Donnerstag, 26. Mai 2016


Autoritätsgebundenheit als konstitutives Moment
der Waldorfpädagogik

 
Haltet die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern!  Eine solche Schlagzeile klingt im Zeitalter der vierten industriellen Revolution und digitalen Transformation unserer Gesellschaft ein wenig anachronistisch. Schrullig vielleicht. Weltfremd. Naiv. Aber mehr auch nicht. Könnte man meinen.

Formuliert hat diese Aufforderung kürzlich einer der exponierten Vertreter der Waldorf-Pädagogik,
Henning Kullak-Ublick. Immerhin: Vorstand des Bund der freien Waldorfschulen, der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung, Gründungsmitglied der Grünen sowie von „Mehr Demokratie“.

Für ihn stellt sich
pädagogisch die Frage, welche Fähigkeiten ein Jugendlicher entwickeln muss, um mit der Technik so frei umgehen zu können, dass er sie sinnvoll einsetzen kann, ohne sich komplett von ihr okkupieren zu lassen“. Die grundsätzliche Herausforderung besteht darin, so Kullak-Ublick, „dass die Kinder als unerlässliche Basis der zu erwerbenden Medienmündigkeit im Lauf einer jahrelangen Entwicklung ihre leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen ausbilden müssen“.
 
Sie sollen „in ihren ersten Lebensjahren vor allem Erfahrungen außerhalb technisch gestützter Medien sammeln“, denn, so seine doch recht verblüffende Argumentation, ihrespätere Medienkompetenz wurzelt in frühkindlicher Medienabstinenz.“ Nur wer als Kind den Geräten fernbleibt, wird später mit ihnen gut umgehen.“ Darauf muss man erst mal kommen.

Die Medien lösen nach Ansicht von Kullak-Ublick die Dinge aus ihrem Gesamtzusammenhang, so dass „diese dadurch ihren Bezug zum Ganzen des Lebens verlieren“. Um aber Nachrichten adäquat erfassen zu können, „bedarf es der Fähigkeit, Zusammenhänge selbst zu erkennen, Wissen aktiv zu beschaffen und die Qualität einer Quelle zu erkennen“. Dazu ist ein Kind bis zum 12. Lebensjahr, wie er meint, prinzipiell nicht fähig. Weshalb man es auch prinzipiell von allen digitalen Medien fernzuhalten hat:
 
Beim Thema Computer geht es in der Waldorfpädagogik darum, dass dem selbstständigen Umgang mit dem PC die Bildung eines eigenständigen Urteils vorausgehen sollte. Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen.“

Man könnte nun leicht versucht sein, auf diese Ausführungen auf Basis des aktuellen Forschungsstands der Kognitionswissenschaft zu antworten. Viel interessanter, weil beredter ist es jedoch, sich einmal genauer die philosophisch-pädagogische Blaupause anzuschauen, auf deren Grundlage
Kullak-Ublick argumentiert: Rudolf Steiners Lehre der drei Entwicklungsphasen, die der Mensch in seiner Adoleszenz durchläuft – vom Primat des Wollens über das des Fühlens zu dem des Denkens.

Rudolf Steiner war bis 1913 einer der führenden Köpfe der Theosophischen Gesellschaft, eine von unzähligen mystisch-okkulten Strömungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Wie die meisten dieser auf gnostische, buddhistische und altindisch-vedische Elemente zurückgreifenden, eklektizistischen Lehren zeichnete auch die Theosophie nicht allein ein ausgesprochen esoterisches Weltbild, sondern auch der unerschütterliche „Glaube an die bedingungslose Macht eines Führers“ (Renè Freund) aus – daran änderte sich auch nichts, als Rudolf Steiner die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft in die Anthroposophische Gesellschaft überführte.

Für Steiner war das Wollen die erste Äußerung der Seelentätigkeit des Menschen. Die, älter geworden, dann zum Fühlen wird. Und schließlich zum Denken. Dieses ‚Denken’  ist keine rein subjektive Tätigkeit. Es ist Teilhabe am Weltganzen. Dadurch ist der Mensch „Träger einer Tätigkeit, die von einer höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt“, durch sie ist er mit dem Kosmos zu einem Ganzen in eins gesetzt: Das Individuelle hat sich ehrfürchtig diesem ewigen, allgemeinen Prinzip unterzuordnen, seine absolute Autorität anzuerkennen.

Die Gemeinschaft der Menschen besteht durch den ideellen Teil, durch „die Einigkeit der Ideenwelt“ und damit des Weltganzen. „Der freie Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die aus dem Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt sind.“ Unsere Individualität konstituiert sich demnach daraus, dass jeder „aus der gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen empfängt“.

Wohlgemerkt: von außen empfängt, nicht aus sich selbst heraus hat. Eine freie Handlung eines freien Geistes ist eine, die dieser empfangenden, passivischen Intuition entspringt, die sich aus der allen Menschen gemeinsamen, kosmischen Ideenwelt speist: Die Ideenwelt als präexistente, unveränderliche, übermenschliche Konstante, deren Teilhabe als ‚Freiheit’ und Ausdruck der Individualität apostrophiert wird – welch perfider Determinismus und Antiindividualismus, der sich hier Bahn bricht.

Dysfunktionalität ist Steiner nicht Quell der Kreativität und Erneuerung. Im Gegenteil: Sie schadet der Harmonie. Funktionalität ist ihm deshalb oberstes Gebot. Alles muss allem zuträglich und damit sinnvoll sein. Einem Zweck dienen. Und dieses Dienen dient einer Macht, von der Steiner sagt, dass wir nur frei werden, indem wir uns ihr ganz hingeben: Freiheit ist somit definiert als dienende Hingabe an das mythische Prinzip der Wiederholung, Wiederaufnahme, Wiedergeburt. Nicht aber als Freiheit von und Freiheit zu etwas.

Der Unterricht muss zwingend dem Dreischritt der kindlichen Entwicklungsphasen, der Lebensjahrsiebte, folgen: Wollen. Fühlen. Denken. Wobei, warum wohl?, diese Trias in allen aktuellen Schriften zur Waldorfpädagogik in zeitlich umgekehrter Reihenfolge zitiert wird: Denken, Fühlen, Wollen. Hier steht das Denken an erster Stelle, de facto aber an letzter Stelle.

Wie dem auch sei: Die zweite Phase, die des Fühlens und Empfindens, ist von besonderem Interesse. Ist sie doch die, auf die Henning Kullak-Ublick mit seiner Aufforderung ‚Haltet die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern!’ explizit Bezug nimmt.

„Bis zur Geschlechtsreife’“ sieht sich das Kind, so Steiner, noch nicht als Subjekt. Jetzt, wo das Körperliche langsam ins Geistige tritt, aber noch nicht wahrhaft des Denkens und der Reflexion fähig ist, bedarf das Kind einer verkörperten Moral. Einer personifizierten Autorität. Und was diese tut, „wird unter dem Autoritätsgefühl von dem Kind als das Richtige angesehen“.

Personifizierung und damit Stellvertreter dieser „natürlichen Autorität“ und Moral ist natürlich niemand anderes als der Erzieher selbst. Er ist derjenige, den das Kind als Autoritätsperson sucht, der, so heißt es heute noch in jeder Broschüre zur Waldorfpädagogik, „weiß, was richtig und was falsch ist“ und der in dem Kind ein Autoritätsgefühl zu entwickeln hat, dem es sich unterzuordnen hat. Gehorsam, ohne Widerspruch. Es soll unter Führung der absoluten Autorität auf Befehle zur Kultivierung des Tuns reagieren, es soll befolgen, nachahmen, repetieren, reproduzieren.

Bis etwa zum zweiten Lebensjahrsiebt, dem 14. Lebensjahr, haben die Kinder rein affirmativ zu lernen. Alles strebt zum Einverständnis, zur notorisch unkritischen Aufnahme und Wiedergabe – ein Konzept mit erschreckenden Parallelen zu den Koranschulen der Moscheen. Hier wie dort gilt das, was Abdel-Hakim Ourghi in einem aktuellen F.A.Z.-Artikel in Bezug auf eben jene Koranschulen als „Pädagogik der Unterwerfung“ bezeichnet:

Von den Schülern wird erwartet, dass sie die verkündigten Wahrheiten widerspruchslos akzeptieren. (...) Es geht nicht um ihren persönlichen Reifeprozess, sondern um die autoritative Vermittlung des religiösen Stoffs. Dieses Erziehungsmodell ist realitätsfern und entfremdet die Kinder ihrer Lebenswirklichkeit.

In dem, was der Erzieher vorgibt, haben die Kinder das zu sehen, was richtig ist. Wonach es sich zu streben lohnt. Sie haben sich in ihrem Handeln an die durch den Erzieher verkörperte absolute, natürliche Autorität zu halten. Unbedingt. Unreflektiert. Sie lernen so, bestehende Machtverhältnisse quasi als Gott gegeben zu akzeptieren, sie zu internalisieren, in alle Ewigkeit fortzuschreiben.

Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen“, so Henning Kullak-Ublick. Dies zeitigt den Eintritt in die dritte Phase, in der das Denken das Primat übernimmt. Der Mensch wird jetzt eigentlich erst zum Menschen. Er beginnt, sich als Subjekt zu fühlen. Und das bewusst zu verarbeiten, was in ihm als bis dato nicht recht des Denkens fähiges Wesen implementiert wurde.

Erst jetzt, wo ihm über Jahre hinweg die völlige Autoritätshörigkeit als gültiges Lebensprinzip ganzheitlich eingetrichtert wurde, wird er für fähig befunden, sich selber Urteile bilden zu können. An dieser Stelle bekommt die zuvor als etwas schrullig empfundene Argumentation von Kullak-Ublick ein ziemlich unangenehmes Geschmäckle. Sicherlich von ihm unbeabsichtigt, strukturell aber bereits deutlich in der Steinerschen Philosophie als Grundlage seiner Pädagogik angelegt:

Die pädagogisch verantwortete Fortschreibung der Autoritätsgebundenheit. Kann das, angesichts der reaktionären, radikal-populistischen und autoritär-religiösen Strömungen, die sich derzeit weltweit bräsig breit machen, im Sinne einer zeitgemäß aufgeklärt-aufklärerischen und egalitären Erziehung sein?  

Nein. Denn Erziehung“, so Theodor W. Adorno in seinem wegweisenden Aufsatz ‚Erziehung nach Auschwitz’, „ist sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion“ zu denken.

Die Ergebnisse der Studien „Die Mitte in der Krise“, die Decker/Weißmann/Kiess/ Brähler 2010 vorlegt haben, zeigen nachdrücklich, wie entscheidend es für den Bestand einer Demokratie ist, sich dieses Erziehungsideal tagtäglich immer wieder aufs Neue vor Augen zu halten und alle pädagogischen Maßnahmen danach auszurichten. Die Menschen müssen, so die Autoren, im Alltag Demokratie erfahren, „indem sie z.B. vom Kindergarten bis zum Arbeitsplatz mehr in Entscheidungen einbezogen und sich dann auch nicht mehr als Gelenkte und Gesteuerte empfinden“.

Diese Langzeit-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung legten offen, „welch erschreckend hohe Zustimmung rechtsextreme, fremdenfeindliche, antisemitische und menschenfeindliche Aussagen 60 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus in Deutschland erfahren“. So ist „das zentrale Ergebnis der Studie ‚Vom Rand zur Mitte’“ (2006), dass sich verfestigte rechtsextreme Einstellungen nicht nur am Rand der Gesellschaft, sondern auch in deren ‚Mitte’ finden“. Wie gesagt: Das waren die  Ergebnisse von 2006. Wie würden sie wohl heute, 2016, nach dem vermeintlich apokalyptischen ‚Migrationstsumani’ muslimischer Ethnien ausfallen? Nicht auszudenken.

Verfestigte rechtsextreme Einstellungen ausgerechnet in eben jener Mitte, die sowohl CDU als auch SPD als ihre Kernwählerschaft zu definieren versuchen? Eben die Bevölkerungsgruppe, die eine hohe Affinität zu pädagogischen Modellen wie die der Waldorf-Schule besitzt?

Die Sozialisation, „der mit der Kindheit beginnende, aber nicht endende Prozess des Hineinwachsens in die Gesellschaft“, ist ganz wesentlich für die Entwicklung einer demokratischen Einstellung verantwortlich. So lautete bereits in den 1930er Jahren das Ergebnis der „Autoritätsstudien, die im Umfeld des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung entstanden sind“.

Die Ausbildung der Individualität ist untrennbar mit der Vermittlung der Normen und Rollenerwartungen zu verstehen.“ In diesem Prozess wird dem Menschen von Kindheit an vermittelt, wer er ist und wer er zu sein hat. An diesen Normvorstellungen hat das Individuum seine Handlungen zu orientieren – Freud nannte es das „Über-Ich“, das Gewissen, das zur immanenten, immerwährenden Kontrollinstanz ausgebaut wird.

Die „Vergesellschaftung in eine autoritär strukturierte Gesellschaft“ findet, das war Herbert Marcuse schon 1963 klar, nicht allein in der Familie statt, sondern im Freundeskreis und „unmittelbar durch Massenmedien, Schul- und Sportgruppen“.

Konstitutives Moment einer solchen Sozialisation ist immer Gewalt. Wobei es sich dabei durchaus nicht um plumpe körperliche Gewalt handeln muss. Viel effektiver ist oftmals subtiler psychischer Druck, der ein nicht minder großes Gewaltpotenzial besitzt. So ist es in der Philosophie und Pädagogik Steinerscher Prägung gerade nicht die körperliche Gewalt, sondern eher eine sanfte, fast liebevoll anmutende, aber nicht minder nachdrücklich angestrebte Unterwerfung unter eine quasi gottgegebene Autorität und ebensolche Ordnung.

Auch eine solcherart konstituierte Autoritätshörigkeit kann, sicher nicht intendiert, aber eben strukturell inhärent, zu einer Autoritätsidentifizierung führen. Und damit zum Wunsch, diese Autorität gegenüber Anderen, Ausgegrenzten, Schwächeren, Fremden, Feinden in einer Art sozialen Übersprungshandlung auszuspielen: Aus der Unterwerfung unter eine Autorität erwächst die Lust zur autoritativen Aggression. Wobei sich auch diese Aggression nicht zwingend körperlich äußern muss, sondern einen ebenso sanft anmutenden Charakter wie die ehedem erfolgte pädagogische Einflussnahme besitzen kann.

In diesem die bestehenden Machtverhältnisse immer wieder aufs Neue reproduzierenden Modell, unkritisch und unreflektiert in die pädagogische Realität verfrachtet, schlummert demnach in der Mitte unserer Gesellschaft ein gewaltiges Potenzial antidemokratischer Sozialisation, das beizeiten hervorbrechen kann.

Ein weiteres Phänomen einer solcher Autoritätshörigkeit und -identifizierung ähnelt der Sublimierung. So hatte Marcuse, darauf weisen Autoren der Studie hin, erkannt, dass eine absolut gesetzte Autorität im Laufe der Sozialisation eines Menschen in den verschiedensten Erscheinungsformen auftreten kann:

Er war der Ansicht, dass die Identifikation mit dem Führer in einer autoritären Gesellschaft durch etwas Abstrakteres – Nationalstolz, starke D-Mark oder Kapitalismus – ersetzt werden kann.“

Konsum als Alltagsreligion, wirtschaftlicher Wohlstand als Himmelreich auf Erden. Sie haben das Potenzial eines „gemeinsamen Ideals Vieler“, sie können also solch ein Ersatz oder Substitut der Autorität, mithin eine abstrakte Autorität sein, mit der wir uns identifizieren. Die wir aggressiv zu verteidigen suchen, wenn ein Verlust, ein Liebesentzug des Marktes droht: Abwärtsbewegungen des sozialen Status, wenn auch nur als Teufel an die Wand gemalt, beeinflussen massiv die politische Einstellung des Einzelnen.

Durch eine solche Bedrohung, selbst wenn sie objektiv nicht gegeben sein sollte und nur subjektiv empfunden wird, sind wir, durch unsere Identifikation mit der abstrakten Autorität, die in Gefahr zu sein scheint, selber in Gefahr.

Dies bringt, darauf weisen die Autoren nachdrücklich hin, „den viel belegten Zusammenhang von ökonomischer Lage und politischer Einstellung noch einmal von einer ganz anderen Seite in die Diskussion. Hier ist ein Grund dafür zu suchen, dass die gesellschaftliche Mitte in Zeiten der Krise auch immer eine Mitte in der Krise ist.

Der Soziologe Theodor Geiger hat bereits 1930 darauf aufmerksam gemacht, dass die Angst des Mittelstands vor einem sozialen Abstieg, ob nun begründet oder nicht, Ursache einer „ideologischen Verwirrung“ sein kann. So damals geschehen bei „der panikartigen Wählerwanderung einer Mittelschicht“ von den bürgerlichen Parteien hin zur NSDAP. So heute strukturell analog wieder bei den Wählerwanderungen zu den rechtspopulistischen bis reaktionären Parteien a la AfD, FPÖ und Front National zu beobachten.

Deutschland geht es so gut wie nie“ konstatiert in einem aktuellen Beitrag für die F.A.S. der Soziologe Heinz Bude. Aber dennoch es ist so, „dass jeder Dritte sich abgehängt fühlt“. Dazu gehören nicht zuletzt „die Verbitterten der deutschen Wohlstandsmitte“. Sie sind gebildet, finanziell abgesichert, sozial etabliert – aber ausgestattet mit einem ausgeprägten „Degradierungserleben“.

Wohin solche Empfindungen, solch ein Fühlen und Erleben in letzter Konsequenz führen können, zeigt eindringlich das Ergebnis einer Befragung von Decker, Kiess, Brähler aus dem Jahr 2008:

Die antidemokratische Einstellung ist in Deutschland nicht gering ausgeprägt. Die höchsten Zustimmungen erfährt die Befürwortung einer Diktatur mit einer völkischen Begründung. Die Fiktion eines Volkes als Schicksalsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Interesse, das von einer Partei verfolgt wird, findet Zustimmung bei gut einem Viertel der Deutschen. Einen Führer wünscht sich immerhin noch mehr als jeder zehnte Deutsche.

Das Volk als Schicksalsgemeinschaft. Als Masse. Gleichgeschaltetes kollektives Subjekt. Dieser unsägliche Pluralis Majestatis: ‚Wir’. Hinlänglich bekannt aus autoritärer Sozialisation nationalsozialistischer, stalinistischer, maoistischer, aber durchaus auch evangelikaler oder radikalislamischer Prägung. Bei der man, auch sprachlich, heute wieder Anleihen nimmt, wenn die wabernde Masse „Wir sind das Volk“ krakelt. Und gleichzeitig „Ihr seid der Abschaum“ meint. Chauvinistische Selbstaufwertung geht nun mal immer mit Fremdabwertung einher.

Das wahrhaft Bedrohliche ist, dass die ökonomische Realität gerade auf dem besten Wege ist, die absurdesten irrationalen Empfindungen zu bestätigen. Unlängst erst hat der Ökonom Thomas Piketty nachweisen können, dass die Schere der Einkommen weltweit eklatant weit und immer weiter auseinander geht, die Gruppe der mittleren Einkommen zunehmend kleiner wird. Und damit die Angst des Mittelstands vor sozialem Abstieg mittlerweile durchaus begründet ist. Wenn auch aufgrund gänzlich anderer Ursachen, Stichwort ‚Migrationstsunami’, als von ihm befürchtet.

Die Reichen hängen also de facto die Mittelschicht, die, gerade in Krisenzeiten, die derzeit fast alle Industrieländer durchmachen, zudem immer weiter schrumpft, schlichtweg ab. Wer hat, dem wird gegeben. Diese Plattitüde erweist sich leider immer öfter als objektiv zutreffende Zustandsbeschreibung.

Das Phänomen „Rechtsextremismus“ ist, so resümieren die Autoren der Studie, kein Phänomen der Rechten – es ist ein Phänomen, das in der Mitte unserer Gesellschaft verankert und „in allen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet“ ist: „Die Bedrohung der Demokratie ist nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu verstehen.“ Geht es dem Mittelstand nicht nur subjektiv, sondern objektiv schlechter, sucht er sich schneller und radikaler seine Ventile, als einem lieb sein kann. Was schon Ralf Dahrendorf wusste: „Die Zerstörung der Demokratie ist ein Werk des Mittelstandes.

Die „autoritäre Unterwerfung“ ist, zumal in Zeiten der Krise, eine der wesentlichen Kriterien dafür, dass es zu einer antidemokratischen Einstellung und damit zu einer ganz und gar nicht mehr schleichenden, sondern zügigen Zerstörung der Demokratie kommen kann. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno warnen bereits 1952 in den Frankfurter Heften in ihrem Bericht „Vorurteil und Charakter“:

Diese Autoritätsgebundenheit bedeutet (...) die bedingungslose Anerkennung dessen, was ist und Macht hat und dem irrationalen Nachdruck auf konventionelle Werte (...) und entsprechend auf konventionelles, unkritisches Verhalten. (...) Man verhält sich unterwürfig zu den idealisierten moralischen Autoritäten der Gruppe (...), steht aber zugleich auf dem Sprung, den, der nicht dazugehört (...) zu verdammen.“

Der wirkmächtigste Schutzfaktor gegen antidemokratische, autoritäre Strukturen, Mechanismen und Einstellungen ist Bildung, Bildung, Bildung. Wenn Bildung aber selbst, wie im philosophisch-pädagogischen Kosmos des Rudolf Steiner, autoritär organisiert ist, zementiert sie diese Strukturen: Die Kinder haben sich mit der Autorität zu identifizieren. Was, wenn das nicht unterbunden wird, dazu führen kann, dass sie sich ihr autoritär strukturiertes Substitut suchen werden. Irgendwann. Irgendwo. Irgendwie.

Um das zu verhindern, könnte „eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer demokratischen Einstellung (...) sein, bereits in den pädagogischen Konzepten dafür zu sorgen, dass kindlichen Bedürfnissen ohne Unterwerfung unter eine Autorität Geltung verschafft wird.

Dem ist nichts hinzuzufügen.




Dienstag, 24. Mai 2016


Flüchtige Gedanken über befremdliche Denkstrukturen



Wenn eine Mülltonne voll ist, ist sie voll. Und wenn sie voll ist, geht nichts mehr rein.

Denkste, denkt sich so mancher, der eine solche Mülltonne befüllt. Die Mülltonne ist genau dann voll, wenn der jeweils Befüllende das sagt. Und voll ist eine Tonne ganz sicher nicht, wenn der Deckel nicht mehr geschlossen werden kann. Das wäre ja eine völlig spießige, erzkonservative, ja nachgerade reaktionäre Interpretation des Vollseins. Schließlich kann eine Tonne doch bis in Höhe der Breite eines geöffneten Deckels gestapelt werden. Mindestens. Falls der Befüllende einiges an statischem Geschick und dazu noch reichlich Routine mitbringt, dann lässt sich von ihm sicher auch seitlich einiges als Ausleger unterbringen. Wenn man nur lange genug übt, kann man es da übrigens zu einer wahren Meisterschaft bringen.

Voll soll eine Mülltonne erst sein, wenn selbst die letzte architektonische Finte bei der Befüllung vollends ausgereizt ist? Mitnichten! Wer da schon die Flinte ins Korn wirft, entpuppt sich letztlich nur als läppischer Warmduscher, Parkhausblinker, Müllwiedermitinshausbringer. Schließlich erschließt der Winkel zwischen dem geöffneten Deckel und, zum Beispiel, einer Hauswand dem Befüllenden einen geradezu perfekten Raum zum stabilen Stapeln. Ideal geeignet für Styropor. Nur so als kleiner Tipp.

Voll ist die Mülltonne definitiv auch nicht, wenn der Befüllende eine Mülltüte in der Hand hat. Denn Mülltüten haben nun mal die ganz wundersame, ihnen offenbar innewohnende Eigenschaft, dass, sollten sie sich an die Mülltonne schmiegen, sie schon in ihr stecken. Auch wenn das einige völlig humorlose Müllwerker manchmal ganz anders sehen. Und sie dann dumm `rum stehen lassen. Aber zum Glück gibt es da ja putzig-pelzige Untermieter, die sich an ihrem Inhalt gütlich tun. Oder den Wind. Oder blöde Mitmieter, die volle Mülltüten in geleerte Mülltonnen stecken. Albern so was, das kann schließlich jedes Kind.

Überhaupt: Was heißt schon „voll“? Ist eine Mülltonne voll, wenn Kartons nicht schnöde gefaltet, sondern fein säuberlich als ganzes in eine Mülltonne verfrachtet werden? Nein, dann ist die Tonne nicht voll. Auch wenn nichts mehr rein passt. Schließlich ist ja kaum was drin. Also ist diese Tonne dann eigentlich leer. Oder nicht?

Das Allerfaszinierendste an Mülltonnen ist übrigens ihr integrierter Autopilot. Nach erfolgter Entleerung durch die Müllwerker setzen sie sich, ganz offensichtlich selbsttätig, in Bewegung und rollen wie von Geisterhand geführt wieder an ihren jeweiligen Befüllungsort zurück. Oder haben Sie jemals jemanden gesehen, der da Hand angelegt hat? Sehen Sie.

Sollten Sie diese kleine Parabel recht putzig finden, so machen Sie sich doch einfach mal den Spaß und stellen sich folgende Frage:

Wie verhalten sich wohl Menschen, die mit einer solchen Denkstruktur ausgestattet sind, in vergleichbaren Situationen? Die Frage ist deshalb nicht ganz uninteressant, weil Strukturen nun mal die dumme Angewohnheit haben, nüchterne Blaupausen zu sein, die es nicht die Bohne interessiert, mit welchem Inhalt sie befüllt werden. Um hier mal im Bild zu bleiben. Solche Strukturen sind grundlegende Muster, die in der Regel spontan, unreflektiert und intuitiv, ungeachtet sonstiger Bewertungen, Beurteilungen und Einstellungen, zum Einsatz kommen.

Es steht nun zu befürchten, dass sich diese Menschen in analogen Situationen analog verhalten werden. Und sich dabei dem Hinweis gänzlich unzugänglich erweisen, dass ihr Verhalten vielleicht nicht so ganz den Voraussetzungen eines gedeihlichen sozialen Miteinanders entspricht.

Der gute Herr Kant hat für diese Fälle dereinst ein für alle vernunftbegabte Wesen gültiges ethisches Gebot definiert, mit dem es jedem Menschen eigentlich recht einfach möglich sein sollte zu überprüfen, ob das, was er da gerade tut, nicht nur seiner eigenen selbstherrlichen Junkerattitüde entspricht, sondern, nach dem grundlegenden Prinzip der Reziprozität, das Recht aller betroffenen Menschen berücksichtigt. Kurz und knapp hat Herr K. diese Geschichte weiland als Kategorischen Imperativ betitelt:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Wenn das aber schon nicht im Kleinen, Alltäglichen, Marginalen klappt – was lässt sich dann bei den großen Dingen realistischer Weise erwarten?

Montag, 23. Mai 2016


Die Crux mit der Unumkehrbarkeit der Zeit

 
 


Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Diese Erkenntnis ist spätestens seit Heraklit ein alter Hut. Aber selbst alte Hüte können ja durchaus, wenn man sie denn bei passender Gelegenheit erneut in den Ring wirft, für einen überraschenden Erkenntnisgewinn sorgen. So auch bei diesem schon tausendmal gehörten, recht abgedroschen klingenden Aphorismus, der sich, ähnlich wie ‚Carpe diem’, ‚Gnothi sauton’ und andere antike Weisheiten, seit Jahr und Tag größter Beliebtheit auf den diversen Kalenderblättchen insbesondere geistlicher Provenienz erfreut.

Die ‚Zeit’ ist eine solche Gelegenheit. Sie gab es nicht immer schon, sondern wurde erst im Urknall mit dem Raum konstituiert. In einer für uns unvorstellbaren, überlichtschnellen kosmischen Inflation aus der Singularität heraus. Dem einen Punkt als Ausgangspunkt von allem. Seit diesem Moment ist erst Zeit: als ewiges Kontinuum. Panta rhei. Alles fließt. Wie eben auch die Zeit. Und zwar in eine Richtung. Eindeutig, unerbittlich, unumkehrbar, unwiederholbar.

Was nun wie ein rein theoretisches Gedankenspiel eines mittelklassigen philosophischen Exerzitiums anmutet, entpuppt sich bei näherer Betrachtung der Konsequenzen, die sich aus dieser Faktenlage ergeben, als heikle Erkenntnis. Schürt sie doch Zweifel an der Gültigkeit einer der hehrsten Maximen der positiven Wissenschaft par excellence – der Naturwissenschaft: die der Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen, Analysen, Messungen und Experimente.

Nur dann, wenn ein Ergebnis auch reproduzierbar ist, wenn also ein Experiment unter exakt den gleichen Bedingungen wiederholt werden kann, kann es Glaubwürdigkeit erlangen. Und im Idealfall auch Gültigkeit. Wird nun aber die Zeit als unumkehrbar definiert, ist es a priori ausgeschlossen, dass sich ‚Zeit’ wiederholen lässt. Mithin ist es, da sie ja nun mal eine der wesentlichen, wenn nicht sogar die Grundanforderung schlechthin darstellt, logisch ausgeschlossen, dass sich ein Experiment unter den exakt gleichen Bedingungen wiederholen lässt.

Wie aber soll ein wissenschaftliches Ergebnis Gültigkeit erlangen, wenn ihre Grundanforderung prinzipiell nicht erfüllbar ist?

Mit solchen profanen Fragen hält sich die exakte Naturwissenschaft nicht gerne und schon gar groß auf. Sie ignoriert nach besten Wissen und Gewissen ihre eigenen Prämissen. Ignoriert das Wesen der Zeit. Und erklärt ihre Ergebnisse mit großem Ballyhoo für gültig. Was juckt einen da schon solch eine lässliche logische Ungereimtheit, wenn doch Plausibilität und Praktikabilität der ungezählten atemberaubenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten 120 Jahre völlig außer Frage stehen? 


Gar nicht – ja: muss es auch nicht. Vorausgesetzt, die Wissenschaft ist sich dieser, und damit ihrer eigenen, grundsätzlichen und niemals aufzulösenden Beschränktheit in jedem Moment ihrer Forschung demütig bewusst. Und wähnt sich deshalb bestenfalls von Zeit zu Zeit im Besitz einer relativen, nie aber einer ewigen, endgültigen, absoluten Wahrheit. Eine Einsicht, die übrigens auch den immer zahlreicher werdenden Vertretern der diversen radikalkonservativen, reaktionären und autoritären Strömungen, sei es politischer, religiöser oder esoterischer Couleur, die derzeit weltweit ihr Unwesen treiben, gut zu Gesicht stehen würde. 

Andererseits können letztere aber etwas, was Naturwissenschaftlern verwehrt bleibt: Sie können die Zeit umkehren...

Mittwoch, 11. Mai 2016


Die Befremdlichkeit gegenläufiger Zeitströmungen


Die Zeichen stehen auf Aufbruch. Ein Aufbruch in neue Zeiten. Auch wenn es reichlich Stimmen gibt, die vor Missbrauch und Vereinnahmung, vor Verlust jeglicher Privatheit und informationellen Selbstbestimmung, vor totaler Überwachung, Majority Reports und der Datensammelwut staatlicher Institutionen und GAFA – Google, Apple, Facebook und Amazon – warnen:

Wir befinden uns heute an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution. Die
Digitale Transformation erfasst alle Bereiche der Wirtschaft. Big Data, immense Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen, werden gesammelt, zu Smart Data verknüpft und verarbeitet. Smart Services entstehen. Ebenso smarte Fabriken, in denen Produkte ihre Herstellung weitgehend selbst steuern. Mit dem Verbraucher kommunizieren. Und detaillierte Herstellungsnachweise einschließlich vollständiger Umweltbilanz liefern.

Es herrscht eine fast schon euphorische Begeisterung für die Möglichkeiten, die sich uns dabei eröffnen. Die Digitalisierung wird unseren Lebensalltag, unsere Gesellschaft, unsere Arbeits-, Denk- und Verhaltensstrukturen unweigerlich und radikal verändern. Angesichts dieser verwirrend schnellen Entwicklung, die einen fast atemlos macht und einem beständig das Gefühl vermittelt, zu spät zu kommen, weiß zur Zeit noch niemand so recht, wie es ausgehen wird: „Schöne neue Welt“ oder schöne neue Welt?

Eine magische Anziehungskraft geht von ihr aus, der digitale Hype hat geradezu massensuggestives Potenzial. Dabei greift vielerorts eine unreflektierte, unkritische Begeisterung für das jeweils Neue und Nächste um sich, die bei einigen Jüngern des Silicon Valley fast schon esoterische Züge einer zukunftshörigen Sekte annimmt, bestimmt von den Hohepriestern des digitalen Zeitalters. Umgekehrt lässt sie das jeweils Letzte oftmals als das ewig Gestrige erscheinen. Das Vergangene ist vergessen, was allein zählt, ist das Kommende. Das weckt ungute Erinnerungen an das „Futuristische Manifest“. Filippo Marinetti proklamierte 1909 darin seinen unerschütterlichen Glauben an das Morgen, gänzlich reduziert auf den technologischen Fortschritt und seine grenzenlosen Möglichkeiten.

Ein solcher Glaube ist blind gegenüber allem anderen, völlig immun gegen kritische Stimmen. Er schweißt die Gläubigen fest zusammen, lässt im Digital Valley eine weltweite Gemeinschaft entstehen, die ihre eigenen Rituale, Symbole, Kulte, Mythen erschafft. „Der ganze soziale Körper wird von einer einzigen Bewegung belebt.“ So der Anthropologe Marcel Mauss. Und am Ende „gibt (es) keine Individuen mehr.“ Nur noch eine Masse, die ihre „mythisch-magischen Weltbilder“ (Renè Freund) als Wirklichkeit erlebt.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen stellt man derzeit mit einigem Befremden eine ebenso weltumspannende gegenläufige Bewegung fest. Es ist keine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die für Bloch eine der wesentlichen Kennzeichen der Moderne war. Denn hier zeigt sich nicht eine bloß reaktionäre, rückständige Haltung, hier zeigt sich eine explizit und aggressiv rückwärts orientierte Haltung. Eine, die uns in allen Bereichen, auf allen Ebenen, koste es, was es wolle, in die ehedem guten, alten Zeiten zurückkatapultieren will.

Die expansiven Kräfte des erzkonservativen, aggressiv-missionarisch agierenden Wahhabismus, einer ursprünglich sektiererischen Richtung des Islam, der seit dem 18. Jahrhundert eine unheilvolle, blutsbrüderische Liaison mit der Familie der Saud eingegangen ist. Die, vom Westen diplomatisch und militärisch nach allen Regeln der Kunst gefördert, ihrerseits diese archaisch anmutende Form des Islam nach allen Regeln der Kunst fördert.

Eine derart rückwärts orientierte Ausprägung einer nach Deutungshoheit strebenden Interpretation des Islam lässt sich strukturell aber auch anderenorts feststellen. So zeigt der Religionswissenschaftler F. W. Graf, dass sich dergleichen in den zahlreichen, nicht minder aggressiv expandierenden Christentümern abspielt. Und das durchaus nicht im Verborgenen, Kleinen, Randständigen. Sondern im Weltmaßstab, dennoch von uns kaum zur Kenntnis genommen.

Da sind die asketischen Pfingstchristen, die besonders in Brasilien, aber auch in Afrika mit ihrer protestantisch-kapitalistischen Ethik erfolgreich missionieren und unter massivem Einfluss konservativer religiöser Gruppen aus den USA stehen. Die nicht minder vom Heiligen Geist beseelten Evangelikalen, die in Deutschland zumindest schon einmal eine Familienministerin gestellt haben. Die Evangelicos in Nordamerika. Die kreationistische Internationale, die der Evolutionsbiologie ein ‚Intelligent Design’, kurz ID genanntes, allein von Gott inspiriertes Konzept entgegenhält.

Auch ist die zunehmende Kriminalisierung der Homosexualität nicht allein ein russisches Phänomen. Oder ein radikalislamisches. Es steht auch für die Weltanschauung der Pfingstchristler, so des ausgewiesenen Holocaust-Leugners Scott Lively, Präsident der "Abiding Truth Ministries" in Kalifornien. Seit 2009 ist er „aktiv an der ugandischen Kampagne gegen Schwule und Lesben beteiligt, greift in die Gesetzgebung ein und will die Todesstrafe für Homosexuelle verankern“. Weiter heißt es 2013 in einem Beitrag des Deutschlandfunks: „In Uganda, Kenia und anderen Ländern fürchten Homosexuelle mittlerweile um ihr Leben, etliche wurden bereits ermordet“. http://www.deutschlandfunk.de/beseelt-vom-heiligen-geist.724.de.html?dram:article_id=246998

So ist nicht allein das verstörende Islamverständnis der IS und Al-Kaida in manchen Weltgegenden zu einer tödlichen Bedrohung geworden, sondern auch das nicht minder verstörende ethische Verständnis mancher Christentümer.
Selbst das Judentum ist vor solch extremen Formen nicht gefeit. Hier sind es radikalreligiöse, ultraorthodoxe Gruppierungen, die Charedim, die einen ebenso absoluten Geltungsanspruch erheben und entsprechende Deutungshoheit selbst in Fragen des täglichen Lebens beanspruchen wie ihre strukturellen Vettern auf islamistischer oder christlicher Seite.

Als wäre das nicht schon genug der Rückschrittlichkeit, finden wir sie derzeit weltweit nicht nur im religiösen, sondern vermehrt auch im politischen Kontext. Die Türkei steht vor der Rückkehr zu einem streng islamisch orientierten, osmanischen Despotismus, der krakengleich selbst bis nach Deutschland übergreift. Die herrschende Regierung in Polen sehnt sich einen erzkatholisch aufgestellten Nationalstaat reinster ethnischer Prägung herbei. Russland feiert sich selbst betont martialisch in einem heroisch-patriotisch aufgeladenen Erinnerungskult. Ungarn wird sukzessive orbanisiert, Österreich läuft in Scharen zur rechtspopulistischen FPÖ, Frankreich zur rechtsextremen Front National über. Und auf den Philippinen wurde just Roberto Duterte zum Präsidenten gewählt, der ganz ungeniert damit droht, ein Todesschwadron aufzustellen und mit diktatorischen Mitteln regieren zu wollen.



Die Anhänger der AfD „nehmen eine überlieferte Lebensweise in Anspruch“, so Karen Krüger in einem Beitrag für die F.A.S. „Genauso machen es radikale Islamisten, gegen die ja die AfD nach eigenem Bekunden zu Feld ziehen will.“ Reaktionäre, nationalistische Bewegungen allenthalben in Europa, die sich von der EU wegbewegen hin zu einer ausgeprägt kleinbürgerlichen Nationalstaatlichkeit. Chauvinistische Reflexe und patriotische Parolen allüberall. Und selbst das Tabu der Unantastbarkeit der Grenzen ist heute obsolet. Was Putin im Großen vorexerzierte beeilte sich jetzt der Hofer Norbert, seines Zeichens FPÖ-Präsidentschaftskandidat, im Kleinen nachzukläffen, als er einer Wiedervereinigung Tirols das Wort redete.

Selbst Pep Guardiola scheint sich mehr für die Unabhängigkeit Kataloniens einzusetzen als für die Belange seines jeweiligen Arbeitsgebers. Dass Schottland im Fall eines Brexit bereit wäre, aus dem Vereinigten Königreich auszutreten, um in der EU zu bleiben, mutet da fast schon wie ein anachronistisches Paradox an. Eine historische Anekdote der skurrilen Art, kollidieren hier doch gleich zwei rückwärtsgewandte Strömungen miteinander.

Eugene Joseph Dionne, Kolumnist der renommierten ‚Washington Post’, konstatierte in seinem Buch „Why The Right Went Wrong“, dass die Tea Party ein Seniorenclub sei, der eine Rückkehr zu den gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Zuständen der 50er herbeisehnt. Wo alles noch seine Ordnung hatte. Wo jeder wusste, wo seine Stellung innerhalb der Gesellschaft war. Wo ‚weiß’ oben und ‚schwarz’ unten war. Wo ‚hetero’ gut und ‚homo’ schlecht war. Wo ‚America first’ und der Rest der Welt zweite Wahl war. Wen wundert’s da noch, dass Donald Trump erst die Grand Old Party im Sturm eroberte, dann God’s Own Country folgen lassen will und morgen am liebsten die ganze Welt?

Alle, so verschieden sie auch sein mögen, eint doch der Gedanke, den Karen Krüger für AfD und Islamisten gleichermaßen konstatierte: Sie glauben, „dass es Rückwärtsgewandtheit braucht, um vorwärtszugehen“. Ihr Idealbild ist der Einzelne, der in der Masse, im sozialen Körper aufgeht. Ein kollektiver Akt der Selbstaufgabe, den der Anthropologe Marcel Mauss bereits 1903 beschrieben hat.

Wir sind das Volk“. Diese völkische Beschwörungsformel der Deutschtümler ist so gesehen letztlich, wie das „America first“ eines Donald Trump, nichts anderes als ein Rückgriff auf stammesgeschichtliche Riten, „die das Gewünschte heraufbeschwören, statuieren oder befehlen“ soll. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski sah darin einen der Ursprünge der Magie. Die Auserwählten werden in einem quasi okkulten Akt Teil einer Solidargemeinschaft – und alle anderen werden demonstrativ ausgrenzt.

Damit einher geht ein befriedigendes Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung in orientierungsloser Zeit. Es immunisiert zuverlässig gegen alle rationalen Argumente. So wird eine objektiv irreale Bedrohung subjektiv als reale Bedrohung empfunden, die subjektive Wahrnehmung wird zur objektiven Realität.

In dem Momentum des Magischen liegt eine nicht minder befremdliche Schnittmenge dieser so befremdlich gegenläufigen Zeitströmungen, der Fortschrittsgläubigkeit und der „Revolution des bewussten Rückschritts(Renè Freund). Der Sehnsucht nach einer klaren Ordnung, die eines eigenen Standpunktes nicht mehr bedarf. Nur eines Idols. Abgotts. Führers.

Hier Big Data, da Big Daddy.