Mittwoch, 31. August 2016


Neues aus deutschen Landen


Bad Bentheim verfügt, wie es sich für einen renommierten Kurort gehört, über einen recht manierlichen Bahnhof. Und da die lokalen Würdenträger nach Kräften bemüht sind, ihren Gästen alle Annehmlichkeiten angedeihen zu lassen, die diese von einem Kurort nun mal erwarten können, hat man sich alle Mühe gegeben, ihnen das Leben zu erleichtern, wo es nur geht.

So wurden kürzlich im besagten Bahnhof 1,1 Millionen Euro in Umbaumaßnahmen investiert, um Rollstuhlfahrern einen barrierefreien Ein- und Ausstieg in die ein- und ausfahrenden Züge zu ermöglichen. Ein äußerst löbliches Unterfangen. An sich. Wenn da den Verantwortlichen nicht ein kleines Malheur passiert wäre: Durch die Erhöhung des Bahnsteigs können Rollstuhlfahrer nun zwar problemlos in die Züge gelangen, aber leider nicht mehr auf den Bahnsteig – die Bahnhofstüren lassen sich nicht mehr öffnen.

Geübte Reisende können durch ein geöffnetes Fenster klettern, weniger sportliche müssen jedoch den Umweg ums gesamte Gebäude nehmen. Ein Ende dieser etwas unkonventionellen Interpretation des barrierefreien Einstiegs ist vorerst nicht in Sicht, böse Zungen munkeln von Anfang 2018.

Der Bürgermeister des Ortes heißt übrigens so, wie es nicht anders zu erwarten war: Pannen.

Dienstag, 30. August 2016


Nimm’s mit Humor

Eine kleine sibyllinische Anekdote.
 

Man ist wirklich bass erstaunt, was der Humor nicht alles zu leisten imstande ist. Platzt er, zum Beispiel, aus heiterem Himmel in eine gesellige Runde, besitzt er eine ungeahnte therapeutische Kraft. Da biegen wir uns vor Lachen, schlagen uns krachend auf die Schenkel und schießen uns die Tränen in die Augen. Das wirkt so nachhaltig auf die Physis, dass Humor fast schon als Durchblutungswirkstoff für die tägliche Medikation durchgeht.

Aber Humor kann sogar noch deutlich mehr. Er kann subversiv sein. Uns Kraft geben. Hoffnung vermitteln. Auswege aufzeigen. Gefahren bannen. Schwächen offenbaren. Verzweiflung überwinden helfen. Gemeinsamkeiten schaffen. Entkrampfen. Entspannen. Ablenken. Befreien. Und nicht zuletzt: befruchten.

Schließlich weckt er in uns spontane Assoziationen. Eingebungen. Logisch kaum erklärbare Einsichten in verblüffende, völlig unerwartete Zusammenhänge. Nehmen wir, nur mal so als Beispiel, den englischen Humor. Dass der etwas ganz Besonderes, Einzigartiges ist, weiß jedes Kind. Was aber nicht unbedingt jeder weiß, ist, dass er nicht nur einzigartig, sondern auch der erste seiner Art ist. Denn besagte Engländer waren es, die im 17./18.Jahrhundert als erste auf die Idee gekommen sind, unter ‚Humor’ genau das zu verstehen, was wir heute darunter verstehen.

Der englische humour: Das ist seitdem das, was der Duden als „die Begabung eines Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den alltäglichen Schwierigkeiten und Missgeschicken mit heiterer Gelassenheit zu begegnendefiniert. In den Jahrhunderten zuvor hätte man dieses Verständnis vielleicht mit Humor genommen, aber wohl kaum so genannt. Denn als der gute alte Galen, ein griechischer Arzt im 2. Jahrhundert n. Chr., seine Lehre von den vier elementaren Körpersäften entwickelte, die das cholerische, melancholische, phlegmatische und sanguinische Temperament hervorbringen, nannte er jene Säfte ganz humorlos humores: ‚Feuchtigkeiten.

Am Anfang war der humor also gar nicht witzig. Sondern eher feucht. Und mit ihm seine gesamte lateinische Wortfamilie: umere, feucht sein. Oder auch umidus, feucht, nass.

Unversehens sind wir hier jedoch bei eben jenen Anklängen angelangt, die in den etymologischen Tiefen der Wörter über Jahrtausende hinweg heimlich, still und leise schlummern. Von uns unbemerkt. Unerkannt. Vergessen. Aber immer da. Stetig lauernd. Im Untergrund gärend. Bereit zum Ausbruch aus dem Subtext, um eruptiv die Konnotationen auszuspeien:

ugh-

Was hier gleichsam als Urlaut aus der Sprache in der Bedeutung ‚feucht’, ‚befeuchten’, ‚(be-)spritzen’ emporsteigt, ist tatsächlich die indogermanische Wurzel des Humors. Mehr noch: Sie ist auch, man mag es kaum glauben, die des Ochsen. Eben jenes Ochsen, mhd. ohse, der zwar das entmannte, mithin also unfruchtbare Rindviech bezeichnet, dessen Name aber sprachlich von einer äußerst fruchtbaren Vergangenheit zeugt: Der Ochse ist nämlich, man hört’s gleich, verwandt mit altindisch uksa, was gewissermaßen sein Gegenteil bedeutet – Stier.

In jenem uksa steckt zudem uksati. Was soviel heißt wie ugh-. Sprich: ‚feucht’, ‚befeuchten’, ‚(be-)spritzen’. Und der Stier, Ex-Ochse, vormaliger uksa, hat nun mal in der Geschichte der Zivilisation die Funktion, die uksati nahelegt: Er ist der Befeuchter. Bespritzer. Befruchter.

Hier nun nähern wir uns langsam, aber stetig dem Humor, seiner ursprünglichen Bedeutung sowie der heutigen Funktion als inspirierende, geistig befruchtende Gattung. Und damit schließt sich der Kreis. Was man übrigens auch mit etwas Humor nehmen sollte.

Dienstag, 23. August 2016


Das Selbstbild des Mannes


Dieser Tage wird viel über ein mögliches Burka-Verbot gesprochen. Mal, wie in Frankreich, im Rahmen eines generellen Verhüllungsverbots, das sich durchaus nicht auf das Tragen von Burkas reduziert, sondern ganz allgemein und ohne religiöse Bezugnahme gilt. Da übrigens dem Vermummungsverbot nicht unähnlich, das 1985 in Deutschland als Versammlungsgesetz beschlossen wurde. Mal aber auch, indem auf die bei uns erreichte Rechtsposition der Frau und das damit einhergehende Geschlechterkonzept verwiesen wird, das in Europa mittlerweile gesellschaftliche Konvention geworden ist – wenn auch nicht immer praktisch konsequent realisiert, so doch als Konsens theoretisch weitgehend akzeptiert.

Wenn es um das Tragen von Hidschab, Tschador, Niqab oder Burka geht, wird immer wieder auf die patriarchal strukturierte Gesellschaft in muslimisch geprägten Ländern hingewiesen. Und auch auf die Gefahren, denen die Frauen durch den Mann ausgesetzt sind: Es diene nur ihrem eigenen Schutz, so die Argumentation, wenn sie ihren Körper so weit verhüllen, dass er den lüsternen Blicken der Männer, die sich da als „sexuelle Tiere“ gerieren (Khorchide), keine Angriffsmöglichkeit mehr bietet.

Allerdings scheint in radikalkonservativ geprägten muslimischen Gemeinschaften diese geschlechtsneutrale Verpackung der Frau immer noch nicht auszureichen, um den männlichen Sinnen keinerlei Anlass zu hormonell bedingten Übergriffen zu geben. Deshalb werden die Frauen dort oftmals nicht nur unter Tüchern verborgen, sondern nahezu gänzlich der Öffentlichkeit entzogen und dem ‚Schutz’ der eigenen vier Wände überantwortet – ein Hausarrest der perfiden Art.

Die Verhüllung dient aber nicht allein dem ‚Schutz’ der Frau, sie ist ursprünglich sogar ein Akt ihrer Befreiung. Denn durch diese Verhüllung unterschied sich die vermeintlich freie Frau von der Sklavin: Letztere durfte sich nämlich nicht in der Öffentlichkeit verhüllen. Dieses von Mohammed verbriefte ‚Recht’ war einzig der freien Frau vorbehalten: Die verhüllte oder gar gänzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit lebende Frau als das Sinnbild der freien Frau – darauf muss man erst mal kommen.

Ganz so fern ist diese Vergangenheit in der muslimischen Öffentlichkeit und in der dortigen öffentlichen Wahrnehmung aber offensichtlich nicht. „Eine Frau, die sich alleine im öffentlichen Raum bewegt“, so die Psychotherapeutin Deniz Baspinar in der ZEIT, „scheint in den Augen vieler dieser Männer herauszufallen aus dem Schutzraum Familie und verliert somit ihren Anspruch, unbelästigt ihres Weges gehen zu dürfen“.

Die unverhüllte, sich frei bewegende und kleidende Frau erscheint, im Gegensatz zu der moralisch guten, weil verhüllten, somit für jedermann frei verfügbar. Die sexuellen Wünsche des Mannes, so Deniz Baspinar, werden auf sie projiziert – und durch diese Projektion wird ihr zudem unterstellt, dass seine sexuellen Wünsche in Wahrheit ihre sind. Eine solche bauernschlau „als moralisch verderbt etikettierte Frau (verliert) ihren Anspruch auf Schutz und Unversehrtheit“. Und darf somit auch Ziel sexualisierter Gewalt werden. Selber schuld. Die Punz hat es doch nicht anders gewollt (woher kenne ich diesen Spruch bloß...).

Es werden, wie Baspinar betont, die „Frauen, mit denen Sex möglich ist, gleichzeitig herbeigesehnt und aggressiv abgewertet“. Mouhanad Khorchide spricht hier vor „einer Übersexualisierung der Beziehung zwischen Mann und Frau und der daraus resultierenden Reduzierung der Frau auf ihren Körper“ – also eine Reduzierung der Frau auf ein sexuelles Objekt, vor dem die Männer auf Erden ihrerseits geschützt werden müssen. Auch auf diese Logik muss man erst mal kommen.

Im Jenseits sieht die Sache allerdings gänzlich anders aus. Denn ziehe ich als Märtyrer ins Paradies ein, dann wartet dort der absolute Tabubruch als himmlische Belohnung auf mich, der Gegenentwurf der moralisch guten Frau: die willfährige, allzeit bereite, den Männern somit sexuell stets verfügbare, ewig junge, ewige Jung-Frau. Gleich 72 an der Zahl. Alle mit anregenden Vaginas ausgestattet. Vollen, niemals hängenden Brüsten. Lebendige Love Dolls. Gummipuppen. Keine Subjekte mehr, nur noch pure Objekte der Begierde des dauererigierten Mannes, seinen Trieben vollends ausgesetzt.

Ein wilder Tiger im irdischen Käfig, der, seiner Fesseln endlich ledig, droben seinen niederen Instinkten nachjagt und seine unterdrückte Sexualität genussvoll ausleben kann. Als Mann. Was das für die 72 Jungfrauen bedeutet, ist nicht überliefert.

Aber sehen wir einmal, auch wenn’s vielleicht schwer fällt, kurz von der Stellung der Frau ab, die hier zum Ausdruck kommt: Was bedeutet diese paradiesische Erfüllung eigentlich konkret für den Mann? Faktisch wie gesagt dies: Er muss bis zum jüngsten Gericht mit Dauererektion leben, muss 72 sexuell unerfahrene Jungfrauen stets aufs Neue deflorieren, ist ständig von prallen Brüsten und wolllüstigen Vulvas umgeben, die er zu besteigen hat. Mal unter uns Männern, liebe Märtyrer: Das ist nicht sinnlich. Das ist auch nicht himmlisch. Das ist die Hölle. Oder, schlimmer noch, ein ganz mieser Porno auf Endlosschleife.

Keine selbstbewusste Frau, die mir vielleicht zur Abwechslung mal eine neue, erregende Erfahrung offenbart. Keinen Moment Pinkelpause (wie soll das mit erigiertem Glied gehen?). Keine Runde Kicken mit alten Kumpels. Nichts. Nur rammeln, rammeln, rammeln, bis der Herr endlich ein Erbarmen hat.

Wie schlecht muss der Mann von sich selber denken, wenn er meint, dass allein der Anblick eines nackten weiblichen Körperteils, ja sogar nur der Hauch einer Andeutung einer weiblichen Körperform unter einem weiten Tuch in ihm eine solche Sturzflut an Hormonen auszulösen vermag, dass sie völlig unkontrolliert seinen Körper durchströmt und ihn zu einem willenlosen, rein instinkt- und triebgesteuerten Männchen werden lässt, das allein durch die Besamung des Weibchens halbwegs wieder besänftigt werden kann? Und was hab’ ich davon zu halten, wenn er sich dies, was ihm auf Erden versagt bleibt, als paradiesischen Zustand erträumt? Ja, wenn er auch noch zu allem Überfluss bereit ist, sich in die Luft zu jagen, um so in diesen zweifelhaften Genuss zu kommen?

Ich finde, es wäre langsam mal an der Zeit, dass weniger über Burkas und die Rolle der Frau gesprochen wird. Sondern mehr über die Emanzipation des muslimischen Mannes von sich selbst. Oder über eine Zeitenwende: Wie wär’s, wenn die nächsten 1400 Jahre der Spieß rumgedreht wird? Als Ausgleich. Komplett. Im Dies- wie im Jenseits. Ob das ein Heidenspaß für die Frauen wäre?

Ich glaube nicht.

Samstag, 20. August 2016


Das Prinzip Hoffnung


Der Mensch gibt sich ja gerade wirklich alle Mühe, die Welt nach allen Regeln der Kunst vor die Wand zu fahren. Darin sind sich die Wissenschaftler einig. Der Klimawandel lässt sich nicht mehr aufhalten, man streitet nur noch über das genaue Ausmaß der Katastrophe. Im Anthropozän, das derzeitige, sinnigerweise nach uns benannte, Erdzeitalter, wird es zu einem desaströsen Niedergang der biologischen Artenvielfalt kommen, das die Biosphäre zwar nicht ruinieren, aber doch in geologisch gesehen kurzer Zeit nachhaltig verändern wird. Zudem ist in den nächsten 80 Jahren, insbesondere in Afrika, ein geradezu apokalyptisches Bevölkerungswachstum zu erwarten, das, davon ist auszugehen, eine Migrationsbewegung zur Folge haben wird, gegen die die momentane Situation so entspannt wirkt wie ein autofreier Sonntag auf der A5.

Dazu kommen noch die altbekannten Plagen: Verschmutzung der Weltmeere. Verseuchung des Trinkwassers. Ressourcenmangel. Überfischung etc. Das Übliche halt. Ach ja, nicht zu vergessen die fast schon inflationäre Ausbreitung tendenziell autokratischer Regime von den Philippinen über Venezuela, Russland, Polen, Ungarn bis zur Türkei, die derzeit zu beobachten ist. Das lässt für das zukünftige Miteinander der Menschen nichts Gutes, sondern eher ein vermehrtes Hauen und Stechen erwarten.

Überall hat der Mensch seine Finger im Spiel. So, als könnte er es gar nicht abwarten, bis uns die Sonne das Licht endgültig ausknipst. Oder sich der gute alte Mond soweit von der Erde entfernt hat, dass sie nicht mehr nur symbolisch, sondern auch faktisch ins Taumeln gerät. Nun ja, vielleicht kommt uns die längst überfällige Eruption eines Supervulkans oder der Einschlag eines Asteroiden zuvor und macht unserem Treiben zumindest soweit den Garaus, dass wir dann zukünftig auf diverse zivilisatorische Errungenschaften verzichten müssen. Domestizierte Tiere. Kultiviertes Getreide. Feuer. Solche Dinge eben.

Was aber, wenn irgendwann mal wieder die Umweltbedingungen über einen längeren Zeitraum so stabil bleiben wie in den letzten 10.000 Jahren? In Gottes Namen. Dann geht die ganze Chose womöglich wieder von vorne los. Wobei mich aber der 2015 verstorbene amerikanische Paläontologe David Raup doch wieder etwas beruhigt hat. Er hat nämlich berechnet, dass jede Tier- und Pflanzengattung durchschnittlich „bereits 10,6 Millionen Jahre nach ihrem ersten Auftreten mit 50% Wahrscheinlichkeit wieder ausgestorben“ ist. Bei einer Säugetierart, so Raup, beträgt die Verweildauer auf der Erde sogar nur durchschnittlich eine Millionen Jahre.

Dann besteht ja noch Hoffnung. Zumindest statistisch gesehen.

Freitag, 5. August 2016


Das ist doch mal 'ne Storyline


In Peru hat sich neulich bei der Wahl zum neuen Präsidenten ein gewisser Pedro Pablo Kuczynski gegen Keiko Fujimori durchgesetzt. Fujimori und Kuczynski, klingt typisch peruanisch. Nun muss man aber wissen, dass der Peruaner Kuczynski, übrigens auch amerikanischer Staatsbürger und damit bei der nächsten US-Präsidentschaftswahl wahlberechtigt, zwar polnische Wurzeln hat, aber Sohn eines deutschen Vaters ist. 

Bei diesem handelte es sich um den in Berlin geborenen Mediziner Max Kuczynski. Der  seinerzeit vor den Nazis flüchtete. Verständlicherweise, war schließlich Jude. Seine Mutter war’s nicht. Dafür aber Französin, Madeleine Godard. Godard, Godard? Ist da nicht irgendwas? Jawohl, ist: der Filmregisseur Jean-Luc Godard, einer der Gründerväter des Nouvelle Vague. Und Neffe besagter Madeleine Godard, mithin also Cousin des neuen peruanischen Präsidenten.

Polen, Berlin, Frankreich, Jude, Nazis, Flucht, Peru, USA, Kuczynski, Godard, Nouvelle Vague, Millionär, Präsident: Was für eine vogelwilde, aus allen möglichen historischen Versatzstücken zusammengeschusterte Story. Nichts wird hier ausgelassen. Eine Plattitüde reinsten Wassers. Würde ich kopfschüttelnd sagen, läse ich diese Story als Buch.

Ist aber kein Buch, ist die Realität. Und die schreibt immer noch die schrägsten Geschichten...

Mittwoch, 3. August 2016


Das Rätsel verwandtschaftlicher Beziehungen


Manchmal komme ich wirklich ins Schwimmen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Verwandtschaftsgrade zu bestimmen. Und das nicht erst seit dem inflationären Aufkommen der Patchwork-Familien. Nein, eigentlich immer schon. Ich vermute, das liegt in unserer eigenen Familienhistorie begründet. Der erste Ehemann meiner Großmutter mütterlicherseits verstarb nämlich sehr früh, kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes. Einige Jahre später heiratete meine Großmutter wieder. Zwei Kinder waren die Folge, beides also Halbgeschwister des ersten Kindes. Dieses erste Gottesgeschenk war meine Tante, das zweite meine Mutter, das dritte mein Onkel. Der Oheim, ‚Oehm’. Wie passend.

Soweit nichts Ungewöhnliches. Nur dass eben meine Tante ja nur eine Halbschwester meiner Mutter und meines Onkels war. Also quasi meine Halbtante. Im Gegenansatz zu meinem Vollonkel. Was genealogisch bereits ein kleines Dilemma darstellt, da es eigentlich keine Halbtante, nur eine Tante 2. Grades gibt. Die wiederum wäre aber das Kind der Großtante resp. des Großonkels, welche/r ein/e Schwester/Bruder meiner Großmutter sein müsste.

Egal: Meine halbe Tante war für mich meine über alles geliebte Tante, basta. Und ihr angetrauter Ehemann war damit, so sagte man mir, mein Onkel. Der also auch. Was mich allerdings schon in frühester Jugend etwas irritierte. Nicht dass ich ihn nicht mochte, nein, ganz im Gegenteil. Aber der Mann meiner Halbtante erhielt den gleichen Titel wie mein Onkel. Also der richtige jetzt. Weil Vollbruder meiner Mutter. Das wollte mir nicht so recht in den Kopf. Was die Sache allerdings noch komplizierter machte, war: Die beiden bekamen Kinder.

Was sind denn nun diese Kinder meiner Halbtante für mich? Cousins und Cousine, genauer gesagt: Halbcousins und Halbcousine? Aber das gibt es eigentlich nicht. Zumindest nicht offiziell. Soweit ich weiß. Was ich aber weiß: Es sind nicht Cousins und Cousine 2. Grades. Denn die, siehe oben, müssten ja Enkelkinder einer Schwester oder eines Bruders meiner Großmutter sein. Da gibt es auch ein paar in unserer Mischpoke, aber die tun hier besser nichts zur Sache – das würde denn doch zu weit führen.

Mein Vetter also, um an ihm einmal mein Problem zu verdeutlichen, ist nicht mein Vetter 2. Grades, weil wir ja, wie gesehen, zwar die gleiche Großmutter, aber dummerweise nicht den gleichen Großvater haben, was der verwandtschaftlichen Beziehung einen eindeutigen Status geben würde. Ist er dennoch mein Vetter, also ein richtiger? Oder eben nur ein halber, weil Sohn der Halbschwester meiner Mutter, somit so was wie ihr Halbneffe? Oder etwa gar nichts dergleichen?

Die Sache wird nicht einfacher: Ich habe Kinder, er hat Kinder. Was sind die nun für mich und, vice versa, sie für ihn? Nichte und Neffe zweiten Grades ja nicht, denn dafür müsste mein Vetter (Halbvetter) und ich ja wie gesagt dieselben Großeltern mütterlicher- resp. väterlicherseits haben. Haben wir aber nicht. Ergo sind sie’s nicht. Aber was sind sie dann? Und was sind wir jeweils für sie, so über Kreuz? Und was ist, wenn die mal heiraten und womöglich Kinder bekommen? Haben die dann auch irgendeinen verwandtschaftlichen Titel, den ich wieder nicht kenne? Und was bin ich dann? Schwipphalbgroßvetter mütterlicherseits?

Brechen wir die Sache an dieser Stelle einmal ab, das führt doch eh zu nichts. Schauen wir uns stattdessen mal meine andere Großmutter an. Also die väterlicherseits. Die hatte, wie gewöhnlich, einen leiblichen Vater und eine leibliche Mutter. Dazu noch, das sei aber hier wirklich nur am Rande erwähnt, zehn Geschwister. Durchaus üblich zu ihrer Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts.

Meine leibliche Urgroßmutter starb und mein Urgroßvater heiratete erneut. Nichts Ungewöhnliches eigentlich. Meine Großmutter war demnach kurzzeitig Halbwaise, bevor sie von ihrem Vater mit einer Stiefmutter versorgt wurde. Nun trug es sich aber tragischerweise zu, dass auch ihr leiblicher Vater vorzeitig dahinschied, meine Großmutter also erneut Halbwaise wurde (oder war sie dann doch irgendwie Vollwaise?).

Statt sich mit dem Stand einer mehr oder minder lustigen Witwe zu begnügen heiratete meine Stiefurgroßmutter väterlicherseits ihrerseits wieder. Wodurch meine Großmutter schon in frühester Jugend in den für ein Kind doch äußerst verstörenden Stand versetzt wurde, am Ende über ein runderneuertes Paar Eltern zu verfügen. Da kann man, unter familientherapeutischen Gesichtspunkten, ja fast schon von Glück reden, dass der 1. Weltkrieg über sie hereinbrach, so dass sie dann, wie ich weiß, andere Sorgen hatte, die sie von diesen traumatischen Verhältnissen ablenkten.

Verwirrend finden Sie? Pah! Das ist doch Pillipalla. Schnickschnack. Kinderkram. Nehmen wir mal Mick Jagger. Nur so als Beispiel. Der ist jetzt, mit gestandenen 72, noch mal Vater geworden. Zum achten Mal. Zumindest, was die Anzahl anerkannter Kinder betrifft. Nun aber ist der virile alte Herr nicht nur mehrfacher Vater. Nein, nein: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm des notgeilen Zausels. Soll heißen: Auch seine Nachkommen waren seit jeher in besagter Beziehung recht fleißig. Was dazu geführt hat, dass Sir Michael Philip Jagger nicht nur bereits Großvater ist, nein, seine liebliche Enkelin Assisi (genau: wie Franz, der Vogelflüsterer) hat ihm schon vor Jahren ein noch lieblicheres Urenkelkindchen geschenkt.

So weit, so gut. Um aber einmal zu meinem persönlichen Problem zurückzukommen, das ich eingangs geschildert habe: 

Kann mir bitte einmal jemand verraten, wie denn nun die verwandtschaftliche Beziehung jenes Urenkelwonneproppens zu dem des neuesten dicklippigen Erdenbürgers aus jaggerscher Produktion lautet? Halburgroßvetter zweiten Grades väterlicherseits vielleicht? Ernstgemeinte Zuschriften erbeten an: stefan.oehm@betriebsbereit.de

Dienstag, 2. August 2016


Braunau bleibt Braunau


In Österreich wird gerade recht lebhaft darüber diskutiert, was denn nun mit dem, vermutlichen, Geburtshaus des Gröfazkes geschehen soll. „Enteignung“ und „Abriss“ fordern die einen – es soll damit „die dauerhafte Unterbindung der Pflege, Förderung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts oder eines bejahenden Gedenkens an den Nationalsozialismus“ gewährleistet werden.

Sehr löblich. Zumal in Österreich. Aber lebensfern. Falls Sie Ihr Herz nicht am rechten Fleck haben sollten: Hand auf eben dieses – welcher hartgesottene Antisemit stellt schon seine Wallfahrt ein, nur weil sein Wallfahrtsort dem Erdboden gleich gemacht wurde?

Auf der anderen Seite stehen die, die den Abriss vehement ablehnen und stattdessen aus dem Geburtshaus ein Museum machen wollen. Etwas von „pädagogischem Wert“. Ein ebenso löblicher Gedanke. Zumal, ich wiederhole mich gerne, in Österreich. Es kann gar nicht genug über den Nationalsozialismus, über Ursachen, Hinter- und Beweggründe, über aktuelle Wiedergänger und Ewiggestrige aufgeklärt werden. Auch wenn’s dem einen oder anderen vielleicht schon aus den Ohren rauskommen mag: macht nichts. Schon Ende der 40er, Anfang der 50er gab’s reichlich Stimmen, die das raunten. Ob sie nun unfähig waren zu trauern oder aber unwillig aus heimlicher Affinität – wer weiß?

Das Geburtshaus bleibt jedenfalls das Geburtshaus. Zumindest für die, um die es hier eigentlich geht. Naiv wer glaubt, ein Museum an gleicher Stelle würde die Pilgerströme der neuen braunen Welle aufhalten oder nur ansatzweise eindämmen können. Da kann man machen, was man will: Es ist völlig schnuppe. Die, die pilgern wollen, pilgern. Ob nun zum Museum. Oder zur Brachfläche. Was schon im Namen – von wegen Schall und Rauch! – des Ortes, an dem sich das unselige Gebäude befindet, begründet scheint: Braunau.

Selbstredend musste das zur Pilgerstätte für erklärte Herrenmenschen verkommen. Aber vielleicht liegt hier ja auch eine kleine, hinterfotzige Chance: Welcher selbsternannte Arier würde denn schon inmitten seiner Spießgesellen damit prahlen wollen, dass er demnächst zu des Führers Geburtshaus aufbrechen werde – nach Lilau, Rosau oder gar Himmelblau?

Lächerlich? Vielleicht. Vielleicht wär’s aber grad deshalb einen Versuch wert...

Montag, 1. August 2016


Der wahre Grund des Verbots


In der Türkei, wo gerade auf Basis des verhängten Ausnahmezustandes per Dekret und unter massiver Einschränkung der Grundrechte „zum Schutze der Bevölkerung“ mit harter Hand regiert und zehntausende unliebsame Intellektuelle, Journalisten wie Akademiker, aber auch Militärs, Staatsanwälte und Richter ohne hinreichend begründeten Anfangsverdacht inhaftiert werden, ist die Staatsmacht empört. Und geriert sich, ausgerechnet, als Hüterin der Demokratie, der Meinungsfreiheit und des Menschenrechts.

Was ist geschehen? Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Nordrhein-Westfalen hatte entschieden, dass bei der Großdemonstration in Köln keine Redner wie der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan zugeschaltet werden dürfen. In einem Eilverfahren, angestrengt von der „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“, lehnte das Bundesverfassungsgericht am Samstagabend aus formalen Gründen einstimmig den Antrag der Veranstalter gegen die Entscheidung des OVG ab.

Die Vollmacht der Rechtsvertreter der Veranstalter, so der Tagesspiegel, „entspreche nicht den gesetzlichen Erfordernissen ... Im Übrigen hätte eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Es sei nicht ersichtlich, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen Grundrechte der Demo-Veranstalter verletzt hätten“. (Az.: 1 BvQ 29/16)

Es ist das gute Recht jedes Einzelnen, sich über Entscheidungen eines Gerichtes zu ärgern. Selbst über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Auch öffentlich, wenn’s sein muss. Und das übrigens, ohne Gefahr für Leib und Seele befürchten zu müssen. Ja – es dürfen sich sogar ausländische Regierungen füglich darüber ärgern, ohne dass es gleich einen landesweiten Aufschrei gibt, bei dem eine solche Verlautbarung als Eingriff in die inneren Angelegenheiten empört zurückgewiesen wird.

Nun geht aber der Ärger der türkischen Regierung über das Verbot einer Zuschaltung durch das oberste zuständige deutsche Gericht weit über das nach internationalen, insbesondere diplomatischen Gepflogenheiten gebotene Maß hinaus: Die türkische Regierung zitierte den Geschäftsträger der deutschen Botschaft ins Außenministerium.

Der türkische Justizminister Bekir Bozdag twitterte am Sonntagabend, das Verbot der Übertragung sei auf "widerrechtliche und unhöfliche Art" erfolgt. Die Entscheidung sei eine "Schande" für Demokratie und Recht. Von Stund’ an sei es völlig inakzeptabel, „wenn Deutschland gegenüber der Türkei die Begriffe Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte und Freiheit auch nur in den Mund“ nimmt. Ebenfalls auf Twitter
bezeichnete der türkische EU-Minister Ömer Celik das Verbot als "Abweichung von der Meinungsfreiheit und Demokratie".

Angereist war der türkische Sportminister Akif Cagatay Kilic. Er sagte in seiner Rede, so die Rheinische Post, man sei mit mehreren Ministerien in Deutschland im Gespräch über das Verbot der Erdogan-Rede und erwarte eine "vernünftige Erklärung, warum das verweigert wurde". Und Erdogans Sprecher fragte sich, „was der wahre Grund“ dafür sei.

In der Tat, es gibt eine vernünftige Erklärung, einen wahren Grund. Und der besteht darin, dass nur der eine solche Frage stellen kann, dem das grundlegende Prinzip der Gewaltenteilung in einem demokratischen Rechtsstaat nicht gänzlich vertraut ist: Dass jede der drei Gewalten unabhängig voneinander agiert und sich eine direktive Einflussnahme der Gewalten untereinander grundsätzlich verbietet. Etwas, was gerade in Polen in Vergessenheit gerät. Ebenso in Ungarn. Aber auch in der Türkei.

Der Umstand, dass führende Politiker mit diesem grundlegenden Prinzip nicht vertraut sind, liegt wohl darin begründet, dass sie es nicht als ein solches ansehen. Gerade nicht in Zeiten wie diesen. Denn für sie ist es ganz selbstverständlich, dass eine direkte Einflussnahme der Politik auf die Justiz nicht allein denkbar, sondern gang und gäbe ist. Einfach unvorstellbar, dass bei dem Verbot der Staat seine Finger nicht mit im Spiel hatte – sie schließen da schlicht von sich auf andere. Und fordern, in ihrem Denkmuster ganz folgerichtig, als vernünftige Erklärung genau das ab, was für sie die vernünftigste, weil nächstliegende Erklärung ist: Dass der deutsche Staat eben das tut, was in der Türkei gerade landauf, landab erfolgt – dass alle Gerichte ihre Weisungen vom Staat erhalten.

Man kann den Herren Kilic, Cavusoglu und Bosdag ebenso wenig einen Vorwurf machen wie den Herren Orban, Kaczynski oder Putin: Sie verhalten sich so, wie sich veritable Autokraten nun einmal verhalten – sie nehmen sich Rechte heraus, die sie anderen vorenthalten. Und stellen Regeln auf, die für alle gelten. Nur nicht für sie.

Es liegt allein an uns, sie in die Schranken zu weisen. Höflich, aber bestimmt. Und mit wilder Entschlossenheit, uns ihre Regeln nicht oktroyieren zu lassen.