Max Weber’schen Sinne idealtypische Begriffsdefinition hinauslaufen,
bei der wir immer im Hinterkopf behalten müssen, dass sie nie einen
‚Ist’-Zustand, sondern immer nur einen hypothetischen Zustand beschreibt.
2.
Individuelle Handlungen können wertneutral sein.
Aber auch sehr tugendhaft. Oder moralisch verwerflich. Sie können Folgen haben,
die von den Handelnden beabsichtigt sind. Andere wiederum sind unbeabsichtigt
und nicht vorhersehbar. Manche sind vielleicht vorsehbar, aber dennoch
unbeabsichtigt. Tugendhafte Intentionen können furchtbare Konsequenzen,
moralische verwerfliche hingegen fruchtbare Auswirkungen haben. Ein Phänomen,
das als Mandeville’sches Paradox bekannt ist; Robert K. Merton hat es weiter ausgeführt und als 'Gesetz der unbeabsichtigten Folgen' in der
modernen Soziologie etabliert.
Kommt es nun zu einer Vielzahl ähnlicher
individueller Handlungen, gleichwelcher Couleur, so erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass es zu von den jeweils Handelnden unbeabsichtigten
Folgen kommt. Sprechakte sind solche individuelle Handlungen, die, täglich
millionenfach ablaufend, „Phänomene der
dritten Art“ zeitigen, wie sie der
Sprachwissenschaftler Rudi Keller nennt: Sie sind die nicht-intendierte „kausale Konsequenz einer Vielzahl
individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen
Intentionen dienen.“
Der Sprachwandel ist, so Keller, ein solches Phänomen.
Es wird „durch Handlungen der Individuen
hervorgebracht (...), ohne von diesen intendiert zu sein“. Damit ist der
Sprachwandel das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht aber das der
Durchführung eines menschlichen Plans. Mithin also das kollektive Resultat
individueller Handlungen.
Keller erläutert dieses Phänomen an einem überaus simplen Beispiel: Wie entsteht ein Trampelpfad? Jemand nimmt von einem Parkplatz aus nicht den Umweg über den Bürgersteig, sondern den direkten Weg über die Wiese hin zu seinem Ziel. Das tut er nur, weil er zu bequem ist, weil er keinen Umweg gehen und schnellstmöglich von A nach B kommen will. So denkt und handelt jeder Einzelne, der den direkten Weg nimmt. Das Resultat der Tausenden, die so denken und handeln, ist – ein Trampelpfad. Niemand hat ihn intendiert, aber alle haben ihn mit ihrer gleichartigen individuellen Intention, schnellstmöglich von A nach B zu kommen, geschaffen. So sieht’s dann aus: Zwar tragen alle einen Teil der Verantwortung, aber niemand ist für das Resultat verantwortlich. Wie immer bei solchen kollektiven Phänomenen der dritten Art.
Dieser Prozess der
unsichtbaren Hand, wie ihn Keller in Anlehnung an Adam Smith nennt, hat das
Zeug zu weit mehr als nur zu einer Theorie des Sprachwandels: Er hat das Zeug
zur Blaupause für alle Phänomene, die kollektive Resultate individueller Handlungen
sind – also für kulturelle Phänomene. Denkt man, zum Beispiel, Wittgensteins
Diktum von der Bedeutung eines Wortes als
sein Gebrauch in der Sprache konsequent weiter, so kann, darauf weist
Keller hin, der Bedeutungswandel als kollektive Änderung der Gebrauchsregeln
eines Wortes beschrieben werden.
Mehr noch: Der
Bedeutungswandel lässt sich in seiner synchronen und diachronen Gesamtheit des
tagtäglichen millionenfachen Vollzugs individueller Sprachhandlungen durchaus
als kollektive Bedeutungskonstitution begreifen. Denn Wandel ist nur da
möglich, wo es etwas zu wandeln gibt. Also Bedeutung. So gesehen sind Bedeutungswandel
und Bedeutungskonstitution eins, vereint in einem steten Fluss, der keinen
Anfang und, solange es Verwender der Sprache gibt, auch kein Ende kennt.
Bedeutung ist stets
fluid, bereits im Moment ihrer Konstitution immer schon wieder im Wandel
begriffen. Und das eben im millionenfachen Vollzug unter millionenfach anderen
individuellen Bedingungen, Einflüssen und Voraussetzungen. Die Gebrauchsweisen
sind somit in allen Verwendungen de facto immer etwas verschieden, es gibt nur
einen stillschweigend vorausgesetzten, hypothetischen Bestandszustand einer
Bedeutung.
So hypothetisch wie
auch die Vorstellung von der Sprache als Korpus. Eine äußerst nützliche
Hilfskonstruktion, die uns befähigt, den Gegenstand der Betrachtung
systematisch zu erfassen. Aber dennoch ist es nur eine Hilfskonstruktion. Wie
auch die Separierung in Grammatik, Syntax und Semantik. Wir trennen da, was nicht
zu trennen ist. Sprache als Sprache existiert allein im Gebrauch, den wir von
ihr machen. Sie ist nicht unabhängig davon und damit von uns zu denken – sie
wird erst durch uns zu dem, was sie ist. Schlafen wir, ist sie nicht. Nirgends.
Sie besitzt keinen eigenen Seinszustand, ist kein statisches Gebilde, sondern steter
Fluss, millionenfacher Gebrauch, Akt, Handlung, ‚energeia’, wie es W.v.Humboldt nannte.
3.
Wir tragen
gemeinsam Verantwortung für die Bedeutung, ohne als Einzelner dafür
verantwortlich zu sein. Sie ist das Ergebnis intentionaler menschlicher
Handlungen, nicht aber Resultat eines kollektiven menschlichen Plans: Ich will
in der alltäglichen Sprechweise auf eine sprachökonomisch angemessene Weise kommunizieren.
Deshalb unternehme ich in der Regel nicht den kommunikativ überflüssigen Versuch,
geplant und intentional Bedeutung zu konstituieren.
Darüber hinaus legt unsere kontinuierliche individuelle Teilhabe an diesem kollektiven Prozess der Bedeutungskonstitution auch die Konstitution des reziproken Phänomens nahe: das des gemeinsamen Verständnisses der am Sprachspiel Beteiligten, resultierend aus einer präsupponierten ausreichenden Schnittmenge der Gebrauchsweisen, sprich: Bedeutungen. Eine trügerische Hoffnung natürlich. Denn wo bestenfalls eine Schnittmenge, aber keine Übereinstimmung gegeben ist, da ist de facto das Missverständnis unser ständiger Begleiter in der Kommunikation: Es ist die Regel, nicht die Ausnahme.
Darüber hinaus legt unsere kontinuierliche individuelle Teilhabe an diesem kollektiven Prozess der Bedeutungskonstitution auch die Konstitution des reziproken Phänomens nahe: das des gemeinsamen Verständnisses der am Sprachspiel Beteiligten, resultierend aus einer präsupponierten ausreichenden Schnittmenge der Gebrauchsweisen, sprich: Bedeutungen. Eine trügerische Hoffnung natürlich. Denn wo bestenfalls eine Schnittmenge, aber keine Übereinstimmung gegeben ist, da ist de facto das Missverständnis unser ständiger Begleiter in der Kommunikation: Es ist die Regel, nicht die Ausnahme.
Solange wir also
nicht auf die verwegene Idee kommen, die Bedeutung eines Wortes wie ‚Kunst’ ein für alle mal per Diktum festlegen
zu wollen, können wir auf keine lexikalisch eineindeutig definierte,
unumstößliche und für alle verbindliche Bedeutung dieses Wortes rekurrieren.
Wir beziehen uns lediglich auf den fluiden sprachlichen Normalfall und verwenden
einen schwammigen, von uns in seiner Bedeutung, also seinem Gebrauch in der
Sprache, kaum jemals zureichend reflektierten Begriff.
So sind wir
gestrickt: Wir neigen dazu, selbst wesentliche Begriffe und ihre Bedeutung
nicht groß in Frage zu stellen, sondern ihren Gebrauch lax zu perpetuieren. Wenn
wir aber nicht die Bedeutungen reflektieren, also die verschiedenen aktualen
Gebrauchsweisen der Worte, die eigenen wie die der anderen, so sind wir auch
nur bedingt in der Lage, die Bedeutungsdifferenzen der Worte im Gebrauch der
verschiedenen Verwender zu erkennen.
Exponentiell dramatischer
erscheint dieses Problem, zieht man die diachrone Zeitachse in Betracht, in der
sich der Bedeutungswandel eines Wortes wie ‚Kunst’
ereignet, der sich, analog des Sprachwandels, als ungeplantes und
unbeabsichtigtes Resultat unserer millionenfachen kollektiven Sprachhandlungen
ergibt. Angesichts dessen muss ernsthaft die Frage gestellt werden, worüber wir
eigentlich sprechen, wenn wir über ‚Kunst’ sprechen – und was die jeweiligen Teilnehmer des Diskurses meinen,
worüber gesprochen wird.
(Nicht dass jetzt der eine oder andere zu früh zustimmend mit dem Kopf nickt: Ähnliches gilt auch für die Diskurse zum Thema ‚Markt’, ‚Staat’, ‚Gesellschaft’, ‚Kirche’ etc. pp.: Wir vergegenständlichen, was nicht gegenständlich ist. Reden so, als wäre die Sprache, der Markt, der Staat, die Gesellschaft oder die Kirche „ein Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften, ein Organismus, wie man im 19. Jahrhundert zu sagen pflegte“ (Keller).)
(Nicht dass jetzt der eine oder andere zu früh zustimmend mit dem Kopf nickt: Ähnliches gilt auch für die Diskurse zum Thema ‚Markt’, ‚Staat’, ‚Gesellschaft’, ‚Kirche’ etc. pp.: Wir vergegenständlichen, was nicht gegenständlich ist. Reden so, als wäre die Sprache, der Markt, der Staat, die Gesellschaft oder die Kirche „ein Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften, ein Organismus, wie man im 19. Jahrhundert zu sagen pflegte“ (Keller).)
4.
Im tagtäglichen
millionenfachen Vollzug der individuellen Sprachhandlungen haben wir zwar die
Absicht, uns mit anderen auszutauschen. Die Konstitution von Bedeutung ist dabei
aber ein unbeabsichtigter, ungeplanter und unreflektierter Nebeneffekt der
Kommunikation. Nur in Ausnahmefällen versuchen wir geplant und intentional
Bedeutung zu konstituieren. Die wissenschaftlichen Begriffsdefinitionen stellen
solche Ausnahmefälle dar. Oder auch die Inbesitznahme im politischen Diskurs,
wie es derzeit im völkisch-nationalen, xenophobischen und populistischen Kontext
geschieht.
Der Prozess der
unsichtbaren Hand, in dem wir gemeinschaftlich als nicht-intendierte kausale
Konsequenz unserer individuellen Sprachhandlungen die Gesamtheit der aktualen fluiden
Bedeutungen der Worte konstituieren, stellt eine aktive
und produktive Teilhabe der
Menschen an der Sprache, an ihrer Ausgestaltung und ihrem Wandel dar.
Im Gebrauch des
Wortes ‚Kunst’ konkretisiert sich diese sprachliche Teilhabe
auf exemplarische Weise. Verlasse ich die sprachliche Ebene und werde mit der Kunst
nicht als Wort, sondern als Werk konfrontiert, so habe ich nicht mehr nur Teil am
Gebrauch des Wortes ‚Kunst’, sondern
Teil an der Kunst selber.
Es kommt damit zu einer Teilhabe höherer Ordnung. Teilhabe bedeutet
hier aktive, intentionale und individuelle Auseinandersetzung mit dem Werk –
KünstlerInnen zwingen den Einzelnen durch ihre inspirierende Nötigung zur Meinungs-Bildung,
zur spontanen, selbst verantworteten Stellungnahme. Die positiv ausfallen kann.
Oder negativ. Oder entschieden unentschieden. Eine, die Ratlosigkeit
dokumentiert. Sprachlosigkeit. Oder auch hymnische Begeisterung.
So gesehen stellt die aktive Teilhabe an der Kunst fast schon so etwas wie ein pädagogischer
Auftrag im Geiste Humboldts zur Ausbildung der individuellen Fähigkeiten zum
Wohle der Gesellschaft dar. Eine Ausbildung, die dem zunehmend als Belastung
empfundenen Zwang zur Eigenverantwortung innerhalb einer fragil gewordenen
Gesellschaft etwas von ihren Schrecken zu nehmen vermag: Ich erlerne sie hier spielerisch,
abseits des lebensweltlichen Drucks.
Diese in der Teilhabe an der Kunst spielerisch erlernte Eigenverantwortung, eine Grundvoraussetzung für den Bestand einer stabilen, von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Demokratie, stellt die unbeabsichtigte Folge einer gänzlich anderen Intention dar: Sie zielt für gewöhnlich auf die Befriedigung unserer Neugier, Interessen, Vorlieben, auf Freude, Genuss, Zeitvertreib, Weiterbildung. In der Gesamtheit der Teilhabe aller mit künstlerischen Werken Konfrontierten legt nun wiederum die unsichtbare Hand heimlich Hand an. Und es kommt auch hier zu einer kausalen, nicht intendierten „Konsequenz der Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“:
In einem solch steten synchronen und diachronen Prozess
der Inspiration und Rezeption konstituieren sich alle Beteiligten ihre
gemeinsame Kultur und kulturellen Werte, ihre gemeinsame Geschichte und
Identität, die darum nie konstant, sondern fluide, in ständiger Entwicklung,
Erneuerung und Wandlung begriffen sind. Kultur, Werte, Geschichte und Identität
stellen sich somit, wie Sprach- oder Bedeutungswandel, auch als von niemandem
beabsichtigtes, ungeplantes, kollektives und kausales Resultat individueller Handlungen
dar.
Je mehr Menschen an diesem Prozess von Inspiration und Rezeption teilhaben, je reflektierter und intensiver
ihre Meinungs-Bildung ist, desto größer ist dessen identitätsstiftende Kraft – eine
Kraft, die aus dem Volk kommt: demos kratos.
5.
Da, wo eine Bedeutung gesetzt ist, ist auch eine Sichtweise
gesetzt. Sie wäre nicht mehr relativ, sondern absolut. Und wird, wie im wissenschaftlichen
Kontext, im Idealfall im Konsens als verbindlich akzeptiert. Schlimmstenfalls
wird jedoch ein solcher Gebrauch mit aller Macht von einer autoritären Instanz oktroyiert,
zur Regel gemacht. In diesem Moment wird der Gebrauch ideologisch. Da, wo
die Sprache ideologisch wird, wird auch die Denkstruktur ideologisch. Die
Herrschaft einer einzig gültigen Bedeutung beginnt. Die in den Händen derer
liegt, die die Wahrheit für sich und ihre Weltsicht gepachtet haben. Sprache
wird statisch, verliert ihre vitale Wandlungsfähigkeit. Alles hat aus einer
Perspektive gesagt, gedacht, getan zu werden. Alternative Sichtweisen sind
tabu, individuelle Variationen perdu.
Die eigene Wahrheit wird gegen alle
Widerstände, Andersdenkende, Fremde verteidigt. Aggressiv bis aufs Blut von religiösen
Eiferern, von autoritären und totalitären Herrschern, smart und subtil von den Diktatoren der Funktionalität und
Verwertbarkeit, die das Millennium der digitalen Transformation eingeläutet haben.
Die intentionalen Handlungen der Menschen werden zu einer massenhaften
Intention synchronisiert, gleichgeschaltet, um so unvorhergesehene kausale,
nicht intendierte Konsequenzen möglichst auszuschließen. Alles wird zielgerichtet
kanalisiert, so dass idealerweise die individuellen Handlungen zu eben den
kollektiven Konsequenzen führen, die die Herrschenden intendieren.
In diesem Land spricht man fließend Neusprech.
Alles bewegt sich in gleichförmiger Bewegung auf ein mythisch
aufgeladenes Ziel hin. Der Einzelne geht auf in der Masse, die keine konkrete
individuelle Verantwortung mehr kennt, nur noch die diffuse des Kollektivs. Diese
Diffusion der Verantwortung besitzt für
den Einzelnen eine erregend enthemmende Kraft: Wo nur noch eine kollektive
Verantwortung besteht, braucht sich niemand mehr für irgendetwas verantwortlich
zu fühlen – und werden die Taten im Sinne und Interesse des Kollektivs verübt, wird
auch niemand zur Verantwortung gezogen. In dieser fatalen Konsequenz ähnelt es
der ethischen Konsequenz, die dem Prozess der unsichtbaren Hand inhärent ist:
Hier ist es die Verantwortungslosigkeit der Vielen, die ähnlich gerichtete
Intentionen verfolgen, dort die der intentional gleichgeschalteten Masse.
Der Mensch in der Masse sieht, völlig unabhängig von
Herkunft, Religion, Geschlecht, Sozialisation, Intelligenz, Bildungsstand oder
Alter, seine „Chance der unbestraften
Unmenschlichkeit“ (Günther Anders) gekommen. Und ist geneigt, sie zu nutzen,
da er keinerlei Sanktionen zu befürchten hat:
„Die Gewissheit der Straflosigkeit, die mit der Menge zunimmt, und das Bewusstsein einer bedeutenden augenblicklichen Gewalt, bedingt durch die Masse, ermöglicht der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die dem Einzelnen unmöglich sind.“
(Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 1895)
6.
„Die
Bedeutung eines Wortes besteht nur im jeweiligen besonderen Gebrauch.“ So zitiert Harald Weinrich nicht etwa Ludwig
Wittgenstein, sondern den französischen Essayisten Paul Valery, der diesen
Gedanken seinen Heften, den posthum veröffentlichten ‚Cahiers’, anvertraute.
Eine Reflexion über die Bedeutung eines
Wortes, die von diesem Umstand absieht und sich mal auf diesen, mal auf jenen
Teilaspekt konzentriert, ist nicht nur legitim – sie ist vielleicht auch die
einzige mögliche Weise, sich dem überaus komplexen Phänomen ‚Sprache’ nähern und es wissenschaftlich
präzise beschreiben zu können. Jedoch beschreibt sie dabei einen Zustand, der
nicht dem des Gegenstands der Betrachtung entspricht – er besitzt, wie gesagt,
keinen von uns unabhängigen Seinszustand, ist steter Fluss, millionenfacher
Gebrauch, Akt, Handlung, ‚energeia’.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der
Zeit, die de facto ein gerichtetes Kontinuum, aber kein in messbare Einheiten
zerhackter Strang ist. Nur – anders lässt sie sich für uns nicht erfassen. Wie
auch das Denken, das seine eigene Conditio sine qua non,
notwendige Bedingung der Möglichkeit ist, um über das Denken nachdenken zu können.
Der Gegenstand der Betrachtung als seine eigene Voraussetzung. Diesem Circulus
vitiosus kann niemand entkommen. Niemals. So dreht man sich bis in alle
Ewigkeit im Kreise. Ändern kann der Mensch daran nichts, er kann nur seine
grundsätzliche Beschränktheit einsehen. Und sich seinen Teil denken.
Sprache ist sie selbst immer nur im
Gebrauch. Und dieser Gebrauch findet faktisch immer in spezifischen Kontexten,
konkreten Situationen und Sprachspielen statt. Um zu verstehen, „wie es sich mit seiner Bedeutung verhält,
muss man das berücksichtigen“ (Harald Weinrich). Mehr noch: Solche Situationen
sind nur willkürliche Ausschnitte. Momentaufnahmen komplexer synchroner und
diachroner Lebenswelten, gesellschaftlicher und kultureller Lebenszusammenhänge,
die, so der Wissenssoziologe Karl Mannheim, den Menschen unbewusst prägen. Und
damit die Struktur unseres Denkens, unsere Erkenntnisfähigkeit und Sprache.
Nun sind aber auch diese Lebenswelten
und -zusammenhänge stets fluid, nie statisch. Sie ändern sich je nach unserer
Stellung in der Gesellschaft. Ja, in jedem Einzelnen scheinen sie durch die je
individuelle Sozialisation immer in einer unverkennbar individuellen Färbung
auf. Einzigartig wie ein Fingerabdruck. Diese spezifischen Varianten sind
mithin Unikate – und mit ihnen unser Gebrauch der Sprache, unser Erkennen und
Denken.
Da nun diese Dreifaltigkeit in jedem
von uns eine einzigartig individuelle Prägung aufweist, ist sie notwendig
perspektivisch. Und damit relativ. Verabsolutiere ich diese Sichtweise,
ideologisiere ich sie, so Karl Mannheim. Ein Vorgang, der alltäglicher nicht
gedacht werden kann: Es ist nicht etwa ein isoliertes Phänomen, das nur in der
Politik oder Religion aufscheint, sondern auch in den profanen Szenen einer
Ehe. Beim Konflikt unter Kollegen. Oder bei der Spieltagsanalyse in der
Eckkneipe.
Wir sind unentrinnbar gefangen in einem
Netz von Bedingungen. Können nicht anders als perspektivisch denken, können uns
nicht aus der Abhängigkeit unserer Lebenszusammenhänge lösen. Können nicht
sprechen, ohne dabei nicht Intentionen zu verfolgen: Sprache ohne Intentionen
ist keine Sprache. So wie wir nicht nicht-kommunizieren können, können wir auch
nicht nicht-intentional sprechen. Die Frage ist immer nur, welcher Art die
Intentionen sind, die wir verfolgen. Welche Relevanz sie für ein Gespräch
haben. Ob sie tatsächlich bewusst, geplant und zielgerichtet sind oder aber,
paradox genug, unabsichtlich, weil unbewusst, internalisiert, intuitiv.
Intentionen können marginal, banal,
alltäglich sein. Aber auch weltbewegend. Verletzend. Verstörend. Vernichtend.
Es gibt so viele Spielarten wie es Situationen gibt. Im Zweifelsfalle gleicht
keine Intention der anderen. Und manchmal ist es sogar ein Bündel von
Intentionen, das sich im Gespräch offenbart. Da anzunehmen, dass die
Verständigung das primäre oder gar wesentliche Ziel der Sprache ist, erscheint
nicht recht plausibel. Eher wie eine verkürzte, idealisierte Sichtweise der
Dinge. Denn wir verwenden täglich millionenfach Sprache, belügen und betrügen
einander mit ihrer Hilfe. Flunkern. Tarnen. Täuschen. Manchmal auch uns selbst.
Manipulieren. Machen dem anderen etwas vor. Wollen uns profilieren. Ablenken.
Aufmerksamkeit erregen. Schön färben.
Das Ziel, von dem anderen verstanden zu werden, erscheint da lediglich wie eine von vielen Varianten der Kommunikation. Die auch gerne in Kombination mit anderen Intentionen auftritt. Und dabei mal mehr, mal weniger im Vordergrund steht. Wie man es beim gegenwärtigen Präsidenten der USA ganz aktuell erleben kann. Die Maxime der Kommunikation scheint also nicht zu lauten: Rede so verständlich wie möglich. Sondern allgemeiner: Rede so, dass du maximale Aussicht auf das erfolgreiche Erreichen deiner kommunikativen Absichten hast. Oder wie es Rudi Keller formuliert: „Rede so, dass du die Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.“
Das Ziel, von dem anderen verstanden zu werden, erscheint da lediglich wie eine von vielen Varianten der Kommunikation. Die auch gerne in Kombination mit anderen Intentionen auftritt. Und dabei mal mehr, mal weniger im Vordergrund steht. Wie man es beim gegenwärtigen Präsidenten der USA ganz aktuell erleben kann. Die Maxime der Kommunikation scheint also nicht zu lauten: Rede so verständlich wie möglich. Sondern allgemeiner: Rede so, dass du maximale Aussicht auf das erfolgreiche Erreichen deiner kommunikativen Absichten hast. Oder wie es Rudi Keller formuliert: „Rede so, dass du die Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.“
Ziel ist demnach nicht die Verständigung,
sondern der eigene soziale Erfolg. Und Kommunikation dient primär dazu, den
anderen zu etwas zu bewegen, was in meinem Interesse ist.
7.
Unser Gebrauch der Sprache wird ganz wesentlich
gespeist durch ein Wissen, das, so Karl Mannheim, implizites Erfahrungswissen, „konjunktives Wissen“, ist und unsere
täglichen Handlungen unbewusst und unbemerkt anleitet. So meinen wir im alltäglichen
Gebrauch der Sprache zwar zu wissen, was wir meinen, wenn wir etwas sagen. Aber
ohne dass wir um dieses Erfahrungswissen wissen, bleibt dies ein frommer
Wunsch: Ein Großteil dieses Wissens lässt sich von uns nicht oder nur höchst unzureichend
explizieren. Es ist reflexiv für uns praktisch nicht verfügbar, seine Relevanz
für den Gebrauch, den wir von Worten machen, kaum darstellbar.
Demgegenüber gibt es ein „kommunikatives Wissen“ (Mannheim), das
zumindest theoretisch reflexiv verfügbar und explizierbar ist. Von der
Möglichkeit, es zu explizieren, machen wir jedoch nur selten Gebrauch – wir machen
es uns, schon aus Gründen der Sprachökonomie, nun
mal gerne einfach. Und setzen im Rahmen dieses Wissens den Bestand einer Bedeutungsschnittmenge
stillschweigend als gegeben voraus, die uns suggeriert, dass wir, wenn wir über
etwas reden, auch über das gleiche reden.
Wobei es
dabei völlig irrelevant ist, ob es diese Schnittmenge tatsächlich gibt.
Hinreichend ist, dass alle Beteiligten annehmen, dass dem so ist. Allein diese
Annahme vermittelt schon den Eindruck einer gelungenen Kommunikation, unabhängig
davon, ob der Eindruck auch nur ansatzweise mit der Realität übereinstimmt: Gelungen
ist, was mir als gelungen erscheint.
Das gilt nicht nur
für unseren alltäglichen Gebrauch der Worte, es gilt auch für den wissenschaftlichen Kontext. Also dort,
wo die Bedeutung eines Wortes oftmals nicht sein Gebrauch in der Sprache,
sondern per definitionem gesetzt und von den anderen Teilnehmern des
Sprachspiels akzeptiert ist. Hier ist die Bandbreite der Bedeutung des Wortes
eingeschränkt und ihrer individuellen lebensweltlichen Variationsbreite, ihrer Konnotationen
und Implikationen künstlich enthoben.
Es wird in gewisser
Weise eine relative Bedeutung absolut gesetzt und aus Gründen der effektiven
Kommunikation bis auf Weiteres einvernehmlich ideologisiert. Wird diese
Bedeutung jedoch nicht reflektiert, besteht die Gefahr, dass sich ein
nachlässiger Gebrauch einschleicht. Davor
sind auch wissenschaftliche Sprachspiele nicht gefeit: Termini
technici, diese höchst sinnvollen „Abkürzungen
für komplexe Sachverhalte“, die,
so der Germanist Steffen Martens in der FAZ, „über einen langen Zeitraum hinweg“ erarbeitet wurden, werden in
ihrem Gebrauch nur selten und nur ungern grundsätzlich hinterfragt. In diesem
Fall wird der unreflektierte Gebrauch der Worte perpetuiert, seine Verwender werden
weiter „in ihrem ‚Sprachpanzer’ hausen
und durch Wortdunst ihre handwerklichen Fehler verschleiern“.
Ein Phänomen, das vor keiner Branche halt
macht, wie Martens betont: „Das ist bei
Ärzten, Heizungsbauern oder Juristen nicht anders.“
Dies geschieht nicht bewusst oder geplant, sondern aus Nachlässigkeit. Bequemlichkeit. Aus Ehrfurcht vor den Riesen, auf deren Schultern wir Zwerge stehen. Vielleicht aber auch ganz intuitiv aus Selbstschutz. Denn einen Gebrauch in Frage zu stellen schließt ja immer die Möglichkeit mit ein, dass er radikal revidiert werden muss. Und mit ihm möglicherweise herrschende Lehrmeinungen. Oder historisch liebgewonnene Denkmuster.
Dies geschieht nicht bewusst oder geplant, sondern aus Nachlässigkeit. Bequemlichkeit. Aus Ehrfurcht vor den Riesen, auf deren Schultern wir Zwerge stehen. Vielleicht aber auch ganz intuitiv aus Selbstschutz. Denn einen Gebrauch in Frage zu stellen schließt ja immer die Möglichkeit mit ein, dass er radikal revidiert werden muss. Und mit ihm möglicherweise herrschende Lehrmeinungen. Oder historisch liebgewonnene Denkmuster.
Womit wir wieder am Anfang stehen.
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