Die funktionale Gesellschaft
Dieser Tage geschieht in
Düsseldorf Befremdliches. Da versucht der Oberbürgermeister in einem
kommunalpolitischen Handstreich die gewachsene städtische Kulturlandlandschaft
grundlegend zu ändern. Unter seiner Ägide soll es eine völlige Neuordnung der
Museumslandschaft geben, die Neubesetzung der Position des scheidenden Chefs
des Museum Kunstpalast, Beat Wismer, wird zum Anlass genommen, ein Spardiktat
der radikalen Art zu diskutieren: Eine Generalintendanz, die alle wesentlichen
Düsseldorfer Museum und Zentren der Kunstvermittlung wie Kunstpalast,
Kunsthalle und „Kunst im Tunnel“ zusammenführt.
Dieses Planspiel eröffnet die
Option einer verschlankten Verwaltung sprich Einsparung von Personal sprich
Kostenreduktion: Wirtschaftsberater sind im Auftrage der Stadt unterwegs, um im
Rahmen des Programms „Verwaltung 2020“ Einsparpotenziale zu eruieren. Bis zu
einem Fünftel aller Stellen bei der Stadt sollen eingespart werden, Museen und
Kulturamt müssen zukünftig mit beträchtlich weniger Mitteln und Mitarbeiter
auskommen.
Die organisatorische und
personelle Zusammenführung eröffnet aber noch weitere Optionen bis hin zur
Aufgabe von Kulturinstituten in prominenter Lage. Was wiederum, da es sich um
immobile Filetstücke handelt, weitere lukrative Optionen eröffnet. Stichwort:
Verdichtung der Innenstadt. So zum Beispiel beim Schauspielhaus, exponiertes
Sprechtheater an exponierter Stelle, beheimatet in ebenso exponierter
Architektur. Da flirtet der oberste Vertreter der Stadt, medial gezielt lanciert,
mit dem Gedanken, diese prachtvolle Innenstadtlage einer kommerziellen Nutzung
zuzuführen – als Kö-Bogen III hätte sie sich auf den MIPIMs und Expo Reals
dieser Welt wunderbar vermarkten lassen.
Auch wenn die im Raume stehende
Planung, die Auslagerung des Theaters und Übergabe des Gebäudes an
einen Investor, mittlerweile laut Ratsbeschluss ad acta gelegt wurde: Es lohnt
sich, hier einmal nicht partikular Düsseldorf und das Gebaren eines ökonomisch
getriebenen OB zu betrachten, der unter dem Sparzwang des städtischen
Haushalts stehend nach neuen Wegen und Möglichkeiten der Konsolidierung sucht
und dabei, nüchtern kalkulierend, ein Szenario entwirft, bei dem
konsequenterweise nur finanzielle Aspekte eine nennenswerte Rolle spielen. Hier
lohnt es sich, den Blick aufs Ganze zu richten: Was geschieht da gerade?
Die Reaktion des Feuilletons, der
betroffenen Kulturschaffenden und -interessierten reduziert sich derzeit auf
die Frage, was dieser Mann bloß in seinem Amtskämmerlein heimlich, still und leise
ausbaldowert hat. Jeder prügelt auf ihn ein, von allen Seiten schallt es ihm
entgegen, dass er den Ruf der Stadt Kulturmetropole aufs Spiel setzt. Dass hier
renommierte Kulturinstitute ihre eigenständige Gestaltungsmöglichkeit verlören,
dass sie, die gänzliche andere kulturelle Aufträge haben, am Ende
gleichgeschaltet werden. Das einvernehmliche Resümee: Düsseldorf ist halt doch nur
Düssel-Dorf.
Die Logik der
Ökonomisierung
Doch um Düsseldorf geht es hier
nur vordergründig, die Stadt steht lediglich stellvertretend für eine immer weiter
um sich greifende, immer machtvoller werdende Tendenz. So weist Stephan Berg,
Direktor des Kunstmuseums Bonn, bei der Evaluierung der Bestandsfähigkeit des Museums Morsbroich durch die
Wirtschaftsprüfer der KPMG darauf hin, dass da „ein Museum einer rein ökonomischen Betrachtung
unterzogen“ wird und man „nur die
Einschaltquote betrachtet, ohne die spezifische Identität und Eigenlogik eines
Museums zu beachten – die eben auch nach rein ökonomischen Kriterien nicht evaluierbar
ist.“
Und er macht auf einen entscheidenden Aspekt aufmerksam, der
offensichtlich auch dem Düsseldorfer OB wenn nicht gänzlich entgangen, so doch
entfallen ist: „Der gesellschaftliche
Konsens darüber, dass ein Museum unser kollektives kulturelles Gedächtnis ist,
dass eine Sammlung zusammengehalten werden und der Logik der Ökonomisierung
entzogen sein muss, den gibt es wohl nicht mehr.“ In dem Moment aber, wo
dieser „Logik der Ökonomisierung“ das
Primat des Handelns übereignet wird, geht das Bewusstsein für die fundamentale
Bedeutung der Kultur- und Kunstinstitutionen verloren, die doch „als gesellschaftlicher Kitt (fungieren),
weil sie Werte und Inhalte produzieren, gerade weil sie sich dem Messbaren
entziehen – aber darüber besteht offenbar kein gesellschaftlicher Konsens mehr.“
Was der Intendant des Düsseldorfer
Schauspielhauses, Wilfried Schulz, in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post
formulierte, gilt nicht allein für sein Theater, es gilt für die Kulturinstitute,
ja, für Kultur und Gesellschaft generell:
„Ich glaube, dass die heftig zerrissene und
sich überfordert fühlende Gesellschaft in den nächsten Jahren nichts mehr
braucht als gemeinsame Orte der Reflexion, des Diskurses, des Aushaltens und
Erprobens von Differenz und der Infragestellung und Vergewisserung von
Identität.“
Doch
angesichts der dramatischen zivilisatorischen Regression muss es nicht allein
solche Orte der Reflexion weiterhin geben – sie müssen von allen Kräften nach
Kräften unterstützt und gegen alle Widerstände verteidigt werden. Denn geraten
sie erst einmal unter das Diktat der Wirtschaftsprüfer, haben sie zur Gänze der
Logik der Ökonomisierung zu folgen:
„Der nicht dem Konsum und dem
Renditeversprechen gewidmete öffentliche Raum, der Raum der direkten Begegnung
wird immer kleiner; es gilt ihn zu verteidigen. Von den verantwortlichen
Politikern, der Stadtgesellschaft, dem Publikum, den Künstlern und den
Mitarbeitern. Gemeinsam.“
Das
pekuniäre Damoklesschwert, das über den Museen, über den Theatern und der
freien Kulturszene schwebt, ist eines, das über uns allen schwebt. Insbesondere
über denen, die die Kultur als eine zivilisatorische begreifen: Es ist eine unheilige disruptive
Kraft, die im Primat der Logik der Ökonomisierung steckt und alles in ihrem
Sinne überformt.
Unternehmens-Berater werden, wie
in Leverkusen, engagiert, um aus rein betriebswirtschaftlicher Perspektive die
Sinnhaftigkeit, den Nutzwert einer kulturellen Einrichtung zu beurteilen. Die
Kriterien, nach denen sie beurteilen, sind naturgemäß dem wesensfremd, was sie
beurteilen. Das ist so, als würde man, vice versa, ein Börsenunternehmen rein
nach künstlerischen Kriterien beurteilen und bewerten. Und zum Schluss kommen,
dass, zum Beispiel, VW abgewickelt werden muss. Wobei dies wiederum, angesichts
des gegenwärtigen Dilemmas, in dem sich das Unternehmen befindet, eines
gewissen Charmes nicht entbehren würde.
Weder die Düsseldorfer noch die
Leverkusener Posse sind jedoch singuläre Ereignisse. Sie sind lediglich
Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die den funktionalen,
nutzen- und zweckorientierten Aspekten das Wort redet. Und die Kultur darauf
reduziert.
Das Diktat der Funktionalität
MINT. Das ist mehr als nur ein Akronym. Es ist das
sprachliche Kondensat einer konsequenten Ausrichtung von Studien- und
Unterrichtsfächern unter das Primat einer Perspektive: der
mathematisch-naturwissenschaftlichen. Dem zentralen wirtschaftlichen
Innovationssektor, der angewandten Forschung und exakten Wissenschaft, der
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik gilt hier die ganze
Aufmerksamkeit.
Es ist das Diktat der Funktionalität, das das Zeitalter der digitalen Transformation
beherrscht. Seit Karl Mannheim wissen wir, welche Gefahren in einer solch
stringent durchgeführten Ausrichtung schlummern: Perspektiven sind notwendigerweise
relativ. Wird nun aber eine Perspektive
ihrer Relativität enthoben, wird diese eine Sichtweise verabsolutiert. Und
damit ideologisch.
Ideologische Sichtweisen werden aber aggressiv gegen Widerstände,
Andersdenkende, Fremde verteidigt. Eine Blaupause, die wir vornehmlich aus dem
religiösen und pseudoreligiös-politischen Bereich kennen, hier aber durchaus
zur Anwendung kommen kann: Dieser Kampf wird jedoch sicher nicht blutig, sondern
ganz subtil ausgetragen werden – und er wird womöglich nachhaltiger in seinen Folgen
sein: Er wird die Denkstrukturen beherrschen. Und damit langfristig auch unsere
Verhaltensstrukturen.
Wer nicht den Kriterien des
Marktes gehorcht, sich ihm unterordnet, wird zurechtgestutzt. Erst
argumentativ. Dann medial. Finanziell. Strukturell. Administrativ. Die Kultur als Ganzes wird marginalisiert. So
werden in den Geisteswissenschaften, bis auf wenige Ausnahmen, nicht nur
Stellen, sondern ganze Studienzweige gestrichen. Renommierte Universitäten
geben Fakultäten auf, wohingegen in den technisch-naturwissenschaftlichen
Disziplinen die Institute geradezu aus dem Boden schießen. Eine Inflation neuer,
immer kleinteiliger Studiengänge bricht sich Bahn. Kaum mehr wird dort universelles,
übergreifendes Wissen vermittelt, sondern, insbesondere in den Bachelorstudiengängen,
extremes und, da wendet sich das System eigendynamisch gegen sich selbst,
arbeitsmarktfernes Spezialistenwissen.
Selbst der Wissenschaftsrat
beobachtet diese Entwicklung mit Sorge, weil sich hier Bereiche, die eine
systemrelevante Bedeutung haben, durch eine schleichende Miniaturisierung ad
absurdum führen: Sie produzieren praxisuntaugliche Disziplinen und damit auch ebensolche
Prätendenten.
Abschied von den
Geisteswissenschaften
In den USA und in Großbritannien führen die Geisteswissenschaften in den
Universitäten mehr und mehr ein ihrer eigentlichen Aufgabe enthobenes Dasein: Sie
sollen in Zukunft praktisches Wissen statt freies Denken vermitteln. In Japan,
so Felix Lill in der ZEIT, geht die Regierung sogar so weit, dass sie bald ganz
ohne Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Linguistik auskommen will. Wer
nicht unmittelbar praktische, also: ökonomische Relevanz nachweisen und
in seine Lehrpläne aufnehmen kann, wird, gemäß des funktionalen Diktats, eliminiert.
Zur Begründung heißt es in einem bildungsministerialen
Ukas, es mangele „an Ingenieuren,
Informatikern und Mathematikern, die Japans weltweit führende Robotik
voranbrächten.“ Für Keiichi Aizawa,
Leiter der germanistischen Fakultät der Universität Tsukuba, fühlt sich dieser Angriff auf die
Geisteswissenschaften „an wie eine
Aushöhlung der Gesellschaft von innen. Eine Marginalisierung von Kultur, Ideen
und Werten.“ Felix Lill spannt
in seinem Artikel den Bogen sogar noch weiter:
„Japans Entwicklung mag extrem
erscheinen. Ihr liegt jedoch ein Trend zugrunde, der international zu
beobachten ist: der Einzug des Effizienzdenkens in die Universität. Quer durch
die Industrienationen der Welt lässt sich das Mantra vernehmen: Möglichst
kleiner Input bei größtmöglichem Output. Ein betriebswirtschaftliches Konzept
für Forschung und Lehre. Egal ob man die großen EU-Strategiepapiere des
Lissabon-Vertrags oder des Bologna-Prozesses liest, die Debatten in den USA
oder Großbritannien verfolgt: Überall kommen die Begriffe
"Globalisierung" und "Wettbewerb" vor. Und häufig bedeutet
dies, dass gerade die Geisteswissenschaften unter Legitimationsdruck geraten.“
Hinter allem, so Kai
Spiekermann, Philosophieprofessor an der
britischen London School of Economics (LSE), „stehe
das neue Ideal der Messbarkeit“. Es geht um
das Prinzip der Verwertbarkeit. Der Praxisrelevanz. Des unmittelbaren Nutzens.
Der Zweckgebundenheit. Entscheidend ist die „employability, die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt“.
In
den USA, wo jährlich die Studiengebühren im gleichen Maße steigen wie die
bundessstaatlichen Bildungsausgaben sinken, sind es gerade die zahlreichen
Colleges abseits der renommierten Elite-Unis, die die Studienmöglichkeiten der
Geisteswissenschaftler zusammenstreichen. Durchaus nachvollziehbar, stehen doch
„die hohen Gebühren in einem starken
Missverhältnis zu ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt“.
Ellen
Schrecker, Historikerin an der Yeshiva University in New York, befürchtet
Schlimmes für eine Gesellschaft, die da nicht massiv gegensteuert:
"All das, was einen informierten und
kritischen Bürger ausmacht und zum Verstehen fremder Kulturen befähigt, bekommt
man nur durch die Geisteswissenschaften. Wenn diese Art von Bildung zusehends
zu einem Luxusgut wird, kommen auf unsere Gesellschaft große Probleme zu."
Ein Befund, der nicht allein für
die USA zutrifft. Sondern für alle Länder, die sich dem Diktat der Ökonomie uneingeschränkt
verschreiben. So kann der deutsche Wissenschaftsrat noch so sehr mahnen, der „Geistes- und
Sozialwissenschaften in Deutschland mehr Aufmerksamkeit zu widmen“.
Es hilft nichts: Gelingt es den Naturwissenschaften bei der
Drittmittelverteilung in Deutschland problemlos, „ihre Budgets um knapp ein Fünftel mit Zusatzbudgets aufzustocken, ...
kommen die Geisteswissenschaften auf keine zehn Prozent“.
Von MINT über G8
bis zum Bachelor
Bei G8, der verkürzten gymnasialen Laufzeit in Deutschland, zeigten sich ehedem
die gleichen Argumentations- und Denkstrukturen. Mitnichten waren für die
Einführung pädagogische Gründe ausschlaggebend. Es waren einzig und allein
volkswirtschaftliche Erwägungen, die eine Rolle gespielt haben: Die deutschen
Schüler sollten so schnell wie möglich an die Universitäten kommen – so schnell
wie der Großteil der Schüler im europäischen Ausland.
„Mit G8 sollte das Bildungssystem effizienter
und zielgenauer werden“, so 2013 Donate
Kluxen-Pyta von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Denn die „Unternehmen wollen jüngere Mitarbeiter“ – was übrigens auch das
entscheidende Argument für die Einführung des Bachelors war. Außerdem bringe
ein früherer Berufseinstieg der Volkswirtschaft Milliarden. 30, um genau zu
sein. So hoch ist, laut Prognose 2013, bei 500.000 Studienanfängern
der Wertschöpfungsgewinn.
„Wegen des demographischen Wandels müssen
die Deutschen länger arbeiten, um ihr Rentensystem zu finanzieren. Und dann sei
es doch besser, ein Jahr früher in das Berufsleben einzusteigen, als noch
später in Rente zu gehen,“ zitiert Lisa
Becker das
Institut der deutschen Wirtschaft in
der FAZ.
Wobei die Wirtschaftsweisen
der Bundesregierung gerade eben erst verkündet haben, sie gingen davon aus,
dass die Kinder von heute bis zum 71. Lebensjahr werden arbeiten müssen. Also
nix is’ mit Begrenzung des Renteneintrittsalters: Früher anfangen, später aufhören.
Rabotti, rabotti. Bis der Tod uns scheidet.
All überall lauern volkswirtschaftliche Argumentationen.
Nirgends ist eine in Sicht, die sich einmal vom Primat der Ökonomie entfernt.
Und den Wert der Kultur, der Kunst, der Reflexion auf Augenhöhe sieht. Alles
orientiert sich primär am Nutzen. Derart ausgerichtet degeneriert Bildung,
dient sie doch nur noch als Mittel zum Zweck. Und wird so zum Büttel der
Funktionalität.
Verantwortungslos: der
Prozess der unsichtbaren Hand
Das Humboldtforum Berlin, integriert
ins Potemkinsche Berliner Stadtschloss, wirkt da in seiner Überdimensionierung
wie ein gigantisches administratives Ablenkungsmanöver, das von den massiven Kürzungen
der kulturellen Budgets, die wir landauf, landab derzeit erleben müssen, werbewirksam
ablenken soll. Ein hauptstädtisches Feigenblatt, von
dem die Verantwortlichen allerdings wissen sollte, dass es auf der Oberseite
rau ist. Und sich deshalb, dem biblischen Vorbild zum Trotz, nicht sonderlich
für die schamhafte Bedeckung der nackten Wahrheit eignet.
Das
eigentlich Dramatische ist aber, dass einem Großteil der Verantwortlichen gar
nicht bewusst ist, was sie da anrichten. Sie haben wahrscheinlich sogar durchaus
lautere Absichten, bedenken aber nur das, was sie auch intendieren. Nicht aber die
unbeabsichtigten Folgen ihres Handelns. Die liegen zwar durchaus auf der Hand,
sind aber für sie, da nicht gewollt, auch nicht relevant. Und werden fürderhin
ignoriert. Ausgeblendet. Negiert: Was für sie nicht da ist, ist nicht da.
Verantwortlich fühlen sich die Verantwortlichen, wenn überhaupt, nur für
die beabsichtigten Folgen. Ergo wird auch niemand für unbeabsichtigte
Konsequenzen Verantwortung übernehmen. Der amerikanische Soziologie Robert K.
Merton hat dieses Phänomen beschrieben. Als
mögliche Ursachen für unbeabsichtigte Folgen nennt er unter anderem menschliche Dummheit, Selbstbetrug oder auch schlicht Ignoranz der
menschlichen Natur. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Das von ihm formulierte Gesetz der unbeabsichtigten
Folgen geht zurück auf den Prozess der
unsichtbaren Hand, den Adam Smith in seinem grundlegenden Werk „Wealth of
Nations“ beschrieben hat. Der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Rudi Keller erklärt
ihn in einprägsamer Klarheit: Wie entsteht ein Trampelpfad? Jemand nimmt vom
Parkplatz aus nicht den Umweg über den Fußweg, sondern den direkten Weg über
die Wiese hin zu seinem Ziel. Das tut er nur, weil er zu bequem ist, keinen
Umweg gehen und schnellstmöglich ans Ziel kommen will. So denkt und handelt
jeder Einzelne, der den direkten Weg nimmt. Das Resultat der Tausenden, die so denken
und handeln, ist – ein Trampelpfad. Niemand wollte ihn, aber alle haben ihn geschaffen.
Und wer ist schuld? Niemand. Aber alle. Nur: Wer will schon der Gesamtheit die
Schuld geben, wenn niemand schuld ist?
So sieht’s dann aus: Keiner ist verantwortlich,
niemanden trifft eine Schuld. Also muss sich auch niemand einer Schuld bewusst
sein. Alle können sich wunderbar plausibel hinter solchen Argumentationen
verstecken. Können ihre Hände in Unschuld waschen. Und sich glaubhaft entrüstet
zeigen, sollte jemand mit Fingern auf sie zeigen: Das ist doch nicht meine Schuld! Einerseits. Andererseits heißt
nicht verantwortlich zu sein aber noch lange nicht, keine Verantwortung zu
tragen:
So wie der Düsseldorfer OB, die Leverkusener
Stadtverwaltung, die Arbeitgeberverbände oder das japanische
Bildungsministerium denken und handeln weltweit Tausende im Sinne des Primats
der Ökonomie und ihrer inhärenten Logik. Tausende, die ja nur auf dem
kürzesten Weg von A nach B gehen, aber keinen Trampelpfad entstehen lassen
wollen. Kann ich mich nun von der Verantwortung freisprechen, weil ich seine
Entstehung ja nicht beabsichtigt habe? Nein. Denn ich muss die Konsequenzen
meines Handelns überblicken – auch die unbeabsichtigten Konsequenzen, für die
ich nicht persönlich verantwortlich bin, für die ich aber allein durch meine
Teilhabe eine Mitverantwortung trage.
So ist
die Zivilisation bald perdu
In diesem Sinne argumentierte auch der österreichische Philosoph und
Soziologe Karl R. Popper: Ich habe mich
selbst – und niemanden sonst! – in die Pflicht zu nehmen. Habe Verantwortung
zu übernehmen. Für mich. Mein Handeln. Und damit
nicht zuletzt auch für die Geschichte,. Denn ist der Einzelne dazu nicht
bereit, verabschieden wir uns aus der Zivilisation. Und laden die Barbarei zur
Rückkehr ein.
Der Soziologe Norbert Elias
beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in
dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch
innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur
Selbstverantwortung verpflichtet. Doch die ist mühsam, muss sie doch täglich in
Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer globalisierten, im Zuge
der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die
liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben,
leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.
Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn
beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial
kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen,
weil sich wieder mal die Umstände ändern.
Nun sind aber, so Elias, „die
‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den
Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen
zwischen den Menschen selbst.“
Dies,
so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu
anstrengend. Da ist
es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss
eines wie auch immer gearteten "Wir"
zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der eigenen Verantwortung
zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr
sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht
meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen
Ganzen zu sein, in dem es vorgestanzte, für alle verbindliche Werte gibt – im
Zweifelsfalle vorgesetzt von einer Autorität, die mir, gleichsam im
zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’
kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir
absolut und ewig bestehend erscheinen.
Die Individualisierung der Gesellschaft
trifft derzeit weltweit mit voller Wucht auf ihr schieres Gegenteil. Eine
Gegenbewegung, gekennzeichnet von der Unterordnung der Individuen
unter eine Masse, die von Autokraten jedweder Couleur angeführt wird: von Göttern
und ihren falschen Propheten, Oligarchen, potentiellen Diktatoren.
Oder eben auch von ihrem Substitut: dem ökonomischen Diktat, der reinen Lehre
der Funktionalität.
Der schnöde Gott Mammon und seine
Hohepriester der neofuturistischen Bewegung. Die sektengleichen Vorreiter des
digitalen Zeitalters, die flache Hierarchien predigen, aber streng hierarchisch
organisiert sind. Die ihre Jünger vereinnahmen. Aufsaugen. Den ganzen Menschen
fordern, ihn seiner Privatheit berauben: 24/7 stehen sie im Dienste seiner
Heiligkeit. Werden eins mit dem System: vollständige Entindividualisierung vulgo Kollektivierung ist die Folge. Die Werte des Systems sind auch deine
Werte. Entlassung bedeutet horror vacui, denn ohne das System und die dich
beherrschenden Strukturen bist du nichts. Ein Niemand. Belanglos.
Bedeutungslos.
Dieses Konstrukt einer im Elias’schen
Sinne entzivilisierten Gesellschaft setzt für alle und alles absolut gültige Normen.
Gibt einen verbindlichen Werterahmen vor. Definiert, was gut und böse, was
richtig und falsch, was minderwertig und was förderungswürdig ist.
Aber: Sie gibt dem Menschen da Orientierung, wo das Individuum orientierungslos
ist. Sie gibt ihm Sicherheit. Ordnung. Struktur. Die Menschen sind selig, sehnen
sie sich doch geradezu nach diesem gesellschaftlich-sozialen, mithin
zivilisatorischen Regress: der Rückkehr vom Ungesicherten zum Gesicherten. Sie
geben sowohl ihre Eigenverantwortung als auch ihre 'Verantwortung für' leichten
Herzens an der Pforte der Gemeinschaft ab, sind fürderhin nicht mehr
verantwortlich für ihre Taten. Nachdenken und Reflexion wird obsolet, man übereignet
sich dem allseits per se Akzeptierten. Und wird zum gefundenen Fressen für kommende Heilslehrer.
Die Kunst des Ermöglichens
Wer das nicht will,
muss Flagge zeigen. Muss die Geisteswissenschaft, muss Kunst und Kultur vom
Primat der Logik der Ökonomie, auch von der von Berg zitierten „Eventlogik“, befreien. Muss zulassen,
dass ein funktionierendes, individualistisches Gegengewicht in der Gesellschaft
bestehen bleibt. Ein Gegengewicht, das potentiell anarchisch und nicht
funktional getrieben und zweckorientiert ist. Kunst und Kultur muss nonkonformistisch
sein. Subversiv. Diskursiv. Reflexiv. Sie
muss Gestalt gewordenes Plädoyer für das Recht auf Nutzlosigkeit, Dysfunktion, Fehler,
Missverständnis und all die anderen Quellen der Inspiration und Innovation sein.
Es gibt Umstände, in denen es angemessen ist, der Logik der Ökonomie zu folgen. Aber unter keinen Umständen darf man
sich ihr unterwerfen. Und sie zum allgemein gültigen Prinzip erheben: Es ist
diese Form grundsätzlicher Systemverweigerung, die konstituierend ist für das
Niveau unserer Gesellschaft.