Sonntag, 25. September 2016


Denk ich an Heine in der Nacht


Anfang der 80er, als die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität noch schnöde ‚Universität’ hieß, pinselte in einer Nacht- und Nebelaktion die Studentenschaft ein gut 10 Meter großes Konterfei Heines auf die geschwungene Außenwand des Hörsaals 3A. Ein Mahnmal im wahrsten Sinne des Wortes, weithin sichtbar auf dem Campus, direkt am stark frequentierten Weg zur Mensa gelegen.

Flugs sah sich eine aufgeschreckte Verwaltung dazu veranlasst, diesen ungeheuerlichen anarchischen Akt zu tilgen und zu übertünchen. Wehret den Anfängen, dachte man sich wohl in den Amtsstuben. Und bloß keinen Gedanken an Gedanken abseits behördlich vorgeschriebener Wege verschwenden.

Womit die werten Damen und Herren jedoch nicht gerechnet hatten: Nach jedem kräftigen Regenguss trockneten die Farben und der Beton in leicht unterschiedlichen Zeiträumen. Statt, wie gewünscht, wieder Grau in Grau zu glänzen, tauchte plötzlich, wie aus dem Nichts, für eine halbe Stunde der gute Harry Heine wieder auf.

Hämisch grinsend, wie mancher meinte erkennen zu können. Und das nach jedem Schauer. Als wiederkehrende Mahnung, nicht stets den gewohnten Gang zu gehen. Den ewig gleichen Trott, gleichförmiges Kontinuum des grauen Alltags. Sondern, und sei es nur für einen kurzen Moment, innezuhalten. Nachzudenken. Seine Gedanken zu ordnen. Zu gliedern und zergliedern’: „etwas (besonders ein organisches Ganzes) in seine Teile zerlegen (um seine Beschaffenheit zu ergründen)“. Gliedern, um zu gliedern, lat. „articulare“: Gedanken, die, artikuliert, zu Worte werden.

Man muss dann eigentlich nur noch den Mund aufmachen.

Dienstag, 20. September 2016


Mein Traumberuf



Nein, Astronaut wollte ich nie werden. Was aber sicher nicht so sehr an meiner ausgeprägten Höhenangst liegt. Die hätte sich ja vielleicht ab 380.000 Kilometer über der Erde etwas gelegt. Doch darüber will ich jetzt nicht groß spekulieren, der Zug ist schließlich abgefahren. Weshalb ich mir auch keine Sorgen mehr um meine Neigung zur Klaustrophobie mache, die mich in beengten Verhältnissen, wie sie nun mal da oben in Raumkapseln herrschen, vielleicht übermannt hätte. Zumal ich diese Neigung mit rund 7% der Bevölkerung teile. Und geteiltes Leid ist halbes Leid, also alles halb so wild. Schwamm drüber.

An meinen marginalen persönlichen Unzulänglichkeiten lag es demnach nicht, dass ich mich einfach nicht zum Astronauten berufen gefühlt habe. Obwohl auch ich natürlich, wie wohl alle, deren Familie bereits im Juli `69 einen Fernseher ihr Eigen nannten, zu nachtschlafender Zeit vor der Glotze saß, um mit meinem Vater um Punkt 3:56 Uhr MEZ gebannt die ersten Schritte des Man on the Moon zu verfolgen.

Aber trotz dieses epochalen Ereignisses: Sigfried Held war mein Held, der Dortmunder Stürmer, das kongeniale Pendant zur linken Klebe Lothar ‚Emma’ Emmerich. Und nicht Neil Armstrong. Warum? Was für eine Frage: Weil der Spaziergang auf dem Erdtrabanten nun mal nicht Armstrongs Idee war. Er hat doch nur getan, was er tun sollte. Als Kind stand mir aber nun wirklich nicht der Sinn danach, jemanden toll zu finden, der nur tut, was andere ihm sagen. Ob’s nun die NASA war oder der eigene Vater.

In meinen Zukunftsträumen schwebt mir was anderes vor. Radikaleres. Verwegenes. Etwas, wo ich selber bestimmen konnte, wo die Reise hingeht. Wobei ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen möchte, dass ich bei aller Radikalität und Verwegenheit doch äußerst bescheiden war: Meine Zukunftsträume scherten sich damals nämlich nicht um die Zukunft, sie waren schlichte Träume. Weshalb ich eben auch kein Astronaut sein wollte. Sondern ein einfacher Oneironaut.

Nie gehört? Macht nichts. Ich auch nicht. Bis vor kurzem zumindest. Was aber auch nichts zur Sache tut. So wollte ich eben etwas sein, von dem ich zwar bis dato nicht wusste, wie es heißt, ich aber wusste, was es heißt, einer zu sein. Ein Oneironaut. Oder auf gut Deutsch: ein Traum-Seefahrer.

Der kann das, wovon ich als Kind immer geträumt habe: Die schnöde Realität mit leichter Hand hinter sich lassen. Er kann Klarträume erleben, also Träume, in denen er sich bewusst ist, dass er träumt. Er kann sie gezielt erleben. Und kann sie so steuern, wie er will.

Wenn ich’s mir recht überlege, hat sich bei mir seit damals eigentlich nicht viel geändert. Schließlich träum’ ich grad jetzt wieder davon, mir die Welt so zu machen, widdewidde sie mir gefällt...

Samstag, 17. September 2016


Unerhörte Gedanken, Teil 3



1.

Gott sei Dank.

Es gibt sie noch, diese aufrechten Menschen mit gesundem Menschenverstand. Die imstande sind, die unumstößlichen Wahrheiten und ehernen Gesetze des Miteinanders in einfache, unmissverständliche Worte zu fassen.

So jemand ist Viktor Orban, der amtierende ungarische Ministerpräsident. Er hat der weltfremden Diskussion um die Integration von Flüchtlingen, die derzeit geführt wird, ein ultimatives Ende bereitet. Dank seiner unendlichen Weisheit wissen wir nun verbindlich:

Jeder Migrant, der kommt, stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ein Terrorrisiko dar.

Punkt. Aus. Ende der Diskussion.

(Da fällt mir mit Schrecken ein: Was ist eigentlich mit den ‚Horden von Migranten’, die zwischen 1953 und 1989 auch aus Ungarn, der CSSR und DDR zu uns kamen? Und dem ‚Migrationstsunami’ nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime im Ostblock? Hundertausende von Migranten, alle untergetaucht und hier als Schläfer im Terroreinsatz??!)




2.

Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.

Dieser Satz hat mich jahrelang begleitet, damals, als ich als Pennäler mit dem Bus zur Schule fuhr. Wie ein Menetekel prangte er dort am Ende des Ganges, hoch über dem Fahrer. Unübersehbar. Eine eindringliche Mahnung für alle, die den Bus betraten. So auch für mich. Geradezu ehrfurchtsvoll habe ich mich all die Jahre daran gehalten. Weniger, weil ich des Busfahrers knarzige Stimme aus dem Lautsprecher fürchtete, der jedwede Zuwiderhandlung mit einer gebellten Verbalnote ahndete. Nein, weil mir als Kind die Mahnung völlig plausibel erschien. Schließlich wollte ich ja, dass mich der Fahrer, durch nichts und niemanden abgelenkt, sicher zur Schule brachte.

Ein kategorischer Satz, wie in Stein gemeißelt. Nur dass sich im Zeitalter der mobilen Kommunikation niemand mehr daran hält. Auch nicht die Fahrer. Und erst recht nicht die StVO. Denn die erlaubt es Fahrern, über eine Freisprechanlage während der Fahrt mit Anrufern zu sprechen.

Das Kind in mir ist erschüttert.




3.

Die ersten durch den Klimawandel verursachten irreversiblen Schäden lassen sich nicht mehr wegdiskutieren, kaum jemand bestreitet noch ernsthaft die gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die uns in den kommenden hundert Jahren bevorstehen werden. So zum Beispiel der Exodus ganzer Bevölkerungsgruppen aus dem pazifischen Raum, der dort, durch den Anstieg des Meeresspiegels, bereits eingesetzt hat.

Dumm nur, dass diese Menschen derzeit nicht den Hauch einer Chance haben, als Flüchtlinge anerkannt zu werden: Rein rechtlich gibt es nämlich keine Klimaflüchtlinge, da der Klimawandel in der Genfer Flüchtlingskonvention bislang nicht als Fluchtgrund aufgenommen wurde.

Kaum anzunehmen, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird, wehren sich doch viele Staaten, insbesondere Australien und Neuseeland, mit Händen und Füßen dagegen. Denn beide Staaten befürchten, nicht ganz zu Unrecht übrigens, dass sie sonst durch die Einwohner der durch den unaufhaltsamen Anstieg des Meeresspiegels dem Untergang geweihten melanesischen und polynesischen Inseln in den kommenden Jahren förmlich überrannt werden.

Nun aber bekommen eben jene Klimaflüchtlinge, die keine sein dürfen, Beistand von einer der Empathie ansonsten völlig unverdächtigen Seite: Hochrangige amerikanische Militärs fordern aktuell von ihrer Regierung vehement ein deutlich erhöhtes Engagement für den Klimaschutz, sehen sie doch in dem Klimawandel und dem damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegels eine akute Bedrohung.

Ihrer küstennahen Militärstandorte, nicht der am Meer lebenden Menschen.

Dienstag, 13. September 2016


Noch mehr unerhörte Gedanken



1.

Die Realität schreibt immer noch die besten Pointen: Bundesfinanzminister Schäuble plant für 2017 eine Erhöhung des Kindergelds – um 2 Euro.



2.

Im August 1945 erschien George Orwells utopische Fabel Animal Farm, eine Abrechnung mit dem pervertierten Sozialismus stalinistischer Prägung. Weil die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt aber noch Alliierter der Westmächte war, versuchte die Regierung des Vereinigten Königreichs die Veröffentlichung des Buches zu verhindern. Diesen Akt vorauseilender Selbstzensur klagte Orwell im Vorwort der Fabel unter der Überschrift The Freedom of the Press an. Und hielt darin ein flammendes Plädoyer für die Freiheit des Wortes:

Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“


Die Verlage nahmen ihm dieses Recht – das Vorwort fiel eben jener vorauseilender Selbstzensur zum Opfer, die Orwell darin anprangerte. Das Buch erschien, das Vorwort nicht. 1  Was für eine bittere Ironie.

Für Orwell stellte die Freiheit, das zu sagen dürfen, was andere nicht hören wollen, ein so hohes Gut dar, dass alle in dessen Genuss kommen sollten. Völlig unabhängig davon, was sie sagen. 

Diese Freiheit jedoch ist ein zweischneidiges Schwert. Und manchmal nur schwer zu ertragen. Ich zum Beispiel würde am liebsten gar nichts mehr von der Herzogin von Oldenburg vulgo Frau von Storch hören. Oder von dem beurlaubten Gymnasiallehrer Höcke. Erst recht nichts von den Herren Erdogan, Orban, Wilders, Kaczynski, Hofer, Trump, Putin oder Dutarte. Um nur einige wenige zu nennen.


1Erstmals wurde das Vorwort im September 1972 veröffentlicht. Aber nicht als Vorwort des Buchs, sondern, eingeleitet von Bernhard Crick, in The Times Literary Supplement.




3.

Fangfrage: Von wem stammen die folgenden Zitate?

1. „Wir sind dagegen, dass sich unser weltoffenes Land durch die Zuwanderung oder Flüchtlingsströme verändert.
2. "Wir sind weltoffen, wir sind tolerant, wir sind nicht gegen Fremde. Aber es ist unser Land, es ist unser Volk, und es ist nicht das Volk von Fremden."
3. „Heute sind wir tolerant – und morgen fremd im eigenen Land.“

(Falsch. Nur ein Zitat stammt von AfD-Vize Alexander Gauland.)



4.

AfD-Chefin Frauke Petry hat, wie viele andere Vertreter der Neuen Rechten auch, ein recht klar strukturiertes Weltbild: Im Einklang mit dem Ethnopluralismus der Identitären Bewegung plädiert sie für eine ethnische und kulturelle Homogenität der Völker, die rein ist von fremdvölkischen Einflüssen.

Verständlich, dass sie deshalb den Begriff „völkisch“, völlig ungeachtet seiner historischen Konnotation, positiv besetzen möchte. Eine Absicht, die sie eben erst in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ zum Ausdruck gebracht hat. Nur konsequent, wenn sie in diesem Zusammenhang betont, dass für sie die Aussage „’völkisch’ ist rassistisch“ eine „unzulässige Verkürzung“ darstellt.

Warum? Weil sie ja, ganz unverfänglich, nur die ethnische und kulturelle Homogenität vor Augen hat, nicht aber, wie ehedem die Nationalsozialisten, die erbbiologische. Unter dieser verharmlosenden Prämisse lässt sich, ohne jegliche sprachliche Scheu vor den Implikationen, daraus flugs ein völkischer Gegenentwurf zur multikulturellen Gesellschaft entwickeln.

Scheinbar großherzig und liberal, pluralistisch und weltoffen wird dort allen Völkern, natürlich nur zum Schutz ihrer eigenen, ‚völkischen’ Identität, das Recht auf Homogenität zugesprochen.  Doch da, wo der Ethnopluralist von ‚alle’ spricht, meint er nur ‚wir’: Fremde Ethnien interessieren ihn nur insoweit, als dass sie sich schnellstmöglich in ihre jeweiligen Herkunftsländer verziehen.

Dem Ethnopluralisten geht es einzig um die Identität seines jeweils eigenen, in diesem Fall: um die des deutschen Volkes. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto schiere Fremdenfeindlichkeit ist. 

Und der Schritt von der Feindlichkeit allem Fremden gegenüber, der Ablehnung alles Undeutschen zur Wahrung der völkischen Identität, hin zum unbedingten, heroisierenden Glauben an die eigene ethnische und kulturelle Überlegenheit, ist klein.

Sehr klein.

Der nächste Schritt ist noch kleiner.




5.

In der ersten mekkanischen Phase waren die Suren, so die gängige Ansicht der Islamwissenschaft heute, „von dem Gedanken an die unmittelbare Ankunft des jüngsten Gerichts sowie der Vorstellung an einen barmherzigen Schöpfergott bestimmt“. Zu diesem Zeitpunkt ist der Islam noch keine ausgestaltete, eigenständige Religion, eher eine von der Begegnung mit Judentum und Christentum sowie den urchristlichen Werten geprägte, ursprünglich friedvoll-reformerische Bewegung: Mohammed wollte Juden und Christen auf den rechten Weg zu dem ursprünglichen abrahamitischen Glauben, den er ‚Islam’, Hingabe zu Gott, nannte, zurückführen.

Auch später, in der weiteren Offenbarung Gottes, die nach islamischen Verständnis durch den ‚Mann Gottes’, Gavri-El, Erzengel Gabriel vermittelt wurde, ist der Koran durchdrungen von Elementen, die konfessionsübergreifend sind. So die Geschichte von Maria, Zakariya oder Maryam, der als einziger Frau im Koran eine eigene Sure gewidmet ist.

Maria wird ganz so beschrieben, wie sie auch uns bekannt ist: als vor allen Weibern der Welt auserwählte Frau. Als gereinigte Mutter, die ein Kind gebar, ohne dass ein Mann sie je berührt hat. Ein Kind, entstanden aus dem Schöpfungswillen Gottes, Allahs, der sprach: „Sei!“. So ward Jesus allein durch das Wort Gottes.

Anders übrigens als Mohammed. Der zum einen ganz profan der Sohn eines Vaters und einer Mutter war. Zum anderen zwar in seiner Himmelfahrt zu Allah aufstieg, nach seinem Tod aber nicht, wie Isa bin Maryam, Jesus, Sohn der Maria, wieder zum Leben erweckt wurde.

Welche Schlüsse zöge daraus wohl der wahhabitische Radikalfundamentalist und Anführer des IS, Abu-Bakr al-Baghdadi, würde er sich in einer schwachen Stunde daran erinnern?

Keine. Vielleicht.

Mittwoch, 7. September 2016


Unerhörte Gedankensplitter



1.

Alles, was so zwischen der offen rassistischen White Aryan Resistance (WAR) und anderen White Supremacy-Gruppierungen in der USA sowie den diversen Identitären Bewegungen in Europa changiert, die eine als Ethnopluralismus nur mühsam verhüllte völkische Einstellung vertreten, schaut mit Abscheu und Verachtung auf alles herab, was nicht ist wie sie.

Sie sind die Krone der Schöpfung, die Spitze der Evolution, die Herren der Welt. Die überlegene weiße Rasse, die es rein zu halten gilt. Insbesondere von Elementen der minderwertigen negroiden Spezies.

Nun hat aber das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig unter Leitung von Svante Pääbo in den letzten Jahren erstaunliches festgestellt: Den Neandertaler hat die Evolution gar nicht dahingerafft. Zumindest nicht vollständig. Er lebt. In uns. Denn bis zu 3% des Erbguts aller Menschen stammt von ihm, dem Vormenschen – selbst die Gene der edlen Herrenrasse sind davon betroffen.

Nur nicht die der Afrikaner...




2.

In der FAS las ich neulich einen kleinen Artikel, in dem über eine aktuelle soziologische Studie aus den USA berichtet wurde. Vorsorglich wies die Autorin darauf hin, dass diese Studie nicht ganz hält, was sich gewisse Kreise vielleicht von ihr versprechen. Aus gutem Grund, trägt sie doch den Titel „Warum die Integration von Muslimen in christlich geprägten Gesellschaften scheitert“.

Die Studie bezieht sich auf Langzeitbeobachtungen der Muslime in Frankreich. Als wesentlicher Grund für das Scheitern wird dort ein Aspekt ausgemacht, der mir, ich muss es gestehen, in dieser Form noch gar nicht recht in den Sinn gekommen ist: Die Abwehrreaktionen in der Gesellschaft finden nicht statt, weil man dem Islam eine Tendenz zur Frauenfeindlichkeit oder etwa höhere Affinität zu Gewalt zuschreibt. Nein: „Es ist die Sichtbarkeit religiöser Praxis, die Nicht-Muslime stört“.

Wir reiben uns in unserer säkularisierten Gesellschaft zunehmend an öffentlich zur Schau getragenen religiösen Symbolen. An Minaretten. An Verschleierungen. An Bärten. Natürlich kann man vermuten, dass dies im laizistisch geprägten Frankreich ausgeprägter ist als bei uns. Aber auch aus Deutschland kennen wir ganz ähnliche Abwehrreaktionen. Heute mehr denn je. Und vor allem aus Orten, wo diese Symbole in der Regel nur in der Theorie oder als Projektion auftauchen.

Das gilt aber nicht nur, wie man glauben möchte, für islamische Symbole. Alles Religiöse ist weitestgehend aus der Öffentlichkeit verbannt. Auch bei uns. Entsprechend begegnen wir allem Religiösen, das in der Öffentlichkeit sichtbar wird (oder werden könnte), mit irritiertem Unbehagen, stellt es doch für uns mittlerweile etwas Fremdes, Unbekanntes, potentiell Gefährliches dar. Und darauf reagieren wir nun mal selten mit einem freudigen Hallo, sondern eher mit entschiedener, manchmal sogar mit aggressiver Ablehnung. Erst verbal, dann physisch.

Mir schießt da ein unguter Gedanke in den Sinn: Sollte diese Studie tatsächlich stichhaltig sein – lässt sich ihr Fazit womöglich generalisieren? Was ist eigentlich mit den hunderttausenden von behinderten Mitbürgern, die früher ein ganz selbstverständlicher Teil des öffentlichen Bildes und damit der öffentlichen Wahrnehmung waren? Was wäre, wenn wir die Tore der Heime öffnen, die Behinderten in die Städte strömen und sie dort wieder für jeden sichtbar würden?

Wie würden wir dann wohl auf sie reagieren?




3.

Erzbischof Kardinal Woelki ist ein verständiger Mann, der mit beiden Beinen im diesseitigen Leben steht. Nichts Weltliches scheint ihm fremd zu sein. Eine Eigenschaft, die man nicht unbedingt jedem Geistlichen zuschreiben kann. Nun hat mich letztens aber dieser gute katholische Hirte durch eine Äußerung etwas irritiert. Da sagte er doch, dass er die derzeitige Debatte um das Zölibat und die Frauenordination nicht recht nachvollziehen kann, weil „diese katholischen Standpunkte dem göttlichen Schöpfungswillen entspringen“.

Zölibat und Ablehnung der Frauenordination sind dem „göttlichen Schöpfungswillen’“ entsprungen?

Ja, in der Tat: Die Frauenordination war bereits im Frühchristentum tabu. Die Gemeinde galt als weiblich, als Braut. Der Priester musste demnach, da hatte man ein ganz traditionelles Rollenverständnis, männlich sein. Wie der Bräutigam. Aber in der gesamten christlichen Literatur seit Anno Domini ist, Herr Woelki möge mich da eines besseren belehren, in diesem Zusammenhang niemals von einem Schöpfungswillen die Rede, dem das Verbot der Frauenordination zuzuschreiben ist. Und von einem göttlichen schon mal gar nicht.

Ähnliches gilt für das Zölibat. Zwar gibt es im Neuen Testament hier und da die Forderung, der Oberhirte einer Gemeinde möge doch bitteschön enthaltsam leben. In einem Akt der Freiwilligkeit, um des Himmelreichs willen, wie es so schön heißt. Um mit ungeteiltem Herzen sich seiner Aufgabe und den Menschen, also als Bräutigam der Braut Gemeinde zu widmen. Wobei es lange einen Dissens in der Frage gab, ob nun unter Zölibat die Ehelosigkeit oder aber die Enthaltsamkeit zu verstehen war  (die Vertreter der Ehelosigkeit scheinen mir recht sympathische moralische Schlawiner gewesen zu sein: Ein Priester sollte ehelos leben, aber nicht enthaltsam...).

Endgültig entschieden wurde diese Frage erst auf dem Zweiten Laterankonzil in Rom. Seitdem gilt für alle Geistliche das Zölibat als kodifizierte Form der sexuellen Enthaltsamkeit. Im Jahr des Herrn 1139 geschah dies, um genau zu sein. Doch was genau geschah da?

Das Zölibat ist, das hat uns Erzbischof Kardinal Woelki ja gelehrt, dem „göttlichen Schöpfungswillen“ entsprungen. Und da es ihm um die verbindliche, nicht aber um die freiwillige Form des Zölibats geht, muss er sich auf ihre Kodifizierung beziehen, die 1139 erfolgt ist. Zu diesem Zeitpunkt muss also, sollte Herr Woelki recht haben, der göttliche Schöpfungswille im Lateran irgendwie über die anwesenden Kleriker gekommen sein. Doch wie? Ist Gott womöglich selbst herabgestiegen und hat ihnen das Zölibat verkündet? Oder haben die gottesfürchtigen Herren daselbst den Heiligen Geist empfangen? Waren sie hernach der Zungenrede fähig?

Ich bin verwirrt, Herr Woelki. Warum erfährt die Menschheit erst jetzt von dieser wundersamen Begebenheit?