Die Mühsal der
Eigenverantwortung
Im August 1975 kam es in Erfurt zu gewalttätigen
Übergriffen auf algerische Vertragsarbeiter. Ein fremdenfeindlicher Vorfall,
der von der Führung der DDR ebenso unter den Tisch gekehrt wurde wie der Mord
an zwei Kubanern in Merseburg 1979 und all die anderen Taten, die sich dort in den
70er und 80er Jahren ereigneten. Es konnte ja nicht sein, was nicht sein
durfte. Schließlich baute man in internationaler Solidarität gemeinsam am
großen proletarischen Projekt „Sozialismus“. Und da hatte man längst jene
völkisch-atavistischen Denk- und Verhaltensstrukturen überwunden, die dem
kapitalistischen Bruder im Westen noch zu eigen waren.
Denkste. Wo keine selbstkritische Aufarbeitung
stattfindet, kann auch nichts überwunden werden. Das Gegenteil war der Fall: Diese
Denk- und Verhaltensstrukturen überlebten und manifestierten sich in weiten
Teilen der Bevölkerung unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Dort schlummerten sie so
lange, bis sie sich bei nächster Gelegenheit Bahn brachen. So 1991, kurz nach
der Wende, „als Rechtsextreme in
Hoyerswerda Brandsätze auf Migranten schleuderten“ und „Hunderte ihnen zujubelten“, wie David Krenz
im „Spiegel“ berichtet.
„Deutschland
den Deutschen! Kanakenviehzeug!“ Die damaligen Rufe klingen nicht viel
anders als heute, 25 Jahre später. Doch war und ist der blinde Hass, diese Angst
vor „Überfremdung“ und „schrankenloser Überschwemmung durch
Migranten“ angesichts nur weniger Ausländer in den neuen Bundesländern schon
rein rechnerisch völliger Mumpitz. Eine Tatsache, die vermuten lässt, dass eine
solch identitäre Grundstimmung, der Wille nach Bewahrung einer ethnisch reinen und
kulturell homogenen Gemeinschaft, von der Faktenlage völlig losgelöst ist. Damals
wie heute.
Neben dieser irrationalen Angst vor
Überfremdung hat sich verstärkt eine persönlich empfundene Bedrohung jedes Einzelnen ausgebildet,
eine Angst um das gewohnte Umfeld, um die
Bewahrung der Lebensqualität und der vertrauten Werte.
Dies gibt der Kontinuität der völkischen
Haltung eine befremdlich seriöse Erdung, eine vermeintliche Rechtfertigung für die
Rückbesinnung auf den Zusammenhalt der deutschen
Gemeinschaft, auf die Berufung auf eine Identität. Die aber natürlich exklusiv
vertreten wird: „Wir sind das Volk!“
Da geht es um Zugehörigkeit, Geschlossenheit, Einheit. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung Andersdenkender sowie fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt sie hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto kategorische Ablehnung aller widerstrebenden Meinungen und schiere Fremdenfeindlichkeit ist.
Da geht es um Zugehörigkeit, Geschlossenheit, Einheit. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung Andersdenkender sowie fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt sie hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto kategorische Ablehnung aller widerstrebenden Meinungen und schiere Fremdenfeindlichkeit ist.
Der Schritt von der Feindlichkeit allem
Fremden gegenüber, der Ablehnung alles Undeutschen
zur Wahrung der eigenen, Frau Petry nennt es heute ganz unverblümt und völlig
ungeachtet der historischen Konnotation: völkischen
Identität, hin zum unbedingten, heroisierenden Glauben an die eigene ethnische
und kulturelle Überlegenheit ist klein.
Die unterschwellige Kontinuität der Ansichten vom
Dritten Reich bis heute ist erschreckend. Insbesondere in den neuen
Bundesländern, aber durchaus auch in den alten. Da wird Arnold Gehlen wieder
rezipiert, als wäre nie was gewesen. Carl Schmitt ebenso. Oder auch Oswald
Spengler. Peter Sloterdijk bemerkt in seiner rhetorischen Selbstverliebtheit
gar nicht, wohin es ihn treibt. Sein Famulus Marc Jongen ist da schon ehrlicher
und als Haus- und Hofvordenker längst auch offiziell bei der AfD angekommen. Und
Armin Mohler, „Schlüsselfigur bei der
Reorganisation der äußersten Rechten in der Bundesrepublik“, so Volker Weiß
in der „ZEIT“, feiert fröhlich völkische Urständ in der Pegida-Bewegung.
Was geht hier vor?
Man gewinnt zunehmend den
Eindruck, dass es sich bei der vielzitierten 'Besorgnis' der Bürger um ein Phänomen handelt, das
deutlich komplexer ist als es scheint. Und weit weniger auf einer
politischen denn eher auf einer psychologischen Ebene angesiedelt ist:
Die ökonomischen Eckdaten
Deutschlands belegen, dass die Lage, im internationalen Vergleich, de facto ausgezeichnet
ist. Unsere politische Stabilität sucht weltweit ihresgleichen. Die Diskussion
um die Obergrenze der Flüchtlinge nimmt absurde Züge an, da die aktuellen monatlichen
Zahlen zeigen, dass wir, umgerechnet aufs Jahr, nicht annähernd besagte
Obergrenze erreichen werden. Die Angst um die Werte des christlichen Abendlands
ist ausgerechnet dort am größten, wo aufgrund einer staatlich verordneten
Säkularisierung seit 1945 das Christentum aus dem öffentlichen wie auch
privaten Leben fast gänzlich verschwunden ist. Und der Teufel in Gestalt des muslimischen
Flüchtlings wird vor allem da an die Wand gemalt, wo kaum je ein Flüchtling
gesichtet wurde.
Hier wird also subjektiv zunehmend
etwas als Bedrohung empfunden, was einer objektiven Entsprechung entbehrt. Und
das scheint das eigentliche Problem und damit die größte Gefahr zu sein: Es
gibt die Bedrohung nicht als Faktum, nur als Fiktion. Weil diese Fiktion aber als
wahr wahrgenommen wird, ist sie für den ‚besorgten
Bürger’ auch wahr. Und damit für ihn Faktum.
Wie aber ein Problem lösen, das,
zumindest in dieser dramatisch überzeichneten Form, nicht rational zu begründen
ist, sondern nur subjektiv empfunden wird? Die Hunderttausenden von Emigranten
aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die nach dem Zusammenbruch des Warschauer
Paktes nach Westeuropa und da insbesondere nach Deutschland strömten, haben
unseren Staatshaushalt deutlich stärker belastet als der "Migrationstsunami", der heute heraufbeschworen
wird. Von den Sozialleistungen für Spätaussiedler, von Eingliederungshilfe
über Rentenanspruch bis zur einmaligen Entschädigung, und dem Anspruch auf einen
deutschen Pass ganz zu schweigen.
Ja,
in Deutschland liegt vieles im Argen, wie Harald Welzer in einem Beitrag für
den „Spiegel“ noch einmal ausdrücklich betont, so „skandalöse Bildungsungerechtigkeit, Kinderarmut, ausufernder
Lobbyismus, um das Gemeinwohl unbesorgte Teil des Top-Managements,
Vertrauensverluste gegenüber den Parteien, sinkendes Systemvertrauen,
Überwachung“ und anderes mehr. Alles Dinge, die aber rein gar nichts mit
der Flüchtlingsproblematik zu tun haben.
Hieraus speist sich jedoch insbesondere
in den westlichen Bundesländern ein allgemeines Unbehagen, das schon lange
unter der Oberfläche gärt – bereits 1992 erklärte die
Gesellschaft für deutsche Sprache „Politikverdrossenheit“
zum ‚Wort des Jahres’. Da ein solches Unbehagen immer
den Weg des geringsten Widerstandes geht, setzt es auf altbekannte Schemata auf
und sucht sich ein naheliegendes Ventil: Einen wehrlosen Gegner, der das ideale
Opfer darstellt. Und eine Identität, die verbindet. Klare Verhältnisse, einfache
binäre Zustände: Wir/ihr. Freund/Feind. Schwarz/Weiß. Geschlossene
Gesellschaft, Zutritt verboten!
Es handelt sich dabei jedoch um
ein Phänomen, das weit über die beiden Teile Deutschlands
und ihre jeweiligen historischen Spezifika hinausweist. Es ist eines, das strukturell das
Trumpsche Amerika ebenso betrifft wie das Orbansche Ungarn, das Wildersche Holland,
die Erdogansche Türkei, aber auch den islamischen Extremismus im Westeuropa
dieser Tage.
Hinter diesem vagen, kaum klar zu
artikulierenden Unbehagen, das weltweit in unzähligen nationalen Ausprägungen
erscheint und jeweils seine zum Teil abscheulichen Ventile sucht, scheint ein manifestes,
grundlegendes Problem unserer Zeit zu stecken.
Der einflussreiche Soziologe Norbert
Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem
Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren
Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur
Selbstverantwortung verpflichtet. Doch die ist mühsam, muss sie doch täglich in
Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer zunehmend globalisierten, im
Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die
liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben
wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.
Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern.
Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern.
Nun sind aber, so Elias, „die
‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den
Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen
zwischen den Menschen selbst.“
Dies,
so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu
anstrengend. Da ist
es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss
eines wie auch immer gearteten "Wir"
zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung
zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr
sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht
meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen
Ganzen zu sein, in dem es vorgestanzte, für alle verbindliche Werte gibt – im
Zweifelsfalle vorgesetzt von einer totalitären Autorität, die mir, gleichsam im
zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’
kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir
absolut und ewig bestehend erscheinen.
Jedes Denken ist aber, wie der
Soziologe Karl Mannheim betonte, notwendig perspektivisch. Und jede Weltsicht
damit relativistisch, weil sie sich, je nachdem, welche Position man in einer
Gesellschaft einnimmt, ändert. Wird eine dieser Sichtweisen jedoch verabsolutiert,
so wird sie ideologisch. Und aggressiv gegen Widerstände, Andersdenkende,
Fremde verteidigt. Wenn nötig, bis aufs Blut: Die Fahne hoch, die Reihen fest
geschlossen. Das gilt für alle Reihen. Seien es nun islamistische, osmanische, völkische
oder ganz allgemein nationalistische.
Dann ist kein Dialog mehr möglich. Denn
der setzt voraus, dass man prinzipiell bereit sein muss, seinen Standpunkt im
Dialog zu revidieren. „Wo Gewalt
herbeigeredet, befürwortet, angewendet wird, da hilft nur die Durchsetzung des
Rechts, kein Argument“, so Harald Welzer.
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