Donnerstag, 26. Mai 2016


Autoritätsgebundenheit als konstitutives Moment
der Waldorfpädagogik

 
Haltet die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern!  Eine solche Schlagzeile klingt im Zeitalter der vierten industriellen Revolution und digitalen Transformation unserer Gesellschaft ein wenig anachronistisch. Schrullig vielleicht. Weltfremd. Naiv. Aber mehr auch nicht. Könnte man meinen.

Formuliert hat diese Aufforderung kürzlich einer der exponierten Vertreter der Waldorf-Pädagogik,
Henning Kullak-Ublick. Immerhin: Vorstand des Bund der freien Waldorfschulen, der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung, Gründungsmitglied der Grünen sowie von „Mehr Demokratie“.

Für ihn stellt sich
pädagogisch die Frage, welche Fähigkeiten ein Jugendlicher entwickeln muss, um mit der Technik so frei umgehen zu können, dass er sie sinnvoll einsetzen kann, ohne sich komplett von ihr okkupieren zu lassen“. Die grundsätzliche Herausforderung besteht darin, so Kullak-Ublick, „dass die Kinder als unerlässliche Basis der zu erwerbenden Medienmündigkeit im Lauf einer jahrelangen Entwicklung ihre leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen ausbilden müssen“.
 
Sie sollen „in ihren ersten Lebensjahren vor allem Erfahrungen außerhalb technisch gestützter Medien sammeln“, denn, so seine doch recht verblüffende Argumentation, ihrespätere Medienkompetenz wurzelt in frühkindlicher Medienabstinenz.“ Nur wer als Kind den Geräten fernbleibt, wird später mit ihnen gut umgehen.“ Darauf muss man erst mal kommen.

Die Medien lösen nach Ansicht von Kullak-Ublick die Dinge aus ihrem Gesamtzusammenhang, so dass „diese dadurch ihren Bezug zum Ganzen des Lebens verlieren“. Um aber Nachrichten adäquat erfassen zu können, „bedarf es der Fähigkeit, Zusammenhänge selbst zu erkennen, Wissen aktiv zu beschaffen und die Qualität einer Quelle zu erkennen“. Dazu ist ein Kind bis zum 12. Lebensjahr, wie er meint, prinzipiell nicht fähig. Weshalb man es auch prinzipiell von allen digitalen Medien fernzuhalten hat:
 
Beim Thema Computer geht es in der Waldorfpädagogik darum, dass dem selbstständigen Umgang mit dem PC die Bildung eines eigenständigen Urteils vorausgehen sollte. Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen.“

Man könnte nun leicht versucht sein, auf diese Ausführungen auf Basis des aktuellen Forschungsstands der Kognitionswissenschaft zu antworten. Viel interessanter, weil beredter ist es jedoch, sich einmal genauer die philosophisch-pädagogische Blaupause anzuschauen, auf deren Grundlage
Kullak-Ublick argumentiert: Rudolf Steiners Lehre der drei Entwicklungsphasen, die der Mensch in seiner Adoleszenz durchläuft – vom Primat des Wollens über das des Fühlens zu dem des Denkens.

Rudolf Steiner war bis 1913 einer der führenden Köpfe der Theosophischen Gesellschaft, eine von unzähligen mystisch-okkulten Strömungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Wie die meisten dieser auf gnostische, buddhistische und altindisch-vedische Elemente zurückgreifenden, eklektizistischen Lehren zeichnete auch die Theosophie nicht allein ein ausgesprochen esoterisches Weltbild, sondern auch der unerschütterliche „Glaube an die bedingungslose Macht eines Führers“ (Renè Freund) aus – daran änderte sich auch nichts, als Rudolf Steiner die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft in die Anthroposophische Gesellschaft überführte.

Für Steiner war das Wollen die erste Äußerung der Seelentätigkeit des Menschen. Die, älter geworden, dann zum Fühlen wird. Und schließlich zum Denken. Dieses ‚Denken’  ist keine rein subjektive Tätigkeit. Es ist Teilhabe am Weltganzen. Dadurch ist der Mensch „Träger einer Tätigkeit, die von einer höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt“, durch sie ist er mit dem Kosmos zu einem Ganzen in eins gesetzt: Das Individuelle hat sich ehrfürchtig diesem ewigen, allgemeinen Prinzip unterzuordnen, seine absolute Autorität anzuerkennen.

Die Gemeinschaft der Menschen besteht durch den ideellen Teil, durch „die Einigkeit der Ideenwelt“ und damit des Weltganzen. „Der freie Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die aus dem Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt sind.“ Unsere Individualität konstituiert sich demnach daraus, dass jeder „aus der gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen empfängt“.

Wohlgemerkt: von außen empfängt, nicht aus sich selbst heraus hat. Eine freie Handlung eines freien Geistes ist eine, die dieser empfangenden, passivischen Intuition entspringt, die sich aus der allen Menschen gemeinsamen, kosmischen Ideenwelt speist: Die Ideenwelt als präexistente, unveränderliche, übermenschliche Konstante, deren Teilhabe als ‚Freiheit’ und Ausdruck der Individualität apostrophiert wird – welch perfider Determinismus und Antiindividualismus, der sich hier Bahn bricht.

Dysfunktionalität ist Steiner nicht Quell der Kreativität und Erneuerung. Im Gegenteil: Sie schadet der Harmonie. Funktionalität ist ihm deshalb oberstes Gebot. Alles muss allem zuträglich und damit sinnvoll sein. Einem Zweck dienen. Und dieses Dienen dient einer Macht, von der Steiner sagt, dass wir nur frei werden, indem wir uns ihr ganz hingeben: Freiheit ist somit definiert als dienende Hingabe an das mythische Prinzip der Wiederholung, Wiederaufnahme, Wiedergeburt. Nicht aber als Freiheit von und Freiheit zu etwas.

Der Unterricht muss zwingend dem Dreischritt der kindlichen Entwicklungsphasen, der Lebensjahrsiebte, folgen: Wollen. Fühlen. Denken. Wobei, warum wohl?, diese Trias in allen aktuellen Schriften zur Waldorfpädagogik in zeitlich umgekehrter Reihenfolge zitiert wird: Denken, Fühlen, Wollen. Hier steht das Denken an erster Stelle, de facto aber an letzter Stelle.

Wie dem auch sei: Die zweite Phase, die des Fühlens und Empfindens, ist von besonderem Interesse. Ist sie doch die, auf die Henning Kullak-Ublick mit seiner Aufforderung ‚Haltet die Kinder bis zum 12. Lebensjahr von Computern fern!’ explizit Bezug nimmt.

„Bis zur Geschlechtsreife’“ sieht sich das Kind, so Steiner, noch nicht als Subjekt. Jetzt, wo das Körperliche langsam ins Geistige tritt, aber noch nicht wahrhaft des Denkens und der Reflexion fähig ist, bedarf das Kind einer verkörperten Moral. Einer personifizierten Autorität. Und was diese tut, „wird unter dem Autoritätsgefühl von dem Kind als das Richtige angesehen“.

Personifizierung und damit Stellvertreter dieser „natürlichen Autorität“ und Moral ist natürlich niemand anderes als der Erzieher selbst. Er ist derjenige, den das Kind als Autoritätsperson sucht, der, so heißt es heute noch in jeder Broschüre zur Waldorfpädagogik, „weiß, was richtig und was falsch ist“ und der in dem Kind ein Autoritätsgefühl zu entwickeln hat, dem es sich unterzuordnen hat. Gehorsam, ohne Widerspruch. Es soll unter Führung der absoluten Autorität auf Befehle zur Kultivierung des Tuns reagieren, es soll befolgen, nachahmen, repetieren, reproduzieren.

Bis etwa zum zweiten Lebensjahrsiebt, dem 14. Lebensjahr, haben die Kinder rein affirmativ zu lernen. Alles strebt zum Einverständnis, zur notorisch unkritischen Aufnahme und Wiedergabe – ein Konzept mit erschreckenden Parallelen zu den Koranschulen der Moscheen. Hier wie dort gilt das, was Abdel-Hakim Ourghi in einem aktuellen F.A.Z.-Artikel in Bezug auf eben jene Koranschulen als „Pädagogik der Unterwerfung“ bezeichnet:

Von den Schülern wird erwartet, dass sie die verkündigten Wahrheiten widerspruchslos akzeptieren. (...) Es geht nicht um ihren persönlichen Reifeprozess, sondern um die autoritative Vermittlung des religiösen Stoffs. Dieses Erziehungsmodell ist realitätsfern und entfremdet die Kinder ihrer Lebenswirklichkeit.

In dem, was der Erzieher vorgibt, haben die Kinder das zu sehen, was richtig ist. Wonach es sich zu streben lohnt. Sie haben sich in ihrem Handeln an die durch den Erzieher verkörperte absolute, natürliche Autorität zu halten. Unbedingt. Unreflektiert. Sie lernen so, bestehende Machtverhältnisse quasi als Gott gegeben zu akzeptieren, sie zu internalisieren, in alle Ewigkeit fortzuschreiben.

Die Urteilsfähigkeit steht Kindern aber erst vom ungefähr zwölften Lebensjahr an in einem Maße zur Verfügung, das ihnen erlaubt, selbst eine Kontextualisierung der Inhalte vorzunehmen“, so Henning Kullak-Ublick. Dies zeitigt den Eintritt in die dritte Phase, in der das Denken das Primat übernimmt. Der Mensch wird jetzt eigentlich erst zum Menschen. Er beginnt, sich als Subjekt zu fühlen. Und das bewusst zu verarbeiten, was in ihm als bis dato nicht recht des Denkens fähiges Wesen implementiert wurde.

Erst jetzt, wo ihm über Jahre hinweg die völlige Autoritätshörigkeit als gültiges Lebensprinzip ganzheitlich eingetrichtert wurde, wird er für fähig befunden, sich selber Urteile bilden zu können. An dieser Stelle bekommt die zuvor als etwas schrullig empfundene Argumentation von Kullak-Ublick ein ziemlich unangenehmes Geschmäckle. Sicherlich von ihm unbeabsichtigt, strukturell aber bereits deutlich in der Steinerschen Philosophie als Grundlage seiner Pädagogik angelegt:

Die pädagogisch verantwortete Fortschreibung der Autoritätsgebundenheit. Kann das, angesichts der reaktionären, radikal-populistischen und autoritär-religiösen Strömungen, die sich derzeit weltweit bräsig breit machen, im Sinne einer zeitgemäß aufgeklärt-aufklärerischen und egalitären Erziehung sein?  

Nein. Denn Erziehung“, so Theodor W. Adorno in seinem wegweisenden Aufsatz ‚Erziehung nach Auschwitz’, „ist sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion“ zu denken.

Die Ergebnisse der Studien „Die Mitte in der Krise“, die Decker/Weißmann/Kiess/ Brähler 2010 vorlegt haben, zeigen nachdrücklich, wie entscheidend es für den Bestand einer Demokratie ist, sich dieses Erziehungsideal tagtäglich immer wieder aufs Neue vor Augen zu halten und alle pädagogischen Maßnahmen danach auszurichten. Die Menschen müssen, so die Autoren, im Alltag Demokratie erfahren, „indem sie z.B. vom Kindergarten bis zum Arbeitsplatz mehr in Entscheidungen einbezogen und sich dann auch nicht mehr als Gelenkte und Gesteuerte empfinden“.

Diese Langzeit-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung legten offen, „welch erschreckend hohe Zustimmung rechtsextreme, fremdenfeindliche, antisemitische und menschenfeindliche Aussagen 60 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus in Deutschland erfahren“. So ist „das zentrale Ergebnis der Studie ‚Vom Rand zur Mitte’“ (2006), dass sich verfestigte rechtsextreme Einstellungen nicht nur am Rand der Gesellschaft, sondern auch in deren ‚Mitte’ finden“. Wie gesagt: Das waren die  Ergebnisse von 2006. Wie würden sie wohl heute, 2016, nach dem vermeintlich apokalyptischen ‚Migrationstsumani’ muslimischer Ethnien ausfallen? Nicht auszudenken.

Verfestigte rechtsextreme Einstellungen ausgerechnet in eben jener Mitte, die sowohl CDU als auch SPD als ihre Kernwählerschaft zu definieren versuchen? Eben die Bevölkerungsgruppe, die eine hohe Affinität zu pädagogischen Modellen wie die der Waldorf-Schule besitzt?

Die Sozialisation, „der mit der Kindheit beginnende, aber nicht endende Prozess des Hineinwachsens in die Gesellschaft“, ist ganz wesentlich für die Entwicklung einer demokratischen Einstellung verantwortlich. So lautete bereits in den 1930er Jahren das Ergebnis der „Autoritätsstudien, die im Umfeld des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung entstanden sind“.

Die Ausbildung der Individualität ist untrennbar mit der Vermittlung der Normen und Rollenerwartungen zu verstehen.“ In diesem Prozess wird dem Menschen von Kindheit an vermittelt, wer er ist und wer er zu sein hat. An diesen Normvorstellungen hat das Individuum seine Handlungen zu orientieren – Freud nannte es das „Über-Ich“, das Gewissen, das zur immanenten, immerwährenden Kontrollinstanz ausgebaut wird.

Die „Vergesellschaftung in eine autoritär strukturierte Gesellschaft“ findet, das war Herbert Marcuse schon 1963 klar, nicht allein in der Familie statt, sondern im Freundeskreis und „unmittelbar durch Massenmedien, Schul- und Sportgruppen“.

Konstitutives Moment einer solchen Sozialisation ist immer Gewalt. Wobei es sich dabei durchaus nicht um plumpe körperliche Gewalt handeln muss. Viel effektiver ist oftmals subtiler psychischer Druck, der ein nicht minder großes Gewaltpotenzial besitzt. So ist es in der Philosophie und Pädagogik Steinerscher Prägung gerade nicht die körperliche Gewalt, sondern eher eine sanfte, fast liebevoll anmutende, aber nicht minder nachdrücklich angestrebte Unterwerfung unter eine quasi gottgegebene Autorität und ebensolche Ordnung.

Auch eine solcherart konstituierte Autoritätshörigkeit kann, sicher nicht intendiert, aber eben strukturell inhärent, zu einer Autoritätsidentifizierung führen. Und damit zum Wunsch, diese Autorität gegenüber Anderen, Ausgegrenzten, Schwächeren, Fremden, Feinden in einer Art sozialen Übersprungshandlung auszuspielen: Aus der Unterwerfung unter eine Autorität erwächst die Lust zur autoritativen Aggression. Wobei sich auch diese Aggression nicht zwingend körperlich äußern muss, sondern einen ebenso sanft anmutenden Charakter wie die ehedem erfolgte pädagogische Einflussnahme besitzen kann.

In diesem die bestehenden Machtverhältnisse immer wieder aufs Neue reproduzierenden Modell, unkritisch und unreflektiert in die pädagogische Realität verfrachtet, schlummert demnach in der Mitte unserer Gesellschaft ein gewaltiges Potenzial antidemokratischer Sozialisation, das beizeiten hervorbrechen kann.

Ein weiteres Phänomen einer solcher Autoritätshörigkeit und -identifizierung ähnelt der Sublimierung. So hatte Marcuse, darauf weisen Autoren der Studie hin, erkannt, dass eine absolut gesetzte Autorität im Laufe der Sozialisation eines Menschen in den verschiedensten Erscheinungsformen auftreten kann:

Er war der Ansicht, dass die Identifikation mit dem Führer in einer autoritären Gesellschaft durch etwas Abstrakteres – Nationalstolz, starke D-Mark oder Kapitalismus – ersetzt werden kann.“

Konsum als Alltagsreligion, wirtschaftlicher Wohlstand als Himmelreich auf Erden. Sie haben das Potenzial eines „gemeinsamen Ideals Vieler“, sie können also solch ein Ersatz oder Substitut der Autorität, mithin eine abstrakte Autorität sein, mit der wir uns identifizieren. Die wir aggressiv zu verteidigen suchen, wenn ein Verlust, ein Liebesentzug des Marktes droht: Abwärtsbewegungen des sozialen Status, wenn auch nur als Teufel an die Wand gemalt, beeinflussen massiv die politische Einstellung des Einzelnen.

Durch eine solche Bedrohung, selbst wenn sie objektiv nicht gegeben sein sollte und nur subjektiv empfunden wird, sind wir, durch unsere Identifikation mit der abstrakten Autorität, die in Gefahr zu sein scheint, selber in Gefahr.

Dies bringt, darauf weisen die Autoren nachdrücklich hin, „den viel belegten Zusammenhang von ökonomischer Lage und politischer Einstellung noch einmal von einer ganz anderen Seite in die Diskussion. Hier ist ein Grund dafür zu suchen, dass die gesellschaftliche Mitte in Zeiten der Krise auch immer eine Mitte in der Krise ist.

Der Soziologe Theodor Geiger hat bereits 1930 darauf aufmerksam gemacht, dass die Angst des Mittelstands vor einem sozialen Abstieg, ob nun begründet oder nicht, Ursache einer „ideologischen Verwirrung“ sein kann. So damals geschehen bei „der panikartigen Wählerwanderung einer Mittelschicht“ von den bürgerlichen Parteien hin zur NSDAP. So heute strukturell analog wieder bei den Wählerwanderungen zu den rechtspopulistischen bis reaktionären Parteien a la AfD, FPÖ und Front National zu beobachten.

Deutschland geht es so gut wie nie“ konstatiert in einem aktuellen Beitrag für die F.A.S. der Soziologe Heinz Bude. Aber dennoch es ist so, „dass jeder Dritte sich abgehängt fühlt“. Dazu gehören nicht zuletzt „die Verbitterten der deutschen Wohlstandsmitte“. Sie sind gebildet, finanziell abgesichert, sozial etabliert – aber ausgestattet mit einem ausgeprägten „Degradierungserleben“.

Wohin solche Empfindungen, solch ein Fühlen und Erleben in letzter Konsequenz führen können, zeigt eindringlich das Ergebnis einer Befragung von Decker, Kiess, Brähler aus dem Jahr 2008:

Die antidemokratische Einstellung ist in Deutschland nicht gering ausgeprägt. Die höchsten Zustimmungen erfährt die Befürwortung einer Diktatur mit einer völkischen Begründung. Die Fiktion eines Volkes als Schicksalsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Interesse, das von einer Partei verfolgt wird, findet Zustimmung bei gut einem Viertel der Deutschen. Einen Führer wünscht sich immerhin noch mehr als jeder zehnte Deutsche.

Das Volk als Schicksalsgemeinschaft. Als Masse. Gleichgeschaltetes kollektives Subjekt. Dieser unsägliche Pluralis Majestatis: ‚Wir’. Hinlänglich bekannt aus autoritärer Sozialisation nationalsozialistischer, stalinistischer, maoistischer, aber durchaus auch evangelikaler oder radikalislamischer Prägung. Bei der man, auch sprachlich, heute wieder Anleihen nimmt, wenn die wabernde Masse „Wir sind das Volk“ krakelt. Und gleichzeitig „Ihr seid der Abschaum“ meint. Chauvinistische Selbstaufwertung geht nun mal immer mit Fremdabwertung einher.

Das wahrhaft Bedrohliche ist, dass die ökonomische Realität gerade auf dem besten Wege ist, die absurdesten irrationalen Empfindungen zu bestätigen. Unlängst erst hat der Ökonom Thomas Piketty nachweisen können, dass die Schere der Einkommen weltweit eklatant weit und immer weiter auseinander geht, die Gruppe der mittleren Einkommen zunehmend kleiner wird. Und damit die Angst des Mittelstands vor sozialem Abstieg mittlerweile durchaus begründet ist. Wenn auch aufgrund gänzlich anderer Ursachen, Stichwort ‚Migrationstsunami’, als von ihm befürchtet.

Die Reichen hängen also de facto die Mittelschicht, die, gerade in Krisenzeiten, die derzeit fast alle Industrieländer durchmachen, zudem immer weiter schrumpft, schlichtweg ab. Wer hat, dem wird gegeben. Diese Plattitüde erweist sich leider immer öfter als objektiv zutreffende Zustandsbeschreibung.

Das Phänomen „Rechtsextremismus“ ist, so resümieren die Autoren der Studie, kein Phänomen der Rechten – es ist ein Phänomen, das in der Mitte unserer Gesellschaft verankert und „in allen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet“ ist: „Die Bedrohung der Demokratie ist nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu verstehen.“ Geht es dem Mittelstand nicht nur subjektiv, sondern objektiv schlechter, sucht er sich schneller und radikaler seine Ventile, als einem lieb sein kann. Was schon Ralf Dahrendorf wusste: „Die Zerstörung der Demokratie ist ein Werk des Mittelstandes.

Die „autoritäre Unterwerfung“ ist, zumal in Zeiten der Krise, eine der wesentlichen Kriterien dafür, dass es zu einer antidemokratischen Einstellung und damit zu einer ganz und gar nicht mehr schleichenden, sondern zügigen Zerstörung der Demokratie kommen kann. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno warnen bereits 1952 in den Frankfurter Heften in ihrem Bericht „Vorurteil und Charakter“:

Diese Autoritätsgebundenheit bedeutet (...) die bedingungslose Anerkennung dessen, was ist und Macht hat und dem irrationalen Nachdruck auf konventionelle Werte (...) und entsprechend auf konventionelles, unkritisches Verhalten. (...) Man verhält sich unterwürfig zu den idealisierten moralischen Autoritäten der Gruppe (...), steht aber zugleich auf dem Sprung, den, der nicht dazugehört (...) zu verdammen.“

Der wirkmächtigste Schutzfaktor gegen antidemokratische, autoritäre Strukturen, Mechanismen und Einstellungen ist Bildung, Bildung, Bildung. Wenn Bildung aber selbst, wie im philosophisch-pädagogischen Kosmos des Rudolf Steiner, autoritär organisiert ist, zementiert sie diese Strukturen: Die Kinder haben sich mit der Autorität zu identifizieren. Was, wenn das nicht unterbunden wird, dazu führen kann, dass sie sich ihr autoritär strukturiertes Substitut suchen werden. Irgendwann. Irgendwo. Irgendwie.

Um das zu verhindern, könnte „eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer demokratischen Einstellung (...) sein, bereits in den pädagogischen Konzepten dafür zu sorgen, dass kindlichen Bedürfnissen ohne Unterwerfung unter eine Autorität Geltung verschafft wird.

Dem ist nichts hinzuzufügen.




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