Mittwoch, 11. Mai 2016


Die Befremdlichkeit gegenläufiger Zeitströmungen


Die Zeichen stehen auf Aufbruch. Ein Aufbruch in neue Zeiten. Auch wenn es reichlich Stimmen gibt, die vor Missbrauch und Vereinnahmung, vor Verlust jeglicher Privatheit und informationellen Selbstbestimmung, vor totaler Überwachung, Majority Reports und der Datensammelwut staatlicher Institutionen und GAFA – Google, Apple, Facebook und Amazon – warnen:

Wir befinden uns heute an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution. Die
Digitale Transformation erfasst alle Bereiche der Wirtschaft. Big Data, immense Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen, werden gesammelt, zu Smart Data verknüpft und verarbeitet. Smart Services entstehen. Ebenso smarte Fabriken, in denen Produkte ihre Herstellung weitgehend selbst steuern. Mit dem Verbraucher kommunizieren. Und detaillierte Herstellungsnachweise einschließlich vollständiger Umweltbilanz liefern.

Es herrscht eine fast schon euphorische Begeisterung für die Möglichkeiten, die sich uns dabei eröffnen. Die Digitalisierung wird unseren Lebensalltag, unsere Gesellschaft, unsere Arbeits-, Denk- und Verhaltensstrukturen unweigerlich und radikal verändern. Angesichts dieser verwirrend schnellen Entwicklung, die einen fast atemlos macht und einem beständig das Gefühl vermittelt, zu spät zu kommen, weiß zur Zeit noch niemand so recht, wie es ausgehen wird: „Schöne neue Welt“ oder schöne neue Welt?

Eine magische Anziehungskraft geht von ihr aus, der digitale Hype hat geradezu massensuggestives Potenzial. Dabei greift vielerorts eine unreflektierte, unkritische Begeisterung für das jeweils Neue und Nächste um sich, die bei einigen Jüngern des Silicon Valley fast schon esoterische Züge einer zukunftshörigen Sekte annimmt, bestimmt von den Hohepriestern des digitalen Zeitalters. Umgekehrt lässt sie das jeweils Letzte oftmals als das ewig Gestrige erscheinen. Das Vergangene ist vergessen, was allein zählt, ist das Kommende. Das weckt ungute Erinnerungen an das „Futuristische Manifest“. Filippo Marinetti proklamierte 1909 darin seinen unerschütterlichen Glauben an das Morgen, gänzlich reduziert auf den technologischen Fortschritt und seine grenzenlosen Möglichkeiten.

Ein solcher Glaube ist blind gegenüber allem anderen, völlig immun gegen kritische Stimmen. Er schweißt die Gläubigen fest zusammen, lässt im Digital Valley eine weltweite Gemeinschaft entstehen, die ihre eigenen Rituale, Symbole, Kulte, Mythen erschafft. „Der ganze soziale Körper wird von einer einzigen Bewegung belebt.“ So der Anthropologe Marcel Mauss. Und am Ende „gibt (es) keine Individuen mehr.“ Nur noch eine Masse, die ihre „mythisch-magischen Weltbilder“ (Renè Freund) als Wirklichkeit erlebt.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen stellt man derzeit mit einigem Befremden eine ebenso weltumspannende gegenläufige Bewegung fest. Es ist keine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die für Bloch eine der wesentlichen Kennzeichen der Moderne war. Denn hier zeigt sich nicht eine bloß reaktionäre, rückständige Haltung, hier zeigt sich eine explizit und aggressiv rückwärts orientierte Haltung. Eine, die uns in allen Bereichen, auf allen Ebenen, koste es, was es wolle, in die ehedem guten, alten Zeiten zurückkatapultieren will.

Die expansiven Kräfte des erzkonservativen, aggressiv-missionarisch agierenden Wahhabismus, einer ursprünglich sektiererischen Richtung des Islam, der seit dem 18. Jahrhundert eine unheilvolle, blutsbrüderische Liaison mit der Familie der Saud eingegangen ist. Die, vom Westen diplomatisch und militärisch nach allen Regeln der Kunst gefördert, ihrerseits diese archaisch anmutende Form des Islam nach allen Regeln der Kunst fördert.

Eine derart rückwärts orientierte Ausprägung einer nach Deutungshoheit strebenden Interpretation des Islam lässt sich strukturell aber auch anderenorts feststellen. So zeigt der Religionswissenschaftler F. W. Graf, dass sich dergleichen in den zahlreichen, nicht minder aggressiv expandierenden Christentümern abspielt. Und das durchaus nicht im Verborgenen, Kleinen, Randständigen. Sondern im Weltmaßstab, dennoch von uns kaum zur Kenntnis genommen.

Da sind die asketischen Pfingstchristen, die besonders in Brasilien, aber auch in Afrika mit ihrer protestantisch-kapitalistischen Ethik erfolgreich missionieren und unter massivem Einfluss konservativer religiöser Gruppen aus den USA stehen. Die nicht minder vom Heiligen Geist beseelten Evangelikalen, die in Deutschland zumindest schon einmal eine Familienministerin gestellt haben. Die Evangelicos in Nordamerika. Die kreationistische Internationale, die der Evolutionsbiologie ein ‚Intelligent Design’, kurz ID genanntes, allein von Gott inspiriertes Konzept entgegenhält.

Auch ist die zunehmende Kriminalisierung der Homosexualität nicht allein ein russisches Phänomen. Oder ein radikalislamisches. Es steht auch für die Weltanschauung der Pfingstchristler, so des ausgewiesenen Holocaust-Leugners Scott Lively, Präsident der "Abiding Truth Ministries" in Kalifornien. Seit 2009 ist er „aktiv an der ugandischen Kampagne gegen Schwule und Lesben beteiligt, greift in die Gesetzgebung ein und will die Todesstrafe für Homosexuelle verankern“. Weiter heißt es 2013 in einem Beitrag des Deutschlandfunks: „In Uganda, Kenia und anderen Ländern fürchten Homosexuelle mittlerweile um ihr Leben, etliche wurden bereits ermordet“. http://www.deutschlandfunk.de/beseelt-vom-heiligen-geist.724.de.html?dram:article_id=246998

So ist nicht allein das verstörende Islamverständnis der IS und Al-Kaida in manchen Weltgegenden zu einer tödlichen Bedrohung geworden, sondern auch das nicht minder verstörende ethische Verständnis mancher Christentümer.
Selbst das Judentum ist vor solch extremen Formen nicht gefeit. Hier sind es radikalreligiöse, ultraorthodoxe Gruppierungen, die Charedim, die einen ebenso absoluten Geltungsanspruch erheben und entsprechende Deutungshoheit selbst in Fragen des täglichen Lebens beanspruchen wie ihre strukturellen Vettern auf islamistischer oder christlicher Seite.

Als wäre das nicht schon genug der Rückschrittlichkeit, finden wir sie derzeit weltweit nicht nur im religiösen, sondern vermehrt auch im politischen Kontext. Die Türkei steht vor der Rückkehr zu einem streng islamisch orientierten, osmanischen Despotismus, der krakengleich selbst bis nach Deutschland übergreift. Die herrschende Regierung in Polen sehnt sich einen erzkatholisch aufgestellten Nationalstaat reinster ethnischer Prägung herbei. Russland feiert sich selbst betont martialisch in einem heroisch-patriotisch aufgeladenen Erinnerungskult. Ungarn wird sukzessive orbanisiert, Österreich läuft in Scharen zur rechtspopulistischen FPÖ, Frankreich zur rechtsextremen Front National über. Und auf den Philippinen wurde just Roberto Duterte zum Präsidenten gewählt, der ganz ungeniert damit droht, ein Todesschwadron aufzustellen und mit diktatorischen Mitteln regieren zu wollen.



Die Anhänger der AfD „nehmen eine überlieferte Lebensweise in Anspruch“, so Karen Krüger in einem Beitrag für die F.A.S. „Genauso machen es radikale Islamisten, gegen die ja die AfD nach eigenem Bekunden zu Feld ziehen will.“ Reaktionäre, nationalistische Bewegungen allenthalben in Europa, die sich von der EU wegbewegen hin zu einer ausgeprägt kleinbürgerlichen Nationalstaatlichkeit. Chauvinistische Reflexe und patriotische Parolen allüberall. Und selbst das Tabu der Unantastbarkeit der Grenzen ist heute obsolet. Was Putin im Großen vorexerzierte beeilte sich jetzt der Hofer Norbert, seines Zeichens FPÖ-Präsidentschaftskandidat, im Kleinen nachzukläffen, als er einer Wiedervereinigung Tirols das Wort redete.

Selbst Pep Guardiola scheint sich mehr für die Unabhängigkeit Kataloniens einzusetzen als für die Belange seines jeweiligen Arbeitsgebers. Dass Schottland im Fall eines Brexit bereit wäre, aus dem Vereinigten Königreich auszutreten, um in der EU zu bleiben, mutet da fast schon wie ein anachronistisches Paradox an. Eine historische Anekdote der skurrilen Art, kollidieren hier doch gleich zwei rückwärtsgewandte Strömungen miteinander.

Eugene Joseph Dionne, Kolumnist der renommierten ‚Washington Post’, konstatierte in seinem Buch „Why The Right Went Wrong“, dass die Tea Party ein Seniorenclub sei, der eine Rückkehr zu den gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Zuständen der 50er herbeisehnt. Wo alles noch seine Ordnung hatte. Wo jeder wusste, wo seine Stellung innerhalb der Gesellschaft war. Wo ‚weiß’ oben und ‚schwarz’ unten war. Wo ‚hetero’ gut und ‚homo’ schlecht war. Wo ‚America first’ und der Rest der Welt zweite Wahl war. Wen wundert’s da noch, dass Donald Trump erst die Grand Old Party im Sturm eroberte, dann God’s Own Country folgen lassen will und morgen am liebsten die ganze Welt?

Alle, so verschieden sie auch sein mögen, eint doch der Gedanke, den Karen Krüger für AfD und Islamisten gleichermaßen konstatierte: Sie glauben, „dass es Rückwärtsgewandtheit braucht, um vorwärtszugehen“. Ihr Idealbild ist der Einzelne, der in der Masse, im sozialen Körper aufgeht. Ein kollektiver Akt der Selbstaufgabe, den der Anthropologe Marcel Mauss bereits 1903 beschrieben hat.

Wir sind das Volk“. Diese völkische Beschwörungsformel der Deutschtümler ist so gesehen letztlich, wie das „America first“ eines Donald Trump, nichts anderes als ein Rückgriff auf stammesgeschichtliche Riten, „die das Gewünschte heraufbeschwören, statuieren oder befehlen“ soll. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski sah darin einen der Ursprünge der Magie. Die Auserwählten werden in einem quasi okkulten Akt Teil einer Solidargemeinschaft – und alle anderen werden demonstrativ ausgrenzt.

Damit einher geht ein befriedigendes Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung in orientierungsloser Zeit. Es immunisiert zuverlässig gegen alle rationalen Argumente. So wird eine objektiv irreale Bedrohung subjektiv als reale Bedrohung empfunden, die subjektive Wahrnehmung wird zur objektiven Realität.

In dem Momentum des Magischen liegt eine nicht minder befremdliche Schnittmenge dieser so befremdlich gegenläufigen Zeitströmungen, der Fortschrittsgläubigkeit und der „Revolution des bewussten Rückschritts(Renè Freund). Der Sehnsucht nach einer klaren Ordnung, die eines eigenen Standpunktes nicht mehr bedarf. Nur eines Idols. Abgotts. Führers.

Hier Big Data, da Big Daddy.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen