Montag, 21. November 2016


Die produktive Kraft der Kultur


In Düsseldorf kämpft gerade ein Ballettchef um sein Ballett. Ein Theaterintendant um sein Theater. Das Opernhaus um die Oper. Und die Museumsleiter um den Bestand der städtischen Museumslandschaft. Völlig legitim – und doch befremdlich. Denn man wird das Gefühl nicht los, dass hier ein jeder angesichts klammer öffentlicher Kassen wie das Karnickel auf die Schlange starrt und versucht, seinen eigenen Beritt gegen finanzielle Begehrlichkeiten seitens der Stadt zu schützen. Dabei, so scheint es, realisieren die Verantwortlichen nicht recht, dass es gar nicht so sehr um ihre Partikularinteressen, sondern um das Kulturschaffen als solches geht: um dessen gesellschaftliche Legitimierung.

Die Oper Köln hat 500 Millionen Euro verschlungen, die Elbphilharmonie wohl rund 800 Millionen, die Museumsinsel Berlin wird mit 600 Millionen veranschlagt. Und die Instandsetzung des Schauspielhauses in Düsseldorf wird ganz sicher nicht unter 50 Millionen Euro zu bewerkstelligen sein. Dass es durchaus nicht nur Kulturbauten sind, bei denen hierzulande die Kosten explodieren – Stichwort: BER und Stuttgart 21 – weiß zwar jeder, macht eine schlagkräftige Argumentation für die finanzielle Unterstützung des Kulturschaffens, von der Hochkultur bis hin zur freien Szene, angesichts leerer Kassen, die eine Verschiebung der Sanierung maroder Schulen und verwahrloster öffentlicher Plätze oder die zügige Bereitstellung fehlender Kita-Plätze auf den Sankt Nimmerleinstag vorsieht, nicht unbedingt leichter.

Wie erkläre ich’s meinem Bürger?

Es ist kulturpolitische Realität, dass den Bürgern, die ja zu allem Überfluss auch noch Wähler sind, derart eklatante Missverhältnisse nicht recht zu erklären sind. Was nutzen ihnen so wunderschöne wie hochsubventionierte Opernhäuser, in die sich jedoch nur ein gut situiertes, elitäres Grüppchen verirrt, wenn ihre Kinder gleichzeitig Schultoiletten aufsuchen müssen, die jeder Beschreibung spotten? Auch wenn man solche Vergleiche vielleicht als unpassend empfindet, weil, wie Gerhart Baum, der Vorsitzende des Kulturrats NRW nicht müde wird zu betonen, gerade die Hochkultur „unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft“ sei, muss man sich ihnen stellen. Denn Kunst und Kultur führen nun mal kein monadisches Eigenleben, sie stehen mitten im Leben. Und das ist nicht unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und ökonomischen Zwängen des kommunalpolitischen Alltags, von der berechtigten Erwartungshaltung der Bürger und paritätischen Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu betrachten.

Man muss sich dem Rechtfertigungsdruck schon deshalb stellen, weil sich gerade dem Teil der Bürger, der niemals einen Schritt ins Museum, in die Oper oder das Theater macht, die Frage nach dem Nutzwert kultureller Einrichtungen, ja letztlich von Kunst und Kultur generell stellt: Was habe ich davon?

Damit befindet sich dieser nicht unbeträchtliche Teil der Bürger ganz auf einer Linie mit der der alles beherrschenden Denk- und Verhaltensstruktur unserer Zeit: der
Logik der Ökonomisierung. Sie hat das gesamte Kulturschaffen bereits überformt. Nicht nur in Düsseldorf. Sondern weltweit. Es sind nicht nur die Museen, Theater, Balletts, Orchester und Opernhäuser, die dem Diktat merkantiler, kommerzieller Aspekte gehorchen und deshalb auch, völlig konsequent, nicht von Kulturschaffenden, sondern, wie jüngst erst das Schloss Morsbroich in Leverkusen, von Wirtschaftsprüfern und Unternehmensberatern auf ihre Bestandsfähigkeit hin geprüft werden: Hier bestimmt die Logik der Ökonomisierung bereits die Spielregeln. Und auch die Hochkultur muss ihr Spiel spielen, um sich zu legitimieren. Ein Spiel, das sie nicht gewinnen kann.

Das Diktat der Ökonomie

Die Bundesregierung unterhält ein „Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft“, das auf wissenschaftlichen Konferenzen ganz humorlos die künstlerischen, kulturellen und kreativen Aktivitäten auf ihre „Innovationsfähigkeit“ hin abklopft, die ökonomische Relevanz der „Kulturindustrie“ erörtert und über messbare Ergebnisse und verwertbare Produkte debattiert, die das Bruttosozialprodukt einer Gesellschaft steigern können. 

Bei G8, der verkürzten gymnasialen Laufzeit in Deutschland, waren für die Einführung keine pädagogischen, sondern einzig volkswirtschaftliche Gründe ausschlaggebend. Unter dem Akronym MINT wird die konsequente Ausrichtung von Studien- und Unterrichtsfächern unter das Primat der mathematisch-naturwissenschaftlichen Perspektive vorangetrieben. Die ganze Aufmerksamkeit gilt dabei dem zentralen wirtschaftlichen Innovationssektor, der angewandten Forschung und exakten Wissenschaft, der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik – es ist das Diktat der Funktionalität, das das Zeitalter der digitalen Transformation beherrscht.

USA und Großbritannien propagieren, dass die Geisteswissenschaften in Zukunft praktisches Wissen statt freies Denken vermitteln sollen. In Japan will die Regierung bald ganz ohne Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Linguistik auskommen: Erhalten bleibt einzig, wer praktische, also ökonomische Relevanz nachweisen kann.

Solches Effizienzdenken führt zur Marginalisierung von Kultur, Ideen und Werten. Hinter allem, so Kai Spiekermann, Philosophieprofessor an der britischen London School of Economics (LSE),stehe das neue Ideal der Messbarkeit“. Es geht um das Prinzip der Verwertbarkeit. Des unmittelbaren Nutzens. Der Zweckgebundenheit. Entscheidend ist die „employability, die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt“.

Überall lauert die volkswirtschaftliche Argumentation. Darauf ausgerichtet degeneriert Bildung, dient sie doch nur noch als Mittel zum wirtschaftlichen Zweck. Und wird so zum Büttel der Funktionalität. Dabei wäre gerade jetzt eine gesellschaftliche Gegenbewegung vonnöten, die sich explizit vom Primat der Ökonomie distanziert. Und den Wert der Kultur, der Kunst, der Reflexion und „geistigen Herausforderung“ (Baum) auf Augenhöhe sieht.

Partizipation: Kultur muss öffentlich sein

Es muss dieses stabilisierende Gegengewicht in der Gesellschaft geben, das nicht funktional getrieben und zweckorientiert ist. Sondern nonkonformistisch. Subversiv. Diskursiv. Reflexiv. Nicht rational. Un-vernünftig. Gestalt gewordenes Plädoyer für das Recht auf Nutzlosigkeit, Dysfunktionalität, Fehler, Missverständnis und all die anderen Quellen der Inspiration und Innovation.

Aber selbst wenn man, wie der Autor dieser Zeilen, zutiefst von der konstituierenden Kraft eines breiten, aktiven, lebendigen und vielfältigen Kulturschaffens für eine intakte Gesellschaft überzeugt ist: Der deutsche Durchschnittsbürger ist nun einmal, durchaus nachvollziehbar, vorrangig an der staatlichen Grundversorgung interessiert. Wie schafft man es da, erstens ihm gegenüber die gleichrangige finanzielle Förderung von Kunst und Kultur plausibel und nachhaltig zu legitimieren und zweitens nicht das am Nutzwert orientierte Spiel von Funktionalität und Ökonomie zu spielen?

Wenn Gerhart Baum nun ganz im Sinne des gebildeten Kulturbürgers argumentiert, „Kultur ist nichts für große Mehrheiten“ oder Patrick S. Föhl, der Moderator des Düsseldorfer Kulturentwicklungsplans, konstatiert, „Museumsbesucher sind Kultur-Flaneure“, so ist das als Feststellung des Ist-Zustands durchaus richtig. Falsch wäre es aber, es dabei zu belassen:
Vielleicht ist die einzige Chance, das Problem zu lösen, die, die Kultur aus eben dem Winkel zu holen, der vom Bürger als elitär empfunden wird. Und sie ihm ganz zu öffnen. So wie es ansatzweise bereits das Museum Folkwang getan hat.
Denn was ist an einem öffentlichen Kulturinstitut öffentlich, wenn es nicht öffentlich, also für die Öffentlichkeit, und damit für alle zugänglich ist, sondern nur für die, die zahlen resp. zahlen können?

Kultur kann seine gesellschaftliche Funktion, seine zivilisatorische Aufgabe, den Menschen Werte abseits rein ökonomisch getriebener Werte zu vermitteln, nur dann erfüllen, wenn diese die Möglichkeit haben, die Kultur auch als ihre Kultur zu begreifen. Das setzt aber voraus, dass sie sie nicht als elitär erleben, sondern tätig daran teilhaben können. Oper, Orchester, Ballett, Theater und Kunstmuseen et al. hätten so eine reelle Chance, in breitesten Schichten der Bevölkerung Akzeptanz zu finden. Genau dann könnte Kultur ihre produktive Kraft entfalten.

Werte versus Wert

Gerade die westliche Welt scheint jedoch heute keine Werte mehr außer dem Nutz-Wert zu kennen. Es ist ein Zeitalter von nietzscheanischem Format: Wertvoll ist allein, was ökonomisch wertvoll ist. Es regiert der Kommerz, die nüchterne Rationalität, der kalte Pragmatismus. Und als wäre das noch nicht genug, erleben wir gerade die Potenzierung der allumfassenden Ökonomisierung durch Gottes Substitute auf Erden, die Hohepriester der neofuturistischen Bewegung, sektengleiche Vorreiter des digitalen Zeitalters im Silicon Valley, die flache Hierarchien predigen, aber streng hierarchisch organisiert sind. Die ihre Jünger vereinnahmen. Aufsaugen. Den ganzen Menschen fordern, ihn seiner Privatheit berauben. Und seine Denk- und Verhaltensstrukturen determinieren.

Algorithmisch. Absolut. Ausweglos. Die binäre Welt akzeptiert nur ihre eigene Logik. Andere Systeme finden in ihr keine Verwendung und Akzeptanz. Sie schafft jedoch nur einen Wert, keine Werte. Doch genau danach sehnen sich die Menschen. So entsteht ein gefährliches Vakuum, das nach Erfüllung schreit – die Demagogen dieser Welt stehen bereits Spalier und reiben sich frohlockend die Hände.

Extremisten aller Schattierungen machen mobil. White Aryan Resistance, Kreationisten, Identitäre, Reichsbürger, IS, Wahhabiten, Salafisten – andere Länder, andere Lager, andere Bedingungen. Aber eines ist allen gemeinsam: Menschen, die eine neue Ordnung suchen. Aber es nicht selbst tun, denn das ist zu mühevoll, unbequem, zeitraubend. Nein, sie suchen nach dem, der ihnen diese Ordnung vermittelt. Der genau die Stärke suggeriert, die sie verloren haben. Um sich mit ihm zu identifizieren, um so eine neue, kraftstrotzende Identität zu gewinnen: seine. Sie suchen Orientierung. Und finden sie in den Demagogen, die ihnen den Weg weisen. Werte definieren. Stabile, klare, einfach strukturierte Wertesysteme. Um dann im wohligen Schoß einer Masse, eines „Wir“ aufzugehen.

Kultur ist konstitutiv für die Gesellschaft

An diesem Punkt zeigt sich, welche überragende Bedeutung Kultur für eine Gesellschaft haben kann: Sie ist in der Tat „unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“, wie es Gerhart Baum ausdrückte. Weil sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, dieses gefährliche Vakuum zu füllen, das die Ausschließlichkeit, mit der die Logik der Ökonomisierung auftritt, letztlich mit erzeugt hat. Aber, wie gesagt, die Voraussetzung dafür, dass Kultur dieser Aufgabe auch nur ansatzweise gerecht werden kann, ist, dass alle die Chance haben, an ihr teilzuhaben. Nicht nur eine bildungsbürgerliche Minderheit.

Wenn nun Kultur als Werte vermittelndes Gegengewicht zu einer durchweg ökonomisierten Welt unter die Kuratel einer ökonomisch definierten Rechtfertigung gestellt würde, wäre das nachgerade absurd. Kunst und Kultur muss nach ihren eigenen Spielregeln spielen dürfen, nicht nur nach denen der Ökonomie. So wie diese ja auch nicht nach den Spielregeln der Kunst und Kultur spielen mag.

Natürlich kostet das. Aber so, wie wir in der Zukunft 4.0, im Zeitalter der digitalen Transformation und der damit einhergehenden endgültigen Einsparung von Arbeitsplätzen, die auf einen als Arbeitskraft oftmals überflüssigen Menschen hinauslaufen, nicht umhin kommen werden, über eine Wertschöpfungsabgabe und einen radikalen Umbau der strukturell noch aus dem 20., ja zu Teilen noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Steuer-, Renten- und Sozialsysteme zu sprechen, so werden wir auch im Kulturbereich über radikal andere Modelle der Förderung und Finanzierung diskutieren müssen. Über solche, die sich nicht am Primat der Logik der Ökonomisierung orientieren. Sondern am Bürger.

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