Donnerstag, 21. April 2016


Denk ich an Deutschland in der Nacht,

Dann bin ich um den Schlaf gebracht


Lieber Harry Heine! Da finden sich, durchaus ehrenwert, in deiner liebenswerten Geburtsstadt einige kunstsinnige Herren zusammen, um in deinem Geiste einen Verein, den ‚Heinrich Heine Kreis’ zu gründen, der den „Völkerverständigungsgedanken und auch die internationalen Verbindungen in Kunst, Kultur und Wissenschaft“ fördern soll. Und das alles, ganz selbstverständlich, nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aber unter Ausschluss der holden Weiblichkeit.

Wie bitte?

Ein Verein, der Heines Schaffen und Wirken hegen und pflegen will, schließt – ausgerechnet! – die Frauen aus? Dem Mann, der die Frauen liebte, werden die Frauen entzogen? Heinrich Heine, der die emanzipierte Frau so besang wie niemand vor ihm ? Der sich liebend gern mit hochgebildeten Damen umgab, mit Germaine de Stael, George Sand oder Rahel Varnhagen. Alles Frauen, die selbstbestimmt ihr Leben lebten und nicht im bürgerlichen Biedermeier erstarben.

Heinrich Heine, den von Jugend an zeitlebends keiner mehr prägte als die Frauen – seine Mutter Betty ebenso wie seine Jugendliebe Molly oder Cousine Amalie. Der sich, beseelt von einer sehr weltlichen Vorliebe fürs weibliche Geschlecht, als gestandener Mann in einem Pariser Schuhladen Hals über Kopf in eine nach damaligen Maßstäben nicht gerade ehrbare junge Frau verliebte, eine üppige, temperamentvolle Schönheit, halb so alt wie er selbst. Und der ihr bis zu seinem Tod in großer Liebe und lustvoller Zuneigung verbunden blieb.

So sehr, dass sie ihm gerade in seinen melancholischen Stunden, an Deutschland schier verzweifelnd, allein durch ihre bloße Anwesenheit und Erscheinung Trost spenden konnte:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
 / Dann bin ich um den Schlaf gebracht / Ich kann nicht mehr die Augen schließen, / Und meine heißen Thränen fließen.

Die ‚Nachtgedanken’ enden schließlich mit einer zärtlichen Ode an die geliebte Frau, Quell seiner Freude und sinnliche Aufheiterung:

Gottlob! durch meine Fenster bricht
 / Französisch heit’res Tageslicht;
 / Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
 / Und lächelt fort die deutschen Sorgen.


In Zeiten wie diesen ist allein das schon Grund genug, um, will man Heines Angedenken in Ehren halten, niemals niemals niemals auf die Frauen zu verzichten.Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön“. Und wenn man an sie denkt, wird einem wirklich recht „wunderlich zu Muthe“. Wunderlich in jedem Fall. In diesem Fall aber etwas anders, als Heine es gemeint hat.

Geleitet wird besagter ‚Heinrich Heine Kreis’ vom Chef des Theaters an der Kö, Rene Heinersdorff. Der, wie man unschwer erkennen kann, den Ehrentitel ‚Heine’ stolz im Namen trägt: Aus gegebenem Anlass entziehe ich Ihnen nun, werter Herr Heinersdorff, diese Auszeichnung. Auf dass Sie fürderhin im rheinischen Feuilleton unter dem kläglichen Restnamen ‚Rene Rsdorff’ vagabundieren mögen.

Mittwoch, 20. April 2016


Geschichten aus Tausendundeinem Reich


Schahrasad stand ein jämmerliches Ende bevor. Ihr Herr, König Schahriyar, sah sich von allen Frauen schändlich hintergangen, belogen und betrogen. Hinter dem Rücken ihrer Gebieter spannen sie ihre lustvollen Fäden und teilten heimlich das Bett mit ihren Geliebten, um sich ihnen mit Wonne hinzugeben. Der König, um nicht auch so gedemütigt zu werden, besann sich einer besonders perfiden Art der Vorsicht: Alle Mädchen, die ihm des Nachts zugeführt wurden, ließ er nach vollzogenem Beischlaf am nächsten Morgen töten.

Dieses Schicksal sollte auch Schahrasads Schicksal werden. Um ihm zu entgehen, wandte sie eine List an: Sie verzauberte den grausamen König allabendlich mit ihren köstlichen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die ihn bannten bis der nächste Morgen graute. So sehr, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als dass Schahrasad am folgenden Abend mit ihren Erzählungen fortfahren möge – und sie deshalb einstweilen verschonte.

Auch in der 999. und 1000. Nacht erzählte Schahrasad ihrem König Geschichten, denen er wie betäubt lauschte. Doch dieses Mal waren es nicht einfach „Sprichwörter, Fabeln, Anekdoten, Geschichten und Witze, wahre Begebenheiten, Nachrichten aus den Chroniken und Überlieferungen zur Geschichte vergangener Zeiten, Kassiden und Gedichte“.

Nein. Dieses Mal war es seine eigene Geschichte. Ein Spiegel, den sie ihm vorhielt, um ihn zur Einsicht zu bringen und zur Umkehr zu bewegen. Und König Schahriyar hatte den Verstand und auch die Größe, das zu erkennen, hernach sein Leben zu ändern und das Leben anderer zu schonen.

Märchenhaft, eine solche Wendung und Wandlung. Doch wer glaubt heute noch an Märchen? Man sollte sich sowieso keine Märchen mehr erzählen lassen. Sondern die Fakten, nichts als die Fakten sprechen lassen. Und „Mein Kampf“ lesen:

Adolf Hitler hat darin in entwaffnender Ehrlichkeit und schonungsloser Offenheit zum Ausdruck gebracht, was er von der Masse seiner arischen Herrenrasse hielt – nichts.

Der „in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin“ veranlagte Arier, sein ganzes Denken und Handeln wird, so Hitler, durch die „Primitivität der Empfindung“ bestimmt. Dabei ist „die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ... nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür aber die Vergesslichkeit groß“.

Dem tumben Arier muss ein apokalyptisches Schreckensszenario gezeichnet werden, das in ihm diffuse Ängste auslöst. Diese müssen propagandistisch in eine „grundsätzlich subjektiv einseitige Stellungnahme“ münden, welche nicht „objektiv auch die Wahrheit ... zu erforschen (hat), um sie dann der Masse in doktrinärer Aufrichtigkeit vorzusetzen“.

Die ‚volkstümliche’ Rhetorik hat „ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten“ unter den Ariern. „Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll.

Der „feminin“ konstituierten, geistig limitierten und am typisch deutschen „Objektivitätsfimmel“ leidenden Herrenmasse muss mit „einer tausendfachen Wiederholung einfachster Begriffe“ der ewig gleiche Inhalt eingebläut werden. Solange, bis sie keine andere Wahrheit mehr kennt als die ‚eigene’. Und sei sie auch eine Lüge.

Kein Märchen. Kein Witz. Sondern O-Ton.

Es steht jedoch zu befürchten, dass die Moral von der Geschicht’ die nicht erkennen, die es betrifft. Und es mit ihnen kein solch glückliches Ende nehmen wird. Diese Unverbesserlichen halten es dann wohl eher mit betagtem Herrn Palmström aus Christian Morgensterns Gedicht „Die unmögliche Tatsache“:

Eingehüllt in feuchte Tücher / prüft er die Gesetzesbücher / und ist alsobald im klaren: / Wagen durften dort nicht fahren! / Und er kommt zu dem Ergebnis: / „Nur ein Traum war das Erlebnis, / Weil“, so schließt er messerscharf, / „nicht sein kann, was nicht sein darf.“

Montag, 18. April 2016


Neues aus der Aggressionsforschung:
Erdogan vs. Böhmermann


§ 103 StGB. Ein recht antiquiert anmutender Paragraph zum Tatbestand der Majestätsbeleidigung. Vergessener Rest obrigkeitsstaatlicher Justiz, 1871 im deutschen Reich eingeführt. Er soll, so das heutige Rechtsverständnis, die „Ehre ausländischer Staaten als kollektives Rechtsgut“ und damit „allein das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an einem Mindestbestand funktionierender Beziehungen zu ausländischen Staaten“ schützen (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Wolfgang Wohlers/Walter Kargl, Strafgesetzbuch, 4. Auflage 2013, § 103 StGB, Rn.4).

Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob, wenn ein ausländische Staatsoberhaupt allein als Person und nicht als Vertreter eines ausländischen Staates beleidigt wird, überhaupt eine Strafbarkeit nach § 103 StGB vorliegt – die persönliche Beleidigung ist lediglich eine Strafbarkeit nach § 185 StGB.

Zudem handelt es sich bei § 103 StGB um einen Paragraphen, der ein Stück weit den grundgesetzlich verankerten Gleichheitsgrundsatz berührt. Denn die Strafandrohung für die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter wird hier weit höher angesetzt als die normal sterblicher Bürger: Alle Menschen sind gleich, aber ausländische Potentaten sind gleicher.

Auch muss bei diesem Relikt des reichsdeutschen Justizwesens die Frage erlaubt sein, ob der Grundsatz der Gewaltenteilung gewahrt wird, da hier, ein singulärer Fall im deutschen Strafrecht, die Regierung einer Strafverfolgung zustimmen muss. Sollte es nicht vielmehr so sein, dass der Exekutive, in guter rechtsstaatlicher Tradition, keine wie auch immer geartete Entscheidungshoheit über die Judikative zusteht?

Auch lässt sich nicht verhehlen, dass der türkische Staatspräsident sich ja hier nicht einfach nur auf sein gutes Recht beruft, sondern durch seine demonstrativ öffentliche Intervention ganz bewusst und gezielt in die inneren Angelegenheiten eines anderen, souveränen Staates einmischt. Etwas, was sich der Unsouverän vom Bosporus im umgekehrten Fall bereits bei deutlich nichtigeren Anlässen in unschöner Regelmäßigkeit ausdrücklich verbeten hat.

Wie auch immer man zu dem Niveau von Herrn Böhmermann im Allgemeinen und der Neo Magazin Royale Sendung vom 31. März im Besonderen stehen mag: Der möglicherweise justiziable Sachverhalt, um den es hier geht, ist die beleidigende Darstellung von Erdogan. Eine klassische Verbalinjurie. Mehr zunächst einmal nicht. In ihr sieht ein stellvertretender türkischer Ministerpräsident aber ein ‚schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit’. Wenn Ihnen der Wortlaut dieser Anklage irgendwie bekannt vorkommen sollte – er tauchte erstmals in den Nürnberger Prozessen auf.

Dort ging es um einen einzigartigen Sündenfall in der an Sündenfällen nicht armen Menschheitsgeschichte: den Holocaust. Die rassisch motivierte, systematische und geradezu industrielle Vernichtung menschlichen Lebens. Böhmermanns schnöde Majestätsbeleidigüng auf Augenhöhe mit der entmenschlichten Tötungsmaschinerie apokalyptischen Ausmaßes, dem genozidalen Furor der Nationalsozialisten? Naja.

Man sollte besagten türkischen Regierungsvertreter, der diese Aussage sicherlich im besten Einvernehmen mit seinem obersten Dienstherrn getätigt hat, in stiller Stunde einmal höflich zu verstehen geben, dass ihm da nicht nur die Verhältnismäßigkeiten arg durcheinander geraten sind – nein, mit diesem sprachlichen Lapsus hat er das unaussprechliche Leid der Millionen Juden, Roma und Sinti, die in den Gaskammern von Treblinka, Sobibor oder Birkenau ihr Leben ließen, auf das Niveau einer Verbalinjurie herabgezogen.

Es ist fast müßig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass Herr B. seine Schmähkritik, vorgetragen in einem deutschen Spartensender, kontextuell eingebettet hat: In einem pädagogisch-satirischen Exerzitium sollte Herrn E. vor Augen geführt werden, was „in Deutschland, in Europa ... von der Kunstfreiheit, von der Pressefreiheit, von der Meinungsfreiheit“ gedeckt ist. Und was eben nicht mehr. 

Justiziable „Schmähkritik“, eingehüllt in den Mantel der Satire. Ein Disclaimer als Stilmittel, um besagten Herrn E. als einer herausragenden Person der Zeitgeschichte die Freiheit – und auch ihre Grenzen – vor Augen zu führen, die in einer pluralistischen, rechtsstaatlichen, demokratischen Gesellschaft nicht nur Kunst und Presse, sondern jedem Bürger als Grundrecht zusteht. Ein Grundrecht, das mühsam errungen wurde. Und das es zu verteidigen gilt. Auch für die, deren Meinung man ganz und gar nicht teilt. Also im Zweifelsfalle auch für Herrn E. und seine Meinung.

Eine Rechtsnorm, die für alle modernen Zivilisationen verbindlich sein sollte. Für uns ebenso wie für Ungarn, Polen oder mögliche europäische Beitrittskandidaten.

Die Meinungen anderer auszuhalten, kann einem schwerfallen. Manchmal sogar sehr schwer. Das zeigt sich in diesen Tagen gerade wieder. Damit hat Erdogan, der sich in seiner selbstherrlichen Attitüde wie ein absolutistisch herrschender, osmanischer Sultan geriert, jedoch nichts am Hut. Nicht in seinem eigenen Land, wo er mittlerweile fast 2.000 Bürger mit Beleidigungsklagen überzogen hat. Aber auch nicht in Deutschland.

Ja – warum eigentlich nicht? Was kümmert es die großtürkische Eiche, wenn sich eine kleine deutsche Sau dran reibt? Warum hat sich weiland der altehrwürdige Ayatollah Khomeini, der entrückte Führer der Schiiten, auf das aus seiner Sicht nichtswürdige, erbärmliche Niveau eines Ungläubigen, auf Rudi Carrell herabgelassen?

Warum greift seine Majestät Recep Tayyip Erdogan bereits nach der Extra 3-Parodie zu einem der schärfsten diplomatischen Mittel, der Einbestellung des Botschafters? Und warum geht der große Erdogan gegen einen Kleinkünstler namens Böhmermann vor und verhilft ihm so zu weltweiter Bekanntheit? Erdogan vs. Böhmermann – welch anachronistische Differenz.

Eine ‚Beleidigung’ ist nach deutschem Strafrecht ein ‚Ehrdelikt’, das durch die Äußerung einer ehrenrührigen Behauptung begangen wird. Es ist ein Angriff auf die Ehre einer anderen Person, auf seine personale Würde und seinen legitimen Anspruch, seinem Wert als Mensch entsprechend behandelt zu werden.

Nur hat für uns in Deutschland die ‚Ehre’ heute eine etwas andere Konnotation als, zum Beispiel, in Südamerika, Albanien, Serbien oder eben der Türkei. Dabei geht es bei der ‚Ehre’ generell immer um zwei Seiten: Auf der einen Seite um mein ‚Selbst’, also meine Selbstachtung, mein Selbstwertgefühl und mein Selbstbild.

Auf der anderen Seite geht es um die Zuschreibung durch andere. Also um mein Außenbild. Um Gruppenzugehörigkeit. Anerkennung. Status. Und Prestige. Der Kassler Historiker Winfried Speitkamp weist darauf hin, so Andreas Frey in einem Artikel in der F.A.S., dass gerade eine Person, die „sich stark über eine Gruppenzugehörigkeit und das Außenbild definiert, ... besonders anfällig für Beleidigungen“ ist.

Bezeichnenderweise reagieren solche Personen, wenn sie bei ihrer Ehre gepackt werden, sehr aufgebracht, zeigen deutlich erhöhte Cortisol- und Testosteron-Werte, sind aggressiv und gewaltbereit. Nicht zufällig fällt das Phänomen Beleidigung in der Psychologie unter die Rubrik Aggressionsforschung“, wie Andreas Frey in seinem lesenswerten Artikel anmerkt.

Ein Apercu, der diese Auseinandersetzung mit einem mal in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.

Mittwoch, 13. April 2016


 Die erhellenden Ansichten eines gewissen Herrn Hitler


Über Adolf Hitler wird man vermutlich alles Schlechte dieser Welt sagen können. Und die Wahrscheinlichkeit ist recht groß, dass man mit kaum einer dieser Aussagen völlig daneben liegt. Aber eines muss man dem Gröfatzke, bei allem Widerwillen, zugute halten:

In geradezu entwaffnender Ehrlichkeit und schonungsloser Offenheit hat er in öder Landsberger Festungshaft seine eigenwillige Interpretation der Weltgeschichte, seine Wert- und Wahnvorstellungen, Ideale und Endziele formuliert. Er legte in aller Ausführlichkeit dar, worin er die Ursache allen Übels sah. Wie er vorzugehen gedachte, um diese endlösend auszumerzen, sie final zu tilgen vom Angesicht dieser Erde.

Mit Niederschrift der nationalsozialistischen Bibel „Mein Kampf“ 1924/25 war Hitler für alle, die es hätten wissen wollen, wie ein offenes Buch. Auch für die Masse der arischen Herrenrasse, die in ihm, in pathetisch überhöhter, heilsgewisser und pseudoreligiöser Verehrung, ihren Führer, ja: Erlöser sah. Doch auch eine nur halbwegs aufmerksame Lektüre hätte schon ausgereicht, um zu erfahren, was Hitler von der Masse hielt: nichts.

Es ist, auch zum strukturellen Verständnis heutiger Ereignisse, höchst lehrreich zu erfahren, warum Hitler seine Botschaften so eindimensional anlegte. Sein Credo: Schlichte Botschaften fürs schlichte Volk – das sichert den Erfolg bei den Massen. Oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen:

„Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten hat ... Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll.
Adolf Hitler, Mein Kampf , Kap. Kriegspropaganda (1925)

Erfolgreich kann Propaganda nur sein, wenn sie ein redundanter und penetranter Appell „an die weniger gebildete Masse“ ist. Sie hat sich in ihrem Wirken „immer mehr auf das Gefühl“ und „die gefühlsmäßige Vorstellungswelt“ zu richten, aber „nur sehr bedingt auf den sogenannten Verstand“. Dabei „kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht groß genug sein“.

Für wie minderbemittelt muss der geliebte Führer seine Herrenrasse zur Gänze gehalten haben, dass er so abschätzig von ihrem geistigen Potenzial sprach? Oder war es vielleicht die Angst davor, dass eine intellektuell etwas anspruchsvollere Propaganda bei den Ariern womöglich nicht niedere Instinkte angesprochen, sondern sie kontraproduktiv ins Grübeln gebracht hätte?

So oder so: Es spricht Bände, dass Hitler seinem Volk nur Propaganda auf unterstem geistigen Niveau zumutete: „Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür aber die Vergesslichkeit groß“.

Propaganda hat sich eben deshalb „auf wenig zu beschränken und dieses ewig zu wiederholen“, sie hat diese Punkte „schlagwortartig zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag“. Redundanz und Penetranz, das Mantra der Massensuggestion.

Das Gewollte“, so Hitler, darf dabei nicht etwas sein, was den Gegner lächerlich macht. Nein. Es muss ein apokalyptisches Schreckensszenario gezeichnet werden, das diffuse Ängste auslöst, eine irrationale Bedrohung darstellt, die in eine „grundsätzlich subjektiv einseitige Stellungnahme“ mündet. Denn Propaganda hat eben nicht „objektiv auch die Wahrheit ... zu erforschen, um sie dann der Masse in doktrinären Aufrichtigkeit vorzusetzen“.

Ganz im Gegenteil: Nicht ‚doktrinär aufrichtig’ hat Propaganda zu sein, sondern indoktrinär parteiisch, einseitig und hemmungslos subjektiv. Und so „ununterbrochen der eigenen (Wahrheit) zu dienen“. Auf gut Deutsch: Die Masse hat in bewusster Einseitigkeit systematisch und stereotyp manipuliert zu werden, um die finale Durchsetzung der ‚eigenen Wahrheit’ zu erreichen.

Es darf also kein Zweifel daran aufkommen, wer die Deutungshoheit hat. Und damit, wer entscheidet, was wahr ist: Die Wahrheit ist immer genau das, was die Machtelite als Wahrheit definiert. Und damit allen oktroyiert. Übrigens auch der Masse des deutschen vulgo arischen Volkes.

Die Masse ist nicht in der Lage, nun zu unterscheiden, wo das fremde Unrecht endet und das eigene beginnt“. Ja – es darf nicht einmal der Hauch von Zweifel aufkommen, dass das deutsche Volk nicht im Recht ist. Deshalb darf man der tumben Masse bloß nicht zu viel verschiedene Eindrücke oder Gedanken zumuten, alles muss so einfach wie das Volk gestrickt sein: Denn der „in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin“ veranlagte Arier, sein ganzes Denken und Handeln wird allein bestimmt durch die „Primitivität der Empfindung“. Der ‚feminin veranlagte Arier’. Soso.

Propaganda nutzt stereotype Argumentationsmuster. Animalische Reiz-/ Reaktionsschemata. Schlichte Denk- und Entscheidungsstrukturen. Gut vs. böse. Wahrheit vs. Lüge. Recht vs. Unrecht. Positiv vs. negativ. Mit großer Beharrlichkeit hat man der „feminin“ konstituierten, geistig limitierten arischen Herrenmasse, die zudem noch an dem typisch deutschen „Objektivitätsfimmel“ leidet, mit „einer tausendfachen Wiederholung einfachster Begriffe“ den ewig gleichen Inhalt bis in die letzten Windungen ihres archaischen Reptilienhirns zu hämmern.

Solange, bis endlich die Trägheit der Masse überwunden ist und diese unbesehen all das glaubt, was man ihr vorsetzt. Und sei es die Unwahrheit. Der größte Unfug. Oder eben auch das größte nur vorstellbare Unrecht.

„Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Unrecht zu begehen."
Voltaire, Questions sur les miracles, 11. Brief (1765)

Um einzusehen, dass diese wirkmächtige Struktur durchaus kein historischer Einzelfall ist, genügt bereits ein flüchtiger Blick in die diversen Foren Asozialer Medien. In unschöner Tradition werden auch hier diese so eingängigen wie simplifizierenden Gegensätze gepredigt. Wir vs. ihr. Deutsch vs. undeutsch. Fleißige Hände vs. schmarotzende Gutmenschen. Es geht einzig um simple Freund-Feind-Schemata für die simple Masse.

Von Belang ist nicht, was der Andere sagt oder denkt. Ob er Recht hat oder Unrecht. Von Belang ist einzig, dass der Andere als der ‚Andere’ definiert wird. Als ‚Keiner von uns’. Als Außenseiter. Ausgegrenzter. Fremder. Als Bedrohung, die klar benannt werden kann: Ihr seid die Bedrohung. Wir sind das Volk.

Wir: Das ist die Solidargemeinschaft der Bedrohten und Verängstigten. Und ihre irrationale, diffuse Angst vor der subjektiv als real empfundenen Bedrohung ist nichts anderes als das eiserne Band, das sie zusammenschweißt: In einer Zeit des Traumas, der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit erhebt sich Phoenix gleich ein neues völkisches Gemeinschaftsgefühl aus der Asche der Geschichte.

Eine erwachende Identität, die, vice versa, die ‚Anderen’ ausgrenzt. Wir vs. ihr. Mit dieser neu entstandenen Zugehörigkeit gibt es endlich wieder, zumindest in der subjektiven Wahrnehmung, klare, geordnete Verhältnisse. Sie geben dem ‚Wir’ einen festen archimedischen Punkt, um ihre Welt, die für sie aus den Fugen zu geraten scheint, im Sinne dieser Solidargemeinschaft aus den Angeln zu heben.

Dazu werden ebenso diffuse Werte beschworen, auf die sie sich in weihevollen, quasireligiös gestimmten Demonstrationen gemeinsam einstimmen. Werte, die sich nicht ansatzweise rational begründen lassen. Was aber auch überhaupt nicht nötig ist. Hauptsache, sie schaffen eine tiefe, innere Verbundenheit. Eine intuitive Übereinkunft der Verängstigten.

Da lässt sich jede noch so absurde Ansicht glaubwürdig vertreten. Denn sie ist ja, siehe oben, die ‚eigene Wahrheit’. Ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt. Das allein reicht. Auch denen, die diffuse Ängste, Vorstellungen und Werte zu ihren Zwecken instrumentalisieren wollen. Denn je diffuser, desto besser. Weil ungenauer. Unklarer. Und Unklarheit ist ein herrlicher Tummelplatz für alle möglichen Interpretationen, die dann die neuen Heilsbringer einer erwachenden nationalkonservativen Bewegung, je nach Gusto oder situativer Erfordernis, flugs aus dem Hut zaubern können. 

Klarheit hingegen hieße Aufklärung. Und Aufklärung motiviert zum Zweifel. Zweifel ist aber per se machtzersetzend. Autoritätszermürbend. Dysfunktional. Sand im Getriebe. Denn er hat die Kraft, Prämissen in Frage zu stellen, die doch das feste Fundament für eine neue Ordnung sein sollen.

Somit wirkt Klarheit, zumindest für die Vertreter unserer neuen deutschen Schicksals-, Volks- und Wertegemeinschaft, potentiell destabilisierend, wohingegen irrationale, diffuse Ängste das fragile System stabilisieren. Verständlich, dass ihre größte Angst die ist, dass ihnen ihre diffusen Ängste genommen werden. Sie sind der Strohhalm, an dem sie sich klammern können: ihr verbindendes, identitätsstiftendes Element.

Damit einher geht ein befriedigendes Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung in orientierungsloser Zeit. Es immunisiert zuverlässig gegen alle rationalen Argumente: Auch wenn die Bedrohung, wie die muslimische Überfremdung in Sachsen, Polen oder Ungarn, objektiv irreal ist, wird sie doch von ihnen subjektiv als unmittelbare, reale Bedrohung empfunden. Und damit ist sie eine Bedrohung.

Die Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität. Dieses Phänomen haben die amerikanischen Soziologen Dorothy Thomas und William Thomas bereits 1928 beschrieben – sinniger Weise am Beispiel paranoiden Verhaltens: „Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“

Geradezu idealtypisch funktioniert dieser Mechanismus, wie der amerikanische Soziologe Robert Merton zeigte, bei sozialen Vorurteilen: Angenommen, ich behaupte, muslimische Flüchtlinge sind eine Bedrohung für den sozialen Frieden und die Lebensqualität.

Ganz egal, ob diese Behauptung nun objektiv begründet ist oder nicht – sie mündet unweigerlich in der Forderung, muslimische Flüchtlinge vor Ort auszuschließen, sie auszugrenzen, ihnen jegliche Integrationsmöglichkeit zu verwehren.

Die Folge sind fast zwangsläufig verstärkte soziale Konflikte, auch innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge. Im Extremfall werden diese zu genau dem, was prognostiziert wurde: zu einer Bedrohung für den sozialen Frieden und der Lebensqualität. Resultat ist die Prophezeiung, die sich selbst erfüllt.

Durch die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft, die diese irreale Bedrohung als ebenso als real empfindet, fühlt man sich solidarisch eingebettet. Und was alle Mitglieder dieser Wertegemeinschaft, der ja die alleinige Deutungshoheit zukommt, empfinden, wird als die Wahrheit wahrgenommen.

Das enthebt den Einzelnen vollständig von der Notwendigkeit zur Rechtfertigung seiner objektiv kruden Ansichten. Und vermittelt ihm die subjektive Gewissheit, nicht nur im Recht zu sein. Sondern auch in allen Punkten recht zu haben. Keine Spur mehr von irgendwelchen störenden kognitiven Dissonanzen. Endlich wieder heile Welt.

Eben deshalb ist jeder Diskurs mit exponierten Vertretern der NPD, der Pegida-Bewegung, ja sogar mit großen Teilen der AfD nicht nur schwierig, sondern notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Ein solcher Diskurs würde die prinzipielle Bereitschaft voraussetzen, den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen und ihn gegebenenfalls zu revidieren. Aber genau das ist es ja, was a priori ausgeschlossen ist. Denn es hieße, die alleinige Deutungshoheit aufzugeben, die ‚eigene Wahrheit’ nicht mehr als alleinige Wahrheit zu definieren.

Damit würde das Risiko eingegangen werden, dass das mühsam geschmiedete Band der neuen Volks- und  Wertegemeinschaft zerreißt. Eben das gilt es ja zu verhindern. Unter allen Umständen. Gegen alle Widerstände. Vielleicht sogar mit allen Mitteln. Wer weiß.



Montag, 4. April 2016


Warum der Markt keine Gesetze hat


Marktgesetz. Das klingt so beruhigend. Denn was sich rational in einem Gesetz fassen lässt, verliert mit einem Mal seinen irrationalen Schrecken: Kennt man erst mal das Gesetz, wird jede ökonomische Bedrohung zu nüchternen Werten einer abstrakten Formel verharmlost.

Ein Marktgesetz kleidet sich besonders gerne als mathematisches Gesetz. Und suggeriert, dass das menschliche Handeln in seinen Abläufen beschreibbar, wiederholbar und damit auch vorhersehbar ist. Wie eine a priori bestehende, ewig und unwiderruflich gültige Regel, nach der Markt und Mensch funktioniert und die nur darauf wartet, von einem überragenden menschlichen Geist formuliert zu werden. Im Zweifelsfalle von einem Spieltheoretiker, dem Physiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern.

Dumm nur, dass sich diese notorisch aufsässigen Spielfiguren einfach nicht einem solch ehernen Gesetz unterwerfen wollen. Sie können doch partout nicht von ihrer kindischen Neigung zu spontanem, emotionalem und unlogischem Verhalten lassen. Spieltheoretiker empfinden das schon fast als gotteslästerliche Zumutung, wenn diese störrischen Esel sich einfach nicht so verhalten wollen, wie die mit unendlicher Mühsal eruierten Gesetze es ihnen vorschreiben.

Sie würden dem am liebsten ein für alle Mal einen Riegel vorschieben. Es kann schließlich nicht sein, was nicht sein darf. Frank Schirrmacher hat auf die Gefahrenlage dieser vorherrschenden Denkstruktur der Ökonomen in seinem äußerst anregenden Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ eindrücklich aufmerksam gemacht.

Bei mathematischen und physikalischen Gesetzen erübrigt sich die Frage nach Verantwortlichkeiten. Gesetze dieser Art kennen keine Verantwortung, sie laufen mit zwingender Notwendigkeit so und nicht anders ab. Die Beteiligten können in diesem Gedankenkonstrukt gar nicht anders, als sich naturgesetzlich zu verhalten.

Wenn a, dann b. Es ist die profanierte Form der Schicksalsergebenheit. Alles ist
vor-bestimmt, alle Abläufe sind fatalistisch festgelegt. Der freie Wille hat hier abgedankt, der individuelle, selbstbestimmte Handlungsspielraum ist gleich null.

So sieht’s dann aus: Keiner ist verantwortlich, niemanden trifft eine Schuld. Also muss sich auch niemand einer Schuld bewusst sein. Alle können sich wunderbar plausibel hinter solchen Gesetzen verstecken. Können sich die Hände reiben und sie in Unschuld waschen. Und sich glaubhaft entrüstet zeigen, sollte jemand doch einmal mit Fingern auf sie zeigen: Das ist doch nicht meine Schuld!

Schließlich will sich die Wirtschaftswissenschaft als mathematisch-physikalische Paradedisziplin etablieren, fernab von den unvorhersehbaren Widrigkeiten des schnöden Lebens. So deckt sie ihr Mäntelchen des Schweigens über Max Weber, der in seinem fundamentalen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ schrieb:

„Idealtypische Konstruktionen sind z.B. die von der reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre aufgestellten Begriffe und ‚Gesetze’. Sie stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre. Das reale Handel verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungsweise so, wie im Idealtypus konstruiert.“

Eine solch idealtypische Betrachtung hat allein einen „methodischen Zweckmäßigkeitsgrund“. Diese Art der Betrachtung darf, und das betont Weber ausdrücklich, „nur als methodisches Mittel verstanden und also nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden“.

Wer also bei diesen zweckrationalen, idealtypischen „Begriffen und ‚Gesetzen’ “ ihren rein auf methodische Zweckmäßigkeit beschränkten Gebrauch außer Acht lässt und uns dabei auch noch glauben machen möchte, als würden diese eben jene Realität abbilden, die wir der einfacheren Verständigung halber gemeinhin ‚Markt’ nennen, verkennt entweder gänzlich die Natur der Sache.

Oder aber er tut das bewusst, intentional und damit zielgerichtet. Was notgedrungen die Frage nach Absicht und Ziel aufwirft.