Montag, 18. April 2016


Neues aus der Aggressionsforschung:
Erdogan vs. Böhmermann


§ 103 StGB. Ein recht antiquiert anmutender Paragraph zum Tatbestand der Majestätsbeleidigung. Vergessener Rest obrigkeitsstaatlicher Justiz, 1871 im deutschen Reich eingeführt. Er soll, so das heutige Rechtsverständnis, die „Ehre ausländischer Staaten als kollektives Rechtsgut“ und damit „allein das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an einem Mindestbestand funktionierender Beziehungen zu ausländischen Staaten“ schützen (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Wolfgang Wohlers/Walter Kargl, Strafgesetzbuch, 4. Auflage 2013, § 103 StGB, Rn.4).

Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob, wenn ein ausländische Staatsoberhaupt allein als Person und nicht als Vertreter eines ausländischen Staates beleidigt wird, überhaupt eine Strafbarkeit nach § 103 StGB vorliegt – die persönliche Beleidigung ist lediglich eine Strafbarkeit nach § 185 StGB.

Zudem handelt es sich bei § 103 StGB um einen Paragraphen, der ein Stück weit den grundgesetzlich verankerten Gleichheitsgrundsatz berührt. Denn die Strafandrohung für die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter wird hier weit höher angesetzt als die normal sterblicher Bürger: Alle Menschen sind gleich, aber ausländische Potentaten sind gleicher.

Auch muss bei diesem Relikt des reichsdeutschen Justizwesens die Frage erlaubt sein, ob der Grundsatz der Gewaltenteilung gewahrt wird, da hier, ein singulärer Fall im deutschen Strafrecht, die Regierung einer Strafverfolgung zustimmen muss. Sollte es nicht vielmehr so sein, dass der Exekutive, in guter rechtsstaatlicher Tradition, keine wie auch immer geartete Entscheidungshoheit über die Judikative zusteht?

Auch lässt sich nicht verhehlen, dass der türkische Staatspräsident sich ja hier nicht einfach nur auf sein gutes Recht beruft, sondern durch seine demonstrativ öffentliche Intervention ganz bewusst und gezielt in die inneren Angelegenheiten eines anderen, souveränen Staates einmischt. Etwas, was sich der Unsouverän vom Bosporus im umgekehrten Fall bereits bei deutlich nichtigeren Anlässen in unschöner Regelmäßigkeit ausdrücklich verbeten hat.

Wie auch immer man zu dem Niveau von Herrn Böhmermann im Allgemeinen und der Neo Magazin Royale Sendung vom 31. März im Besonderen stehen mag: Der möglicherweise justiziable Sachverhalt, um den es hier geht, ist die beleidigende Darstellung von Erdogan. Eine klassische Verbalinjurie. Mehr zunächst einmal nicht. In ihr sieht ein stellvertretender türkischer Ministerpräsident aber ein ‚schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit’. Wenn Ihnen der Wortlaut dieser Anklage irgendwie bekannt vorkommen sollte – er tauchte erstmals in den Nürnberger Prozessen auf.

Dort ging es um einen einzigartigen Sündenfall in der an Sündenfällen nicht armen Menschheitsgeschichte: den Holocaust. Die rassisch motivierte, systematische und geradezu industrielle Vernichtung menschlichen Lebens. Böhmermanns schnöde Majestätsbeleidigüng auf Augenhöhe mit der entmenschlichten Tötungsmaschinerie apokalyptischen Ausmaßes, dem genozidalen Furor der Nationalsozialisten? Naja.

Man sollte besagten türkischen Regierungsvertreter, der diese Aussage sicherlich im besten Einvernehmen mit seinem obersten Dienstherrn getätigt hat, in stiller Stunde einmal höflich zu verstehen geben, dass ihm da nicht nur die Verhältnismäßigkeiten arg durcheinander geraten sind – nein, mit diesem sprachlichen Lapsus hat er das unaussprechliche Leid der Millionen Juden, Roma und Sinti, die in den Gaskammern von Treblinka, Sobibor oder Birkenau ihr Leben ließen, auf das Niveau einer Verbalinjurie herabgezogen.

Es ist fast müßig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass Herr B. seine Schmähkritik, vorgetragen in einem deutschen Spartensender, kontextuell eingebettet hat: In einem pädagogisch-satirischen Exerzitium sollte Herrn E. vor Augen geführt werden, was „in Deutschland, in Europa ... von der Kunstfreiheit, von der Pressefreiheit, von der Meinungsfreiheit“ gedeckt ist. Und was eben nicht mehr. 

Justiziable „Schmähkritik“, eingehüllt in den Mantel der Satire. Ein Disclaimer als Stilmittel, um besagten Herrn E. als einer herausragenden Person der Zeitgeschichte die Freiheit – und auch ihre Grenzen – vor Augen zu führen, die in einer pluralistischen, rechtsstaatlichen, demokratischen Gesellschaft nicht nur Kunst und Presse, sondern jedem Bürger als Grundrecht zusteht. Ein Grundrecht, das mühsam errungen wurde. Und das es zu verteidigen gilt. Auch für die, deren Meinung man ganz und gar nicht teilt. Also im Zweifelsfalle auch für Herrn E. und seine Meinung.

Eine Rechtsnorm, die für alle modernen Zivilisationen verbindlich sein sollte. Für uns ebenso wie für Ungarn, Polen oder mögliche europäische Beitrittskandidaten.

Die Meinungen anderer auszuhalten, kann einem schwerfallen. Manchmal sogar sehr schwer. Das zeigt sich in diesen Tagen gerade wieder. Damit hat Erdogan, der sich in seiner selbstherrlichen Attitüde wie ein absolutistisch herrschender, osmanischer Sultan geriert, jedoch nichts am Hut. Nicht in seinem eigenen Land, wo er mittlerweile fast 2.000 Bürger mit Beleidigungsklagen überzogen hat. Aber auch nicht in Deutschland.

Ja – warum eigentlich nicht? Was kümmert es die großtürkische Eiche, wenn sich eine kleine deutsche Sau dran reibt? Warum hat sich weiland der altehrwürdige Ayatollah Khomeini, der entrückte Führer der Schiiten, auf das aus seiner Sicht nichtswürdige, erbärmliche Niveau eines Ungläubigen, auf Rudi Carrell herabgelassen?

Warum greift seine Majestät Recep Tayyip Erdogan bereits nach der Extra 3-Parodie zu einem der schärfsten diplomatischen Mittel, der Einbestellung des Botschafters? Und warum geht der große Erdogan gegen einen Kleinkünstler namens Böhmermann vor und verhilft ihm so zu weltweiter Bekanntheit? Erdogan vs. Böhmermann – welch anachronistische Differenz.

Eine ‚Beleidigung’ ist nach deutschem Strafrecht ein ‚Ehrdelikt’, das durch die Äußerung einer ehrenrührigen Behauptung begangen wird. Es ist ein Angriff auf die Ehre einer anderen Person, auf seine personale Würde und seinen legitimen Anspruch, seinem Wert als Mensch entsprechend behandelt zu werden.

Nur hat für uns in Deutschland die ‚Ehre’ heute eine etwas andere Konnotation als, zum Beispiel, in Südamerika, Albanien, Serbien oder eben der Türkei. Dabei geht es bei der ‚Ehre’ generell immer um zwei Seiten: Auf der einen Seite um mein ‚Selbst’, also meine Selbstachtung, mein Selbstwertgefühl und mein Selbstbild.

Auf der anderen Seite geht es um die Zuschreibung durch andere. Also um mein Außenbild. Um Gruppenzugehörigkeit. Anerkennung. Status. Und Prestige. Der Kassler Historiker Winfried Speitkamp weist darauf hin, so Andreas Frey in einem Artikel in der F.A.S., dass gerade eine Person, die „sich stark über eine Gruppenzugehörigkeit und das Außenbild definiert, ... besonders anfällig für Beleidigungen“ ist.

Bezeichnenderweise reagieren solche Personen, wenn sie bei ihrer Ehre gepackt werden, sehr aufgebracht, zeigen deutlich erhöhte Cortisol- und Testosteron-Werte, sind aggressiv und gewaltbereit. Nicht zufällig fällt das Phänomen Beleidigung in der Psychologie unter die Rubrik Aggressionsforschung“, wie Andreas Frey in seinem lesenswerten Artikel anmerkt.

Ein Apercu, der diese Auseinandersetzung mit einem mal in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.

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