Mittwoch, 26. Oktober 2016


Einfach sparen


Die Angst vor der Altersarmut geht um. Angesichts der Niedrigzinspolitik des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, bangen Sparer zunehmend um ihr mühsam Erspartes. Da predigen ihnen Sozialpolitiker zwar tagein, tagaus die Notwendigkeit einer substantiellen privaten Altersvorsorge, aber effiziente Lösungen zur Kompensation ihrer gesetzlichen Rente haben auch sie nicht im Angebot. Riester-Rente, Lebensversicherungen oder andere Altersvorsorgeprodukte – alles, was bislang empfohlen wurde, wirft immer weniger ab.

Keine Anlage, die halbwegs risikolos ist, bringt noch nennenswerte Erträge. Die Banken selbst müssen seit geraumer Zeit für das Geld, das sie bei der EZB hinterlegen, Strafzinsen zahlen. Erste Kreditinstitute geben diese bereits weiter. So die Commerzbank, die die Strafzinsen, die sie Unternehmenskunden berechnet, ganz putzig „Guthabengebühren“ nennt.

Ist das Procedere in der Schweiz bei höheren Einlagen sogar schon bei Privatkunden Usus, belassen es deutsche Kreditinstitute im Privatkundengeschäft noch bei schnöden Gebührenerhöhungen. So wollen sie die Sparer vom Sparen abhalten, um selber weitere Strafzinsen zu vermeiden, wenn sie das von ihnen Ersparte bei der EZB parken. Sollte aber, wie prognostiziert, die Niedrigzinsphase noch einige Jahre andauern, so ist der Tag nicht mehr fern, an dem dieser Trick in die Gebührenkiste nicht mehr funktionieren wird und die Kreditinstitute die Strafzinsen an die Privatkunden durchreichen werden. Und dies nicht nur für höhere Einlagen, sondern ganz generell.

Geringverdiener, Teilzeitbeschäftigte, Selbständige, alleinerziehende Mütter: Ihnen allen wird immer stärker bewusst, dass sie angesichts dieser prekären Situation im Alter kaum mehr über die Runden kommen werden. So wird in der Politik, aber auch der Finanzwirtschaft intensiv darüber diskutiert, wie denn die Zukunft des Sparens in Niedrigzinsphasen aussehen kann. Sei es, um die drohende Altersarmut ganzer Gesellschaftsschichten abzuwenden. Sei es, um weiterhin im Privatkundengeschäft Erträge zu erzielen.

Verschiedene alternative Modelle sind derzeit im Gespräch. Diese reichen von recht konventionellen Produkten wie das Fondssparen und die Bundesobligationen bis hin zu Termineinlagen. Es finden sich aber auch durchaus kreative Ansätze darunter wie zum Beispiel Oldtimer- oder Gerhard Richter-Fonds, die den Ankauf von potentiell wertsteigernden Meisterwerken als lukratives Geschäftsmodell vorsehen.

Nun hat eine deutsche Investmentgesellschaft im Rahmen einer partizipativen Qualitätsentwicklung eine Form der Altersvorsorge konzipiert, die völlig risikolos ist und durch ihre verblüffende Einfachheit selbst alte Branchenhasen begeistert. Sie ermöglicht es auch Kleinanlegern, ihr Erspartes dauerhaft und in jeder beliebigen Höhe anzulegen, ohne zusätzliche Gebühren oder gar Strafzinsen befürchten zu müssen. Ja, sie erspart ihnen sogar den Gang zum Kreditinstitut, das sich dabei in gewisser Weise selber abschafft. Denn die Anleger benötigen in Zukunft zum Sparen nicht einmal mehr eine Kontoverbindung. Nur noch einen Strumpf.

Donnerstag, 20. Oktober 2016


Vorschlag zur endgültigen Endlagerung

Justament in diesen Tagen hat d
ie Bundesregierung die Weichen zur Entsorgung unserer atomaren Altlasten gestellt. In dem nun vorgelegten Gesetzespaket ist vorgesehen, dass die vier Stromkonzerne Vattenfall, Eon, RWE und EnBW bis zum Jahr 2022 insgesamt etwa 24 Milliarden Euro in einen staatlichen Fonds überweisen müssen. Von diesem Geld soll dann, so die Planung, die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls finanziert werden.  

Die Vereinbarung gleicht einem Ablasshandel: Zahlst du, kaufst du dich bis in alle Ewigkeit von deinen atomaren Sünden frei. Ein guter Deal für die Stromkonzerne: Die veranschlagten Kosten für die Zwischen- und Endlagerung beruhen auf uralten Kostenschätzungen für den Standort Gorleben aus den 90ern. Darin wird erstens von einer jährlichen Kostensteigerung von gerade mal 3% ausgegangen, zweitens von einer Inbetriebnahme im Jahr 2054, drittens von der Aufnahme aller Behälter mit radioaktivem Material bis 2098 und viertens von einer völlig gefahrlosen und somit weitgehend kostenneutralen Endlagerung bis zum Sanktnimmerleinstag.

Davon abgesehen, dass niemand nirgends auch nur die geringste Erfahrung mit einem solchen Endlager hat: Aus leidvoller Erfahrung weiß man, dass derartige Kostenschätzungen reine Kaffeesatzleserei sind und rein gar nichts mit der Realität zu tun haben. Deshalb wird es so kommen, wie es kommen muss – die Endlagerkosten werden explodieren, die einzuzahlenden 23,6 Milliarden Euro sind bestenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zahlen muss die Zeche am Ende der Steuerzahler.

Zumal
die Halbwertszeit von Jod-129 bei schlappen 15,7 Millionen Jahren liegt. Zeit genug also, dass im tektonisch instabilen Lager Gorleben irgendwann einmal etwas erst ordentlich in die Hose und dann so richtig ins Geld geht. Was bei den rund 15.000 Tonnen hochradioaktiven Mülls, die wir einer Berechnung von Greenpeace zufolge bis zum Atomausstieg in Deutschland im Jahr 2022 angehäuft haben werden, ein stolzes Sümmchen ergeben wird.

Das alles schreit geradezu nach einer ganz anderen, wahrhaft dauerhaften, externen Lösung, damit es nicht irgendwann Streit um etwaige Rückführungen von ausgelagertem Endgelagerten gibt. Und um es gleich vorwegzunehmen: Mir persönlich schwebt da etwas ganz Großes vor. Ein Jahrhundert-Deal mit den Russen. Ich sag nur: Baikonur.

Ein kleines Rechenexempel zeigt den Charme dieses Gedankens: Um 7,6 Tonnen zur ISS- Raumstation schleppen zu können, müssen die Russen drei Progress-Schiffe zum Gesamtpreis von 87 Millionen Euro starten. Damit ergeben sich Kosten von etwa 12,5 Millionen Euro pro Tonne. Das bedeutet, bezogen auf unseren Fall, bei
15.000 Tonnen mal 12,5 Millionen Euro eine Summe von derzeit 187,5 Milliarden Euro. Experten gehen aber davon aus, dass es, wenn Weltraumtransporter mit Staustrahltriebwerken zum Einsatz kommen, durchaus möglich ist, die Kosten auf etwa 1.000 Euro pro Kilogramm, also auf 1 Millionen Euro pro Tonne zu senken. Damit würden wir etwa bei 15 Milliarden Euro für 15.000 Tonnen Müll landen.

Was also im ersten Moment astronomisch erschien, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine durch und durch beherrschbare Größe. Auch angesichts der schwierigen finanziellen Lage, in der sich Russland zurzeit befindet. Da wird sich der Preis pro Tonne sicherlich noch mal deutlich drücken lassen. Von dem Mengenrabatt mal ganz abgesehen. Und der Aussicht auf eine langfristige, stabile und ausbaufähige Geschäftsbeziehung – man muss nur an die zehntausende von Tonnen strahlenden Mülls aus französischen, belgischen oder britischen Atommeilern denken, um das gewaltige ökonomische Potenzial ermessen zu können. 

Darüber hinaus würde es sich hier um die finale Lösung all unserer atomaren Sorgen handeln: Die Russen bauen eine ganze Batterie von Weltraumtransportern, mit denen sie im Akkord unseren gesamten radioaktiven Müll so günstig wie gefahrlos von der nahezu unbewohnten kasachischen Steppe aus zum Mond schießen können. 

Inklusive der verantwortlichen Politiker.

Dienstag, 18. Oktober 2016



An offer you can't refuse


Da bekomme ich, 56, doch gestern von meiner Krankenversicherung ein unschlagbares Angebot für eine Sterbegeldversicherung. Sterben ist ja an sich kein schönes Thema, aber wir müssen's alle mal. Also sollte man sich bei Gelegenheit auch mal damit beschäftigen. So wie ich gestern. Gesagt, getan. Ich erfahre also: Vertragsbeginn wäre der 01.12.2016, die monatlichen Raten halten sich im Rahmen. Die Vertragslaufzeit endet, und da werde ich stutzig, am 01.12.2046. Kurz vor meinem 87. Geburtstag. 

Aber danach, und das beruhigt mich dann doch wieder, genieße ich beitragsfreien Versicherungsschutz. Lebenslang.

Donnerstag, 13. Oktober 2016


Gedanken zur Stimmabgabe


Der Kehlkopf ist eine bemerkenswerte Konstruktion. Er sitzt direkt auf der Luftröhre, quasi an der Kreuzung von Atem- und Speiseweg. Seine vordringliche Aufgabe ist es, zu verhindern, dass Nahrung in die Luftröhre gelangt, weshalb er gleich über zwei Verschlussmechanismen verfügt: Über den sogenannten Kehldeckel, der sich, daher sein Name, wie ein Deckel auf die Öffnung der Luftröhre legt. Und über zwei Schleimhautfalten mit innenliegenden Muskeln, die sich so weit aufeinander zubewegen können, bis sie sich berühren. Ein zweiter Verschluss, quasi als Back-up.

Bei Babys liegt, wie bei allen Säugetieren, der Kehlkopf, und mit ihm die Luftröhre, relativ weit oben im Hals. Und damit höher als die Speiseröhre. Wie in einem Waschbecken mit zwei Ausgüssen, bei dem der eine Ausguss nach oben verlängert wurde. Füllt man nun Wasser ein, fließt es durch den tiefer gelegenen Ausguss, die Speiseröhre, ab, nicht aber durch den höher gelegenen Ausguss, die Luftröhre. So kommt es, dass Babys und Säugetiere gleichzeitig atmen und trinken können: Sie schlucken, ohne sich zu verschlucken.

Der Kehlkopf hat bei Säugetieren allerdings noch eine weitere Aufgabe: die Regulation der Atemluft. Diese Aufgabe erledigen die unteren Schleimhautfalten, die Stimmlippen, Ligamenta vocalia, umgangssprachlich ‚Stimmbänder’ genannt. Sie besitzen eine feine Muskulatur, Musculus vocalis, die durch Vibration Töne und Laute erzeugt.

Nun wandert aber der Kehlkopf, Larynx, im Hals des Menschen im Laufe seiner Entwicklung vom Baby zum Erwachsenen zunehmend weiter nach unten. So schafft er die
physiologische Voraussetzung für seine zutiefst menschliche Funktion – den Raum für die zielgerichtete Manipulation der Töne: Stimme. Artikulation. Sprache.

Diese im Tierreich einzigartige Fähigkeit hat jedoch ihren Preis: Weil der Mensch nun nicht mehr gleichzeitig
atmen und trinken kann, verschluckt er sich gewissermaßen an der Sprache. Ein Leid, das eigentlich niemandem zuzumuten ist. Insbesondere nicht der Fleisch gewordenen völkischen Hybris:

Gäbe sie ihre Stimme ab, wäre allen gedient.

Freitag, 7. Oktober 2016


Mensch Maschine!


Wir führen endlose Debatten über die gleiche Bezahlung der gleichen Arbeit von Mann und Frau. Völlig zu Recht, sicherlich. Aber das Leben ist längst schon ein Schritt weiter: 
Im Zuge der fortschreitenden digitalen Transformation der Arbeit müssen wir uns vielmehr darüber Gedanken machen, wie zukünftig da, wo Maschinen Menschen ersetzen, Maschinen wie Menschen Steuern zahlen, damit der Staat überhaupt noch die Einkünfte generieren kann, die er benötigt, um seinen Verpflichtungen gegenüber den Bürgern nachzukommen.

Dienstag, 4. Oktober 2016


Die Mühsal der Eigenverantwortung


 
Im August 1975 kam es in Erfurt zu gewalttätigen Übergriffen auf algerische Vertragsarbeiter. Ein fremdenfeindlicher Vorfall, der von der Führung der DDR ebenso unter den Tisch gekehrt wurde wie der Mord an zwei Kubanern in Merseburg 1979 und all die anderen Taten, die sich dort in den 70er und 80er Jahren ereigneten. Es konnte ja nicht sein, was nicht sein durfte. Schließlich baute man in internationaler Solidarität gemeinsam am großen proletarischen Projekt „Sozialismus“. Und da hatte man längst jene völkisch-atavistischen Denk- und Verhaltensstrukturen überwunden, die dem kapitalistischen Bruder im Westen noch zu eigen waren.

Denkste. Wo keine selbstkritische Aufarbeitung stattfindet, kann auch nichts überwunden werden. Das Gegenteil war der Fall: Diese Denk- und Verhaltensstrukturen überlebten und manifestierten sich in weiten Teilen der Bevölkerung unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Dort schlummerten sie so lange, bis sie sich bei nächster Gelegenheit Bahn brachen. So 1991, kurz nach der Wende, „als Rechtsextreme in Hoyerswerda Brandsätze auf Migranten schleuderten“ und „Hunderte ihnen zujubelten“, wie David Krenz im „Spiegel“ berichtet.

Deutschland den Deutschen! Kanakenviehzeug!“ Die damaligen Rufe klingen nicht viel anders als heute, 25 Jahre später. Doch war und ist der blinde Hass, diese Angst vor „Überfremdung“ und „schrankenloser Überschwemmung durch Migranten“ angesichts nur weniger Ausländer in den neuen Bundesländern schon rein rechnerisch völliger Mumpitz. Eine Tatsache, die vermuten lässt, dass eine solch identitäre Grundstimmung, der Wille nach Bewahrung einer ethnisch reinen und kulturell homogenen Gemeinschaft, von der Faktenlage völlig losgelöst ist. Damals wie heute.

Neben dieser irrationalen Angst vor Überfremdung hat sich verstärkt eine persönlich empfundene Bedrohung jedes Einzelnen ausgebildet, eine Angst um das gewohnte Umfeld, um die Bewahrung der Lebensqualität und der vertrauten Werte.

Dies gibt der Kontinuität der völkischen Haltung eine befremdlich seriöse Erdung, eine vermeintliche Rechtfertigung für die Rückbesinnung auf den Zusammenhalt der deutschen Gemeinschaft, auf die Berufung auf eine Identität. Die aber natürlich exklusiv vertreten wird: „Wir sind das Volk!“

Da geht es um Zugehörigkeit, Geschlossenheit, Einheit. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung Andersdenkender sowie fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt sie hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto kategorische Ablehnung aller widerstrebenden Meinungen und schiere Fremdenfeindlichkeit ist.

Der Schritt von der Feindlichkeit allem Fremden gegenüber, der Ablehnung alles Undeutschen zur Wahrung der eigenen, Frau Petry nennt es heute ganz unverblümt und völlig ungeachtet der historischen Konnotation: völkischen Identität, hin zum unbedingten, heroisierenden Glauben an die eigene ethnische und kulturelle Überlegenheit ist klein.

Die unterschwellige Kontinuität der Ansichten vom Dritten Reich bis heute ist erschreckend. Insbesondere in den neuen Bundesländern, aber durchaus auch in den alten. Da wird Arnold Gehlen wieder rezipiert, als wäre nie was gewesen. Carl Schmitt ebenso. Oder auch Oswald Spengler. Peter Sloterdijk bemerkt in seiner rhetorischen Selbstverliebtheit gar nicht, wohin es ihn treibt. Sein Famulus Marc Jongen ist da schon ehrlicher und als Haus- und Hofvordenker längst auch offiziell bei der AfD angekommen. Und Armin Mohler, „Schlüsselfigur bei der Reorganisation der äußersten Rechten in der Bundesrepublik“, so Volker Weiß in der „ZEIT“, feiert fröhlich völkische Urständ in der Pegida-Bewegung.

Was geht hier vor?

Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass es sich bei der vielzitierten 'Besorgnis' der Bürger um ein Phänomen handelt, das deutlich komplexer ist als es scheint. Und weit weniger auf einer politischen denn eher auf einer psychologischen Ebene angesiedelt ist:

Die ökonomischen Eckdaten Deutschlands belegen, dass die Lage, im internationalen Vergleich, de facto ausgezeichnet ist. Unsere politische Stabilität sucht weltweit ihresgleichen. Die Diskussion um die Obergrenze der Flüchtlinge nimmt absurde Züge an, da die aktuellen monatlichen Zahlen zeigen, dass wir, umgerechnet aufs Jahr, nicht annähernd besagte Obergrenze erreichen werden. Die Angst um die Werte des christlichen Abendlands ist ausgerechnet dort am größten, wo aufgrund einer staatlich verordneten Säkularisierung seit 1945 das Christentum aus dem öffentlichen wie auch privaten Leben fast gänzlich verschwunden ist. Und der Teufel in Gestalt des muslimischen Flüchtlings wird vor allem da an die Wand gemalt, wo kaum je ein Flüchtling gesichtet wurde.

Hier wird also subjektiv zunehmend etwas als Bedrohung empfunden, was einer objektiven Entsprechung entbehrt. Und das scheint das eigentliche Problem und damit die größte Gefahr zu sein: Es gibt die Bedrohung nicht als Faktum, nur als Fiktion. Weil diese Fiktion aber als wahr wahrgenommen wird, ist sie für den ‚besorgten Bürger’ auch wahr. Und damit für ihn Faktum.

Wie aber ein Problem lösen, das, zumindest in dieser dramatisch überzeichneten Form, nicht rational zu begründen ist, sondern nur subjektiv empfunden wird? Die Hunderttausenden von Emigranten aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes nach Westeuropa und da insbesondere nach Deutschland strömten, haben unseren Staatshaushalt deutlich stärker belastet als der "Migrationstsunami", der heute heraufbeschworen wird. Von den Sozialleistungen für Spätaussiedler, von Eingliederungshilfe über Rentenanspruch bis zur einmaligen Entschädigung, und dem Anspruch auf einen deutschen Pass ganz zu schweigen.

Ja, in Deutschland liegt vieles im Argen, wie Harald Welzer in einem Beitrag für den „Spiegel“ noch einmal ausdrücklich betont, so „skandalöse Bildungsungerechtigkeit, Kinderarmut, ausufernder Lobbyismus, um das Gemeinwohl unbesorgte Teil des Top-Managements, Vertrauensverluste gegenüber den Parteien, sinkendes Systemvertrauen, Überwachung“ und anderes mehr. Alles Dinge, die aber rein gar nichts mit der Flüchtlingsproblematik zu tun haben.

Hieraus speist sich jedoch insbesondere in den westlichen Bundesländern ein allgemeines Unbehagen, das schon lange unter der Oberfläche gärt – bereits 1992 erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache Politikverdrossenheitzum ‚Wort des Jahres’. Da ein solches Unbehagen immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, setzt es auf altbekannte Schemata auf und sucht sich ein naheliegendes Ventil: Einen wehrlosen Gegner, der das ideale Opfer darstellt. Und eine Identität, die verbindet. Klare Verhältnisse, einfache binäre Zustände: Wir/ihr. Freund/Feind. Schwarz/Weiß. Geschlossene Gesellschaft, Zutritt verboten!

Es handelt sich dabei jedoch um ein Phänomen, das weit über die beiden Teile Deutschlands und ihre jeweiligen historischen Spezifika hinausweist. Es ist eines, das strukturell das Trumpsche Amerika ebenso betrifft wie das Orbansche Ungarn, das Wildersche Holland, die Erdogansche Türkei, aber auch den islamischen Extremismus im Westeuropa dieser Tage. 

Hinter diesem vagen, kaum klar zu artikulierenden Unbehagen, das weltweit in unzähligen nationalen Ausprägungen erscheint und jeweils seine zum Teil abscheulichen Ventile sucht, scheint ein manifestes, grundlegendes Problem unserer Zeit zu stecken.

Der einflussreiche Soziologe Norbert Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet. Doch die ist mühsam, muss sie doch täglich in Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer zunehmend globalisierten, im Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.

Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern. 

Nun sind aber, so Elias, die ‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.

Dies, so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu anstrengend. Da ist es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss eines wie auch immer gearteten "Wir" zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, in dem es vorgestanzte, für alle verbindliche Werte gibt – im Zweifelsfalle vorgesetzt von einer totalitären Autorität, die mir, gleichsam im zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’ kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir absolut und ewig bestehend erscheinen.

Jedes Denken ist aber, wie der Soziologe Karl Mannheim betonte, notwendig perspektivisch. Und jede Weltsicht damit relativistisch, weil sie sich, je nachdem, welche Position man in einer Gesellschaft einnimmt, ändert. Wird eine dieser Sichtweisen jedoch verabsolutiert, so wird sie ideologisch. Und aggressiv gegen Widerstände, Andersdenkende, Fremde verteidigt. Wenn nötig, bis aufs Blut: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Das gilt für alle Reihen. Seien es nun islamistische, osmanische, völkische oder ganz allgemein nationalistische.

Dann ist kein Dialog mehr möglich. Denn der setzt voraus, dass man prinzipiell bereit sein muss, seinen Standpunkt im Dialog zu revidieren. „Wo Gewalt herbeigeredet, befürwortet, angewendet wird, da hilft nur die Durchsetzung des Rechts, kein Argument“, so Harald Welzer.

Das Argument ist zutreffend, gilt aber leider nur für den deutschen Rechtsstaat.