Dienstag, 27. Dezember 2016


Was bedeutet Teilhabe für die Kunst?


Es gibt Sätze, die haben etwas Subversives. Man nimmt sie zwar wahr, aber nicht recht zur Kenntnis. Und doch bleiben sie haften. Unterschwellig. Entfalten ihre Wirkung schleichend, dafür aber umso nachhaltiger: Haben sie sich erst mal häuslich niedergelassen, bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf – was zuvor völlig selbstverständlich erschien, wird nun bis in alle Ewigkeit prinzipiell in Zweifel gezogen.

„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Das ist solch ein Satz. Zumindest für mich. Was Ludwig Wittgenstein mir damit angetan hat, kann ich, konsequenterweise, kaum in Worte fassen.

So ist es mir zum Beispiel nicht mehr möglich, ganz unbefangen einen Blick in ein Wörterbuch zu werfen, um die Bedeutung eines Wortes zu klären. Wenn ich nur daran denke, überfällt mich schon ein intellektueller Schüttelfrost, der sich bisweilen zu einem veritablen geistig-grippalen Infekt mausert: Was soll mir denn das Lexikon sagen, wenn doch jedes Wort, das ich suche, dort ungebraucht vorliegt?

Auch erweist sich mir im Gebrauch der Gebrauch der Wörter seit Lektüre dieses Satzes als derart vielfältig, dass ich nicht mehr den Hauch einer Chance sehe, ihre Bedeutungen, die sich aus dem Gebrauch ergeben, auch nur annähernd erfassen zu können – die Bedeutungen eines Wortes sind so zahlreich wie es „die Sprache und die Tätigkeiten (sind), mit denen sie verwoben ist“. Unendlich, um genau zu sein.

Da ist es nur folgerichtig, dass, wenn nun verschiedene ‚Sprachspiele’, wie Wittgenstein es nennt, aufeinandertreffen, das Missverständnis die Regel ist, nicht aber das Verständnis: Wenn zwei das gleiche Wort benutzen und meinen, sie würden damit auch das gleiche meinen, befinden sie sich von vornherein auf dem Holzweg.

Das gilt für den philosophischen Diskurs ebenso wie für das alltägliche Gespräch. Und, ganz aktuell, auch für die kulturpolitische Debatte, die derzeit in Düsseldorf geführt wird. Die dreht sich nämlich um einen Begriff, den zwar die Beteiligten immer wieder gebrauchen, von dem aber alle einen anderen Gebrauch zu machen scheinen: Teilhabe.

Die Demokratie stabilisieren

So versteht der Oberbürgermeister der Stadt unter Teilhabe die Möglichkeit der Menschen,
am zivilisierten bürgerlichen Leben“ teilzunehmen. Ist sie nicht gegeben, fühlen sich die Menschen in der Gesellschaft abgehängt. Ein Umstand, der, so OB Thomas Geisel in einem Interview mit der „Welt“, erst den „Aufstieg von Demagogen wie Donald Trump oder Marine Le Pen“ ermöglicht hat. 

Wie, wo und wann er diese demokratiestabilisierende Form der Teilhabe beispielhaft realisiert sieht, tut er in diesem Interview auch kund:
Für die Tour de France werden wir vielleicht vier Millionen Euro ausgeben und an diesem Ereignis können – umsonst und draußen – über eine Millionen Menschen teilhaben.“

Dieser Gebrauch des Wortes Teilhabe ist natürlich völlig legitim. Zumal die dort angesprochene Form von Teilhabe, wenn sie auch nicht immer ganz umsonst ist, doch Millionen begeistert. Das wird einem jeder Fußballfan landauf, landab mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen gerne bestätigen. Aber ob sich eine solch rein zuschauende Teilhabe an der Tour de France bereits als eine Teilhabe am „zivilisierten bürgerlichen Leben“ verstehen lässt oder ob sie gar ein probates Mittel darstellt, den Aufstieg der Trumps und Le Pens dieser Welt zu verhindern, sei einmal dahingestellt.

Das Bestreben, möglichst viele Menschen mit einem möglichst geringen finanziellen Aufwand zu erreichen, ist, aus rein haushaltspolitischer Sicht, sicherlich sehr löblich. Aber darf allein schon die projektierte Anzahl teilhabender Bürger als eines der wesentlichen Kriterien für die Förderungswürdigkeit kultureller Ereignisse definiert werden? Sollte man die Subvention rein kommerziell getriebener sportlicher Großevents mit der im Staatsvertrag festgeschriebenen Verpflichtung zur öffentlichen Förderung kultureller Ereignisse in einen Topf werfen? Ist die Verwendung des Begriffs Teilhabe auch bei lediglich passivem Konsum, insbesondere „niedrigschwelliger Angebote“, angemessen? Für Düsseldorfs OB scheint es auf all diese Fragen nur eine Antwort zu geben: Ja.

Vitale Kultur als Voraussetzung wirtschaftlichen Wohlstands

„Kultur ist, was uns definiert“, sie ist „Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität“. Insofern hat „Kunst nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert“ – einen kulturellen Wert. Darauf machte unlängst erst Kulturstaatsministerin Monika Grütters in einer bemerkenswerten Rede anlässlich einer Veranstaltung des Industrieclubs Düsseldorf aufmerksam: 

„Kultur schafft Werte jenseits der Maßstäbe ökonomischer Verwertbarkeit. Wo, wenn nicht in der Kultur, wird nach Antworten auf letzte Fragen gerungen, auf Fragen nach den Sinn stiftenden Kräften und Werten, die unsere Gesellschaft zusammen halten?

Dies zu ermöglichen, ist Aufgabe einer Kulturpolitik, die sich der Freiheit der Kultur und der Kunst verpflichtet fühlt. In Deutschland haben wir aus zwei deutschen Diktaturen in einem Jahrhundert eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie. Wir brauchen sie, die mutigen Künstler, die verwegenen Denker! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen. Die Freiheiten dieser Milieus zu schützen, ist oberster Grundsatz, ist vornehmste Pflicht verantwortungsvoller Kulturpolitik. Kunst, Kultur, Literatur dürfen, ja sie sollen und müssen zuweilen Zumutung sein. Deshalb müssen wir alles daran setzen, ihre Freiheiten und ihre ästhetische Vielfalt zu sichern. Die staatliche Fürsorge für die Kultur und ihre Freiheit, die mit dem Mut zum Experiment natürlich auch das Risiko des Scheiterns einschließt, hat immer wieder weltweit beachtete Leistungen hervorgebracht. Ich bin überzeugt: Dieses hartnäckige Engagement für die Kultur und die Künste hat entscheidenden Anteil am mittlerweile wieder hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. Kultur ist eben nicht das Ergebnis wirtschaftlichen Wohlstands; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein Standortfaktor, sondern auch und vor allem Ausdruck von Humanität. Sie ist der Modus unseres Zusammenlebens.“

Grütters schloss ihre Rede mit einem Appell an Düsseldorf, der durchaus als Appell an alle kommunal Verantwortlichen in Deutschland zu verstehen ist: „Geben Sie der Kultur in Ihrer Stadt so viel Raum wie nur möglich!“

Aktive Partizipation vs passiver Konsum  

Gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung von Kunst und Kultur als konstituierende und stabilisierende Kraft für eine offene, zivilisierte Gesellschaft, bekommt der erweiterte Gebrauch des Wortes Teilhabe eine Bedeutung, deren Dimension sich einem erst nach und nach eröffnet: Teilhabe bedeutet da nicht mehr passiver Konsum, sondern aktive Auseinandersetzung mit dem Werk – KünstlerInnen zwingen den Einzelnen durch ihre inspirierende Nötigung zur spontanen, selbstverantworteten Stellungnahme.

Somit wären es nicht Kunst und Kultur, die „Werte jenseits der Maßstäbe ökonomischer Verwertbarkeit“ schaffen – dank ihrer inspirierenden Kraft schaffen Kunst und Kultur diese Werte durch und mit uns: In einem steten Prozess der Rezeption und Inspiration konstituieren sich alle Beteiligten mit ‚unsichtbarer Hand’ (Adam Smith) gemeinsam ihre gemeinsamen kulturellen Werte, ihre gemeinsame Geschichte und Identität. Diese stellen sich somit, von niemandem beabsichtigt, als kollektives Resultat der individuellen Beiträge dar.

Dieses ungeplante und ungewollte synchrone Resultat ist im fortlaufenden diachronen Prozess der Rezeption und Inspiration in beständiger Entwicklung, Erneuerung und Wandlung begriffen. So wie es, was der Linguist Rudi Keller überzeugend dargelegt hat, auch in einer lebendigen Sprache geschieht. Eben in dieser Fähigkeit zeigt sich die Vitalität einer zivilisierten Gesellschaft – sie ist ein wesentlicher Ausweis ihrer Zukunftsfähigkeit. Und da ja, wie uns A. L. Kennedy jüngst ins Stammbuch geschrieben hat, die Kunst das Herz der Demokratie“ ist, ist folglich eine Demokratie umso gesünder je vitaler ihre Kunst ist.

Wird jedoch dieser Prozess nicht intensiv gefördert, kann die kollektive kulturelle Dynamik einer Gesellschaft zum Erliegen kommen. Im Extremfall würden zukünftig kaum noch kulturelle Werte neben ökonomischen Werten geschaffen und aufrechterhalten, die Logik der Ökonomisierung würde die absolute Herrschaft übernehmen.

Da sich aber die Menschen nach Werten jenseits der Verwertbarkeit und Messbarkeit, jenseits merkantiler Interessen und durchgängiger Kommerzialisierung, jenseits eines rein rational und funktional definierten Primats sehnen, macht sich in ihnen ein Gefühl des Defizits breit. Ein Defizit, das sich, wie wir es gerade weltweit in seinen verschiedensten Ausprägungen erleben, rasend schnell zu einem Vakuum auswachsen kann – dann ist die Stunde der Demagogen gekommen.

Vordringlichstes Ziel jeder staatlicher und kommunaler Behörden, aber auch jedes Einzelnen sollte es deshalb sein, diesen Prozess mit allen zur Verfügung stehenden Kräften in einem stetigen Fluss zu halten: Darin äußert sich unser aller gesellschaftliche Verantwortung und Verpflichtung.

Kunst lehrt uns Eigenverantwortung

Norbert Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet. Was mühsam ist, muss sie doch täglich in Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer zunehmend globalisierten, im Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.

Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern. 

Nun sind aber, so Elias, die ‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.

Dies, so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu anstrengend. Da ist es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss eines wie auch immer gearteten "Wir" zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, in dem es für alle verbindliche Werte gibt – im Zweifelsfalle vorgesetzt von einer totalitären Autorität, die mir, gleichsam im zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’ kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir als absolut und ewig bestehend erscheinen.

Kunst, die frei ist, kann jedoch einen Beitrag zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen: In der Teilhabe an ihr, der individuellen Rezeption, lernt der Mensch ein Stück weit Eigenverantwortlichkeit, indem er sich von ihr inspirieren lässt, selber zu denken. Stellung zu beziehen. Seine eigene Meinung zu äußern und zu begründen. Er lernt, nicht einer autokratischen Instanz zu gehorchen und geistig in vorgestanzten Rastern zu vagabundieren. Er lernt, Vertrauen in sich selbst zu haben und zu einer individuellen Entscheidungsfindung zu kommen, die nicht auf ein „Wir“ rekurriert, das ihm Halt, Sicherheit und Orientierung gibt. Sondern auf sein „Ich“, das durch seine Teilhabe an Kunst und Kultur aktiv zur Konstitution gemeinsamer kultureller Werte im sozialen Kontext beiträgt – zu einer Identität, die der Mensch aus sich selbst heraus mitentwickelt und die ihm eben nicht oktroyiert wird.

So gesehen stellt eine aktive Teilhabe an der Kunst fast schon so etwas wie einen pädagogischen Auftrag im Geiste Humboldts zur Ausbildung der individuellen Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft dar. Eine Ausbildung, die dem zunehmend als Belastung empfundenen Zwang zur Eigenverantwortung etwas von ihren Schrecken zu nehmen vermag: Ich erlerne sie spielerisch, abseits des lebensweltlichen Drucks.

Sicherlich ist damit nur wenig getan. Zu wenig. Aber wer sich selbst dem Wenigen verweigert, verweigert sich ganz. Und überlässt zum einen der Logik der Ökonomisierung, Verwertbarkeit und Messbarkeit die Macht – und zum anderen den Demagogen dieser Welt das Vakuum, das die Menschen angesichts der kulturellen Wertelosigkeit derzeit empfinden.

Ohne Teilhabe keine Kunst

Individuelle Rezeption der Kunst qua Inspiration ist das genaue Gegenteil einer merkantilen Logik, die keine Abweichung von einer einmal definierten, für alle verbindlichen Norm erlaubt: Sie ist subversiv und assoziativ. Sie fordert die dysfunktionale Abschweifung und den aberwitzigen Exkurs. Die spontane Eingebung. Intuitive Reaktion. Und hemmungslose Subjektivität. Dort mäandern wir durch unsere Gedanken. Verfertigen sie allmählich beim absichtslosen Staunen. Gehen methodisch Umwege. Reflektieren in Schlangenlinien. Laufen zickzack. Und flanieren lustvoll im Labyrinth unseres eigenen Kopfs.

Besonders lustvoll wird es, wenn man sich dessen bewusst wird, dass Kunst ja nicht in der Weise existiert, wie ein Stuhl existiert. Oder ein Tisch, ein Auto, ein Bild. „Kunst“ ist ein Allgemeinbegriff, eine Universalie. So wie es der „Markt“ ist, der „Staat“ oder die „Kirche“. Sie alle existieren nur durch uns wie die Bedeutung eines Wortes nur durch unseren Gebrauch in der Sprache existiert. Wir nutzen diese Allgemeinbegriffe sinnvollerweise, um eine alltägliche, halbwegs problemlose Verständigung überhaupt erst zu ermöglichen. Aber das darf uns nicht dazu verleiten, anzunehmen, es gäbe sie: Allgemeinbegriffe haben kein physisches Pendant, keinen sinnlich wahrnehmbaren, faktischen Seinszustand.

Die Kunst existiert deshalb nicht so, wie wir uns das gemeinhin vorstellen. Und schon gar nicht als solche in einem diffusen Kosmos außerhalb und unabhängig von uns:

„Kunst“
existiert erst und einzig durch die KünstlerInnen, durch deren künstlerischen Akt, durch die dabei erschaffenen Werke – und durch unsere aktive Teilhabe, die individuelle Rezeption und Inspiration.

Die Teilhabe an der Kunst, die Teilhabe an der Hochkultur und freien Szene, der Subkultur, Eigeninitiativen, Poetry-Slams und Literaturfestivals, der Lesungen und Open-Air-Festivals, der kleinen Galerien und großen Konzerte zu fördern heißt demnach, Kunst faktisch überhaupt erst zu ermöglichen. Kunst zu fördern, indem ich sie ermögliche, heißt, „das Herz der Demokratie“  (A.L.Kennedy) zu stärken und so die „Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft“ (G.Baum) sicherzustellen. 

Die Teilhabe an der Kunst zu fördern ist somit keine Frage des Geldes, sondern die Gretchenfrage einer gesellschaftlichen Haltung: Wie hältst du es mit der Zukunft unserer Demokratie?

Montag, 12. Dezember 2016


„Kunst ist das Herz der Demokratie.“
(Alison Louise Kennedy)

„Wer die Freiheit der Kunst nicht bewahrt und nutzt, versagt.“ Versagen wir, versagt unsere Gesellschaft. Versagt sie, hat sie – haben wir – keine Zukunft mehr. Darum ist die Freiheit von Kunst und Kultur eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit für die „Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“ (Gerhart Baum).

Wo die Kunst, und mit ihr die Kultur, der Monetarisierung, dem Diktat der Ökonomisierung gänzlich unterworfen ist, ist sie unfrei. Unfreiheit ist aber die höchste Form des Mangels an Freiheit. Und wo es nun an Freiheit mangelt, kann Kultur nicht sein. Und wo es an Kultur mangelt, mangelt es, so Alison Louise Kennedy in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises, gemeinhin auch an Menschlichkeit:

„Zwischen dem Mangel an Kultur und dem Mangel an Menschlichkeit besteht eine Verbindung."

Insofern ist die Förderung von Kunst und Kultur – und bei dieser Förderung geht es nicht ums Geld, es geht allein um eine Haltung – nichts weniger als ethisch-moralische Daseinsvorsorge für die Bürger: Da, wo Kunst und Kultur nicht gefördert wird, wird sie getötet. Und was, wenn sie getötet wird?

"Zuerst wird die Kunst ermordet, dann der Mensch. Immer. Immer."

Diese mahnenden Worte der Heine-Preisträgerin Alison Louise Kennedy sollte sich der kommunal Hauptverantwortliche, der auf der gleichen Veranstaltung, von ihren Worten offenbar gänzlich unbeeindruckt, einer mündigen Bürgergesellschaft das Wort redete, in einer ruhigen Minute noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen, bevor er weiterhin von "niedrigschwelligen Angeboten" schwadroniert, die Kunst und Kultur zu machen haben, um auch zukünftig in den Genuss finanzieller Förderung von seinen Gnaden zu kommen.

Denn auf solch eine Haltung, solche Handlungen und Einstellungen waren die Worte von A. L. Kennedy gemünzt. Eine Haltung, die dem Einzelnen vielleicht gar nicht recht bewusst sein mag. Und damit auch nicht die möglichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Doch auch wenn die Konsequenzen unbeabsichtigt sind, sind sie vorhersehbar.

Insofern kann sich auch der, der in lauterer Absicht handelt, nicht seiner Verantwortung entziehen: Als gewendeter Mephisto ist er so Teil der Kraft, die stets das Gute will – aber dann das Böse schafft.

Sonntag, 27. November 2016



Der Herr Karl aus Düsseldorf



Die Stadt Düsseldorf ist“, wie weiland Heinrich Heine völlig zutreffend bemerkte, „sehr schön. Doch manchmal wird einem nun mal, denkt man an sie, recht „wunderlich zu Muthe“. So wie erst kürzlich wieder.

Nach Ansicht des obersten Dienstherrn dieser schönen Stadt, Thomas Geisel, hat der Aufstieg von Demagogen wie Donald Trump oder Marine Le Pen ganz wesentlich damit zu tun, dass die Menschen sich in unserer Gesellschaft abgehängt fühlen und nicht mehr am zivilisierten bürgerlichen Leben teilnehmen können. Da ist wirklich was dran, denkt man sich. Und vernimmt sodann des Geisels verblüffend einfache Idee, wie denn die Teilhabe breiterer Gesellschaftsschichten am zivilisierten bürgerlichen Leben signifikant verbessert und der Aufstieg der Demagogen wenn nicht verhindert, so doch zumindest erschwert werden kann:

Statt 25 Millionen Euro für elitäre Kulturinstitutionen wie das hiesige Schauspielhaus auszugeben, das von gerade mal 182.000 zudem happigen Eintritt zahlenden Besuchern heimgesucht wird, ist es doch viel schlauer, vier Millionen Euro für ein international renommiertes Radsport-Großereignis auszugeben, an dem an einem einzigen Tag über eine Millionen Menschen kostenlos teilhaben können.

Ein schlagendes Argument, denkt sich der staunende Leser, was haben wir doch für einen schlauen Fuchs an der Spitze der städtischen Regierung. Wenn man sich das einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lässt, erkennt man erst das ungeheure Demokratie-stabilisierende Potenzial dieses Vorschlags: Für 25 Millionen bekäme man nach Adam Riese ja mindestens sechs dieser Events gestemmt, an denen dann weit über 6 Millionen Menschen partizipieren könnten. Und das, ohne einen einzigen Pfennig zu zahlen, dazu sich auch noch immer an der frischen Luft bewegend statt beengt in muffigen Zuschauerräumen sitzend.

Wow.

Ein Teufelskerl von OB. Mit seiner spektakulären Blaupause sollte es doch wohl klappen, dass die Menschen wieder am zivilisierten bürgerlichen Leben teilnehmen, sie sich wieder wertgeschätzt und nicht mehr abgehängt fühlen. Da werden diese rechtspopulistischen Nachwuchsdemagogen der AfD aber noch Bauklötze staunen, wie schnell die Menschen ihnen da von der Fahne gehen.  

Entscheidung per Akklamation

Ob Herr Geisel wirklich selber an das glaubt, was er in Interviews der Welt verkündet, ist nicht überliefert. Was er tut, jedoch sehr wohl: Er ersetzt, bewusst oder nicht, Hochkultur durch Eventkultur. Durch Brot und Spiele, wie im alten Rom: die sedierende Bespaßung der Massen.

Nichts gegen Großereignisse. Auch die haben ihren Reiz. Und sogar ihre Berechtigung. Das weiß selbst der hartgesottenste Bildungsbürger spätestens dann, wenn er einmal im Dortmunder Westfalenstadion die Gelbe Wand und ihre Choreografie miterleben durfte. Aber der Versuch, Hoch- und Eventkultur gegeneinander abzuwägen, um hernach eine der beiden, das Schauspiel, für zu leicht zu befinden, ist ein Menetekel. Zeugt es doch nicht von kulturpolitischer Weitsicht, sondern von monoperspektivischer Weltsicht:

Die angemahnte Teilhabe möglichst aller Bürger ist ganz sicher eines der höchsten Ziele, das sich eine zivilisierte Gesellschaft stecken kann. Sie zu erreichen stellt vielleicht sogar den Stein der Weisen dar, nach dem wir alle suchen, um die drohende Spaltung und die damit einhergehende Radikalisierung der Gesellschaft abzuwenden. Aber ist da der Rekurs auf populistische Argumentationsplattitüden, dieser Versuch des Ausspielens der Hoch- durch Eventkultur per Akklamation, der richtige Ansatz?

Mittlerweile folgen schon viele veritable Museen, also klassische Tempel der Hochkultur, besagter „Eventlogik“ (Stephan Berg). Und setzen gezielt auf ‚Blockbuster’. Wobei für diese das Gleiche gilt wie für die Geiselschen Großereignisse: Sie haben a. ihren Reiz und b. ihre Berechtigung. Nur darf ihr Einsatz nicht zum allein gültigen Prinzip gemacht werden. Denn dann übernähme die Logik der Ökonomisierung die Macht. Und würde fürderhin die Spielregeln bestimmen – eben auch die der sogenannten Hochkultur.

Ihre Werke würden zu Produkten, Werte zum Wert mutieren. Gültigkeit hätte hier allein das Prinzip der Verwertbarkeit. Des unmittelbaren Nutzens. Der Zweckgebundenheit. Damit hieße ihr Ideal zukünftig auch: ‚Messbarkeit’. Gezeigt würde einzig, was in einer merkantil dominierten Welt ökonomische Relevanz nachweisen könnte.

Der Politiker als Vox populi

Mit dem Primat der Logik der Ökonomisierung wäre ein entropischer Kulturzustand erreicht. Stromlinienförmig. Uniformistisch. Affirmativ. Ihr Idealbild ist die sich finanziell selbst tragende, widerspruchsfreie, massentaugliche Bespaßungskultur ohne Ecken und Kanten, nicht jedoch die Kultur, die demgegenüber nonkonformistisch, nutzlos, subversiv, diskursiv und reflexiv ist und gerade dadurch stabilisierendes Gegengewicht einer aus dem Gleichgewicht geratenen Gesellschaft sein kann – den Menschen, insbesondere den jungen, gerade diese Kultur nahezubringen hält Gerhart Baum, im schroffen Gegensatz zum Düsseldorfer OB, für "unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft".

Das ficht Düsseldorfs obersten Dienstherrn aber nicht an. Er stellt stattdessen ganz plump die rhetorische Frage, ob denn, so Dorothee Frings in der Rheinischen Post, „die teure Sanierung eines Theaters dem Willen aller Bürger entspricht“.

Nein, möchte man ihm entgegenschreien, natürlich nicht – aber deine verdammte Pflicht als Demokrat, der um die Unverzichtbarkeit der Kultur für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft weiß, ist es, alles in deiner Macht Stehende zu tun, dass auch dessen Sanierung einmal dem Willen aller Bürger entspricht!

Diese Mühe macht er sich nicht. Er geriert sich lieber als vox populi, als populistische Stimme des repräsentativen Kleinbürgers Herr Karl, den Helmut Qualtinger seinerzeit so einzigartig bitterböse karikiert hat. Und der in diversen Graduationen zurzeit mal wieder fröhlich Urständ feiert. Zuletzt als türkischer Staatspräsident, der, mit der Stimme des Volkes gesegnet, seinen Willen mit „Willen aller Bürger“ erst über-, dann umsetzt, sich so seiner Verantwortung entzieht und, vice versa, den Bürgern alle Verantwortung überantwortet.

Es ist ziemlich platt und abgeschmackt, irgendwelche zweitklassigen Wortspiele mit dem zugegebenermaßen etwas unglücklichen Nachnamen des besagten OB zu machen. Aber er lässt nun wirklich auch keine Gelegenheit aus, sie alle einem so nahe wie nur möglich zu legen, der gute Herr Geisel.

Montag, 21. November 2016


Die produktive Kraft der Kultur


In Düsseldorf kämpft gerade ein Ballettchef um sein Ballett. Ein Theaterintendant um sein Theater. Das Opernhaus um die Oper. Und die Museumsleiter um den Bestand der städtischen Museumslandschaft. Völlig legitim – und doch befremdlich. Denn man wird das Gefühl nicht los, dass hier ein jeder angesichts klammer öffentlicher Kassen wie das Karnickel auf die Schlange starrt und versucht, seinen eigenen Beritt gegen finanzielle Begehrlichkeiten seitens der Stadt zu schützen. Dabei, so scheint es, realisieren die Verantwortlichen nicht recht, dass es gar nicht so sehr um ihre Partikularinteressen, sondern um das Kulturschaffen als solches geht: um dessen gesellschaftliche Legitimierung.

Die Oper Köln hat 500 Millionen Euro verschlungen, die Elbphilharmonie wohl rund 800 Millionen, die Museumsinsel Berlin wird mit 600 Millionen veranschlagt. Und die Instandsetzung des Schauspielhauses in Düsseldorf wird ganz sicher nicht unter 50 Millionen Euro zu bewerkstelligen sein. Dass es durchaus nicht nur Kulturbauten sind, bei denen hierzulande die Kosten explodieren – Stichwort: BER und Stuttgart 21 – weiß zwar jeder, macht eine schlagkräftige Argumentation für die finanzielle Unterstützung des Kulturschaffens, von der Hochkultur bis hin zur freien Szene, angesichts leerer Kassen, die eine Verschiebung der Sanierung maroder Schulen und verwahrloster öffentlicher Plätze oder die zügige Bereitstellung fehlender Kita-Plätze auf den Sankt Nimmerleinstag vorsieht, nicht unbedingt leichter.

Wie erkläre ich’s meinem Bürger?

Es ist kulturpolitische Realität, dass den Bürgern, die ja zu allem Überfluss auch noch Wähler sind, derart eklatante Missverhältnisse nicht recht zu erklären sind. Was nutzen ihnen so wunderschöne wie hochsubventionierte Opernhäuser, in die sich jedoch nur ein gut situiertes, elitäres Grüppchen verirrt, wenn ihre Kinder gleichzeitig Schultoiletten aufsuchen müssen, die jeder Beschreibung spotten? Auch wenn man solche Vergleiche vielleicht als unpassend empfindet, weil, wie Gerhart Baum, der Vorsitzende des Kulturrats NRW nicht müde wird zu betonen, gerade die Hochkultur „unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft“ sei, muss man sich ihnen stellen. Denn Kunst und Kultur führen nun mal kein monadisches Eigenleben, sie stehen mitten im Leben. Und das ist nicht unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und ökonomischen Zwängen des kommunalpolitischen Alltags, von der berechtigten Erwartungshaltung der Bürger und paritätischen Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu betrachten.

Man muss sich dem Rechtfertigungsdruck schon deshalb stellen, weil sich gerade dem Teil der Bürger, der niemals einen Schritt ins Museum, in die Oper oder das Theater macht, die Frage nach dem Nutzwert kultureller Einrichtungen, ja letztlich von Kunst und Kultur generell stellt: Was habe ich davon?

Damit befindet sich dieser nicht unbeträchtliche Teil der Bürger ganz auf einer Linie mit der der alles beherrschenden Denk- und Verhaltensstruktur unserer Zeit: der
Logik der Ökonomisierung. Sie hat das gesamte Kulturschaffen bereits überformt. Nicht nur in Düsseldorf. Sondern weltweit. Es sind nicht nur die Museen, Theater, Balletts, Orchester und Opernhäuser, die dem Diktat merkantiler, kommerzieller Aspekte gehorchen und deshalb auch, völlig konsequent, nicht von Kulturschaffenden, sondern, wie jüngst erst das Schloss Morsbroich in Leverkusen, von Wirtschaftsprüfern und Unternehmensberatern auf ihre Bestandsfähigkeit hin geprüft werden: Hier bestimmt die Logik der Ökonomisierung bereits die Spielregeln. Und auch die Hochkultur muss ihr Spiel spielen, um sich zu legitimieren. Ein Spiel, das sie nicht gewinnen kann.

Das Diktat der Ökonomie

Die Bundesregierung unterhält ein „Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft“, das auf wissenschaftlichen Konferenzen ganz humorlos die künstlerischen, kulturellen und kreativen Aktivitäten auf ihre „Innovationsfähigkeit“ hin abklopft, die ökonomische Relevanz der „Kulturindustrie“ erörtert und über messbare Ergebnisse und verwertbare Produkte debattiert, die das Bruttosozialprodukt einer Gesellschaft steigern können. 

Bei G8, der verkürzten gymnasialen Laufzeit in Deutschland, waren für die Einführung keine pädagogischen, sondern einzig volkswirtschaftliche Gründe ausschlaggebend. Unter dem Akronym MINT wird die konsequente Ausrichtung von Studien- und Unterrichtsfächern unter das Primat der mathematisch-naturwissenschaftlichen Perspektive vorangetrieben. Die ganze Aufmerksamkeit gilt dabei dem zentralen wirtschaftlichen Innovationssektor, der angewandten Forschung und exakten Wissenschaft, der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik – es ist das Diktat der Funktionalität, das das Zeitalter der digitalen Transformation beherrscht.

USA und Großbritannien propagieren, dass die Geisteswissenschaften in Zukunft praktisches Wissen statt freies Denken vermitteln sollen. In Japan will die Regierung bald ganz ohne Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Linguistik auskommen: Erhalten bleibt einzig, wer praktische, also ökonomische Relevanz nachweisen kann.

Solches Effizienzdenken führt zur Marginalisierung von Kultur, Ideen und Werten. Hinter allem, so Kai Spiekermann, Philosophieprofessor an der britischen London School of Economics (LSE),stehe das neue Ideal der Messbarkeit“. Es geht um das Prinzip der Verwertbarkeit. Des unmittelbaren Nutzens. Der Zweckgebundenheit. Entscheidend ist die „employability, die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt“.

Überall lauert die volkswirtschaftliche Argumentation. Darauf ausgerichtet degeneriert Bildung, dient sie doch nur noch als Mittel zum wirtschaftlichen Zweck. Und wird so zum Büttel der Funktionalität. Dabei wäre gerade jetzt eine gesellschaftliche Gegenbewegung vonnöten, die sich explizit vom Primat der Ökonomie distanziert. Und den Wert der Kultur, der Kunst, der Reflexion und „geistigen Herausforderung“ (Baum) auf Augenhöhe sieht.

Partizipation: Kultur muss öffentlich sein

Es muss dieses stabilisierende Gegengewicht in der Gesellschaft geben, das nicht funktional getrieben und zweckorientiert ist. Sondern nonkonformistisch. Subversiv. Diskursiv. Reflexiv. Nicht rational. Un-vernünftig. Gestalt gewordenes Plädoyer für das Recht auf Nutzlosigkeit, Dysfunktionalität, Fehler, Missverständnis und all die anderen Quellen der Inspiration und Innovation.

Aber selbst wenn man, wie der Autor dieser Zeilen, zutiefst von der konstituierenden Kraft eines breiten, aktiven, lebendigen und vielfältigen Kulturschaffens für eine intakte Gesellschaft überzeugt ist: Der deutsche Durchschnittsbürger ist nun einmal, durchaus nachvollziehbar, vorrangig an der staatlichen Grundversorgung interessiert. Wie schafft man es da, erstens ihm gegenüber die gleichrangige finanzielle Förderung von Kunst und Kultur plausibel und nachhaltig zu legitimieren und zweitens nicht das am Nutzwert orientierte Spiel von Funktionalität und Ökonomie zu spielen?

Wenn Gerhart Baum nun ganz im Sinne des gebildeten Kulturbürgers argumentiert, „Kultur ist nichts für große Mehrheiten“ oder Patrick S. Föhl, der Moderator des Düsseldorfer Kulturentwicklungsplans, konstatiert, „Museumsbesucher sind Kultur-Flaneure“, so ist das als Feststellung des Ist-Zustands durchaus richtig. Falsch wäre es aber, es dabei zu belassen:
Vielleicht ist die einzige Chance, das Problem zu lösen, die, die Kultur aus eben dem Winkel zu holen, der vom Bürger als elitär empfunden wird. Und sie ihm ganz zu öffnen. So wie es ansatzweise bereits das Museum Folkwang getan hat.
Denn was ist an einem öffentlichen Kulturinstitut öffentlich, wenn es nicht öffentlich, also für die Öffentlichkeit, und damit für alle zugänglich ist, sondern nur für die, die zahlen resp. zahlen können?

Kultur kann seine gesellschaftliche Funktion, seine zivilisatorische Aufgabe, den Menschen Werte abseits rein ökonomisch getriebener Werte zu vermitteln, nur dann erfüllen, wenn diese die Möglichkeit haben, die Kultur auch als ihre Kultur zu begreifen. Das setzt aber voraus, dass sie sie nicht als elitär erleben, sondern tätig daran teilhaben können. Oper, Orchester, Ballett, Theater und Kunstmuseen et al. hätten so eine reelle Chance, in breitesten Schichten der Bevölkerung Akzeptanz zu finden. Genau dann könnte Kultur ihre produktive Kraft entfalten.

Werte versus Wert

Gerade die westliche Welt scheint jedoch heute keine Werte mehr außer dem Nutz-Wert zu kennen. Es ist ein Zeitalter von nietzscheanischem Format: Wertvoll ist allein, was ökonomisch wertvoll ist. Es regiert der Kommerz, die nüchterne Rationalität, der kalte Pragmatismus. Und als wäre das noch nicht genug, erleben wir gerade die Potenzierung der allumfassenden Ökonomisierung durch Gottes Substitute auf Erden, die Hohepriester der neofuturistischen Bewegung, sektengleiche Vorreiter des digitalen Zeitalters im Silicon Valley, die flache Hierarchien predigen, aber streng hierarchisch organisiert sind. Die ihre Jünger vereinnahmen. Aufsaugen. Den ganzen Menschen fordern, ihn seiner Privatheit berauben. Und seine Denk- und Verhaltensstrukturen determinieren.

Algorithmisch. Absolut. Ausweglos. Die binäre Welt akzeptiert nur ihre eigene Logik. Andere Systeme finden in ihr keine Verwendung und Akzeptanz. Sie schafft jedoch nur einen Wert, keine Werte. Doch genau danach sehnen sich die Menschen. So entsteht ein gefährliches Vakuum, das nach Erfüllung schreit – die Demagogen dieser Welt stehen bereits Spalier und reiben sich frohlockend die Hände.

Extremisten aller Schattierungen machen mobil. White Aryan Resistance, Kreationisten, Identitäre, Reichsbürger, IS, Wahhabiten, Salafisten – andere Länder, andere Lager, andere Bedingungen. Aber eines ist allen gemeinsam: Menschen, die eine neue Ordnung suchen. Aber es nicht selbst tun, denn das ist zu mühevoll, unbequem, zeitraubend. Nein, sie suchen nach dem, der ihnen diese Ordnung vermittelt. Der genau die Stärke suggeriert, die sie verloren haben. Um sich mit ihm zu identifizieren, um so eine neue, kraftstrotzende Identität zu gewinnen: seine. Sie suchen Orientierung. Und finden sie in den Demagogen, die ihnen den Weg weisen. Werte definieren. Stabile, klare, einfach strukturierte Wertesysteme. Um dann im wohligen Schoß einer Masse, eines „Wir“ aufzugehen.

Kultur ist konstitutiv für die Gesellschaft

An diesem Punkt zeigt sich, welche überragende Bedeutung Kultur für eine Gesellschaft haben kann: Sie ist in der Tat „unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“, wie es Gerhart Baum ausdrückte. Weil sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, dieses gefährliche Vakuum zu füllen, das die Ausschließlichkeit, mit der die Logik der Ökonomisierung auftritt, letztlich mit erzeugt hat. Aber, wie gesagt, die Voraussetzung dafür, dass Kultur dieser Aufgabe auch nur ansatzweise gerecht werden kann, ist, dass alle die Chance haben, an ihr teilzuhaben. Nicht nur eine bildungsbürgerliche Minderheit.

Wenn nun Kultur als Werte vermittelndes Gegengewicht zu einer durchweg ökonomisierten Welt unter die Kuratel einer ökonomisch definierten Rechtfertigung gestellt würde, wäre das nachgerade absurd. Kunst und Kultur muss nach ihren eigenen Spielregeln spielen dürfen, nicht nur nach denen der Ökonomie. So wie diese ja auch nicht nach den Spielregeln der Kunst und Kultur spielen mag.

Natürlich kostet das. Aber so, wie wir in der Zukunft 4.0, im Zeitalter der digitalen Transformation und der damit einhergehenden endgültigen Einsparung von Arbeitsplätzen, die auf einen als Arbeitskraft oftmals überflüssigen Menschen hinauslaufen, nicht umhin kommen werden, über eine Wertschöpfungsabgabe und einen radikalen Umbau der strukturell noch aus dem 20., ja zu Teilen noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Steuer-, Renten- und Sozialsysteme zu sprechen, so werden wir auch im Kulturbereich über radikal andere Modelle der Förderung und Finanzierung diskutieren müssen. Über solche, die sich nicht am Primat der Logik der Ökonomisierung orientieren. Sondern am Bürger.

Sonntag, 6. November 2016


Die funktionale Gesellschaft


Dieser Tage geschieht in Düsseldorf Befremdliches. Da versucht der Oberbürgermeister in einem kommunalpolitischen Handstreich die gewachsene städtische Kulturlandlandschaft grundlegend zu ändern. Unter seiner Ägide soll es eine völlige Neuordnung der Museumslandschaft geben, die Neubesetzung der Position des scheidenden Chefs des Museum Kunstpalast, Beat Wismer, wird zum Anlass genommen, ein Spardiktat der radikalen Art zu diskutieren: Eine Generalintendanz, die alle wesentlichen Düsseldorfer Museum und Zentren der Kunstvermittlung wie Kunstpalast, Kunsthalle und „Kunst im Tunnel“ zusammenführt. 

Dieses Planspiel eröffnet die Option einer verschlankten Verwaltung sprich Einsparung von Personal sprich Kostenreduktion: Wirtschaftsberater sind im Auftrage der Stadt unterwegs, um im Rahmen des Programms „Verwaltung 2020“ Einsparpotenziale zu eruieren. Bis zu einem Fünftel aller Stellen bei der Stadt sollen eingespart werden, Museen und Kulturamt müssen zukünftig mit beträchtlich weniger Mitteln und Mitarbeiter auskommen. 

Die organisatorische und personelle Zusammenführung eröffnet aber noch weitere Optionen bis hin zur Aufgabe von Kulturinstituten in prominenter Lage. Was wiederum, da es sich um immobile Filetstücke handelt, weitere lukrative Optionen eröffnet. Stichwort: Verdichtung der Innenstadt. So zum Beispiel beim Schauspielhaus, exponiertes Sprechtheater an exponierter Stelle, beheimatet in ebenso exponierter Architektur. Da flirtet der oberste Vertreter der Stadt, medial gezielt lanciert, mit dem Gedanken, diese prachtvolle Innenstadtlage einer kommerziellen Nutzung zuzuführen – als Kö-Bogen III hätte sie sich auf den MIPIMs und Expo Reals dieser Welt wunderbar vermarkten lassen.

Auch wenn die im Raume stehende Planung, die Auslagerung des Theaters und Übergabe des Gebäudes an einen Investor, mittlerweile laut Ratsbeschluss ad acta gelegt wurde: Es lohnt sich, hier einmal nicht partikular Düsseldorf und das Gebaren eines ökonomisch getriebenen OB zu betrachten, der unter dem Sparzwang des städtischen Haushalts stehend nach neuen Wegen und Möglichkeiten der Konsolidierung sucht und dabei, nüchtern kalkulierend, ein Szenario entwirft, bei dem konsequenterweise nur finanzielle Aspekte eine nennenswerte Rolle spielen. Hier lohnt es sich, den Blick aufs Ganze zu richten: Was geschieht da gerade?

Die Reaktion des Feuilletons, der betroffenen Kulturschaffenden und -interessierten reduziert sich derzeit auf die Frage, was dieser Mann bloß in seinem Amtskämmerlein heimlich, still und leise ausbaldowert hat. Jeder prügelt auf ihn ein, von allen Seiten schallt es ihm entgegen, dass er den Ruf der Stadt Kulturmetropole aufs Spiel setzt. Dass hier renommierte Kulturinstitute ihre eigenständige Gestaltungsmöglichkeit verlören, dass sie, die gänzliche andere kulturelle Aufträge haben, am Ende gleichgeschaltet werden. Das einvernehmliche Resümee: Düsseldorf ist halt doch nur Düssel-Dorf.

Die Logik der Ökonomisierung

Doch um Düsseldorf geht es hier nur vordergründig, die Stadt steht lediglich stellvertretend für eine immer weiter um sich greifende, immer machtvoller werdende Tendenz. So weist Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseums Bonn, bei der Evaluierung der Bestandsfähigkeit des Museums Morsbroich durch die Wirtschaftsprüfer der KPMG darauf hin, dass da ein Museum einer rein ökonomischen Betrachtung unterzogen“ wird und man „nur die Einschaltquote betrachtet, ohne die spezifische Identität und Eigenlogik eines Museums zu beachten – die eben auch nach rein ökonomischen Kriterien nicht evaluierbar ist.“

Und er macht auf einen entscheidenden Aspekt aufmerksam, der offensichtlich auch dem Düsseldorfer OB wenn nicht gänzlich entgangen, so doch entfallen ist: „Der gesellschaftliche Konsens darüber, dass ein Museum unser kollektives kulturelles Gedächtnis ist, dass eine Sammlung zusammengehalten werden und der Logik der Ökonomisierung entzogen sein muss, den gibt es wohl nicht mehr.“ In dem Moment aber, wo dieser „Logik der Ökonomisierung“ das Primat des Handelns übereignet wird, geht das Bewusstsein für die fundamentale Bedeutung der Kultur- und Kunstinstitutionen verloren, die doch „als gesellschaftlicher Kitt (fungieren), weil sie Werte und Inhalte produzieren, gerade weil sie sich dem Messbaren entziehen – aber darüber besteht offenbar kein gesellschaftlicher Konsens mehr.

Was der Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, Wilfried Schulz, in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post formulierte, gilt nicht allein für sein Theater, es gilt für die Kulturinstitute, ja, für Kultur und Gesellschaft generell:

Ich glaube, dass die heftig zerrissene und sich überfordert fühlende Gesellschaft in den nächsten Jahren nichts mehr braucht als gemeinsame Orte der Reflexion, des Diskurses, des Aushaltens und Erprobens von Differenz und der Infragestellung und Vergewisserung von Identität.

Doch angesichts der dramatischen zivilisatorischen Regression muss es nicht allein solche Orte der Reflexion weiterhin geben – sie müssen von allen Kräften nach Kräften unterstützt und gegen alle Widerstände verteidigt werden. Denn geraten sie erst einmal unter das Diktat der Wirtschaftsprüfer, haben sie zur Gänze der Logik der Ökonomisierung zu folgen:
Der nicht dem Konsum und dem Renditeversprechen gewidmete öffentliche Raum, der Raum der direkten Begegnung wird immer kleiner; es gilt ihn zu verteidigen. Von den verantwortlichen Politikern, der Stadtgesellschaft, dem Publikum, den Künstlern und den Mitarbeitern. Gemeinsam.

Das pekuniäre Damoklesschwert, das über den Museen, über den Theatern und der freien Kulturszene schwebt, ist eines, das über uns allen schwebt. Insbesondere über denen, die die Kultur als eine zivilisatorische begreifen: Es ist eine unheilige disruptive Kraft, die im Primat der Logik der Ökonomisierung steckt und alles in ihrem Sinne überformt.

Unternehmens-Berater werden, wie in Leverkusen, engagiert, um aus rein betriebswirtschaftlicher Perspektive die Sinnhaftigkeit, den Nutzwert einer kulturellen Einrichtung zu beurteilen. Die Kriterien, nach denen sie beurteilen, sind naturgemäß dem wesensfremd, was sie beurteilen. Das ist so, als würde man, vice versa, ein Börsenunternehmen rein nach künstlerischen Kriterien beurteilen und bewerten. Und zum Schluss kommen, dass, zum Beispiel, VW abgewickelt werden muss. Wobei dies wiederum, angesichts des gegenwärtigen Dilemmas, in dem sich das Unternehmen befindet, eines gewissen Charmes nicht entbehren würde.

Weder die Düsseldorfer noch die Leverkusener Posse sind jedoch singuläre Ereignisse. Sie sind lediglich Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die den funktionalen, nutzen- und zweckorientierten Aspekten das Wort redet. Und die Kultur darauf reduziert.

Das Diktat der Funktionalität

MINT. Das ist mehr als nur ein Akronym. Es ist das sprachliche Kondensat einer konsequenten Ausrichtung von Studien- und Unterrichtsfächern unter das Primat einer Perspektive: der mathematisch-naturwissenschaftlichen. Dem zentralen wirtschaftlichen Innovationssektor, der angewandten Forschung und exakten Wissenschaft, der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik gilt hier die ganze Aufmerksamkeit.

Es ist das Diktat der Funktionalität, das das Zeitalter der digitalen Transformation beherrscht. Seit Karl Mannheim wissen wir, welche Gefahren in einer solch stringent durchgeführten Ausrichtung schlummern: Perspektiven sind notwendigerweise relativ.
Wird nun aber eine Perspektive ihrer Relativität enthoben, wird diese eine Sichtweise verabsolutiert. Und damit ideologisch.

Ideologische Sichtweisen werden aber aggressiv gegen Widerstände, Andersdenkende, Fremde verteidigt. Eine Blaupause, die wir vornehmlich aus dem religiösen und pseudoreligiös-politischen Bereich kennen, hier aber durchaus zur Anwendung kommen kann: Dieser Kampf wird jedoch sicher nicht blutig, sondern ganz subtil ausgetragen werden – und er wird womöglich nachhaltiger in seinen Folgen sein: Er wird die Denkstrukturen beherrschen. Und damit langfristig auch unsere Verhaltensstrukturen.

Wer nicht den Kriterien des Marktes gehorcht, sich ihm unterordnet, wird zurechtgestutzt. Erst argumentativ. Dann medial. Finanziell. Strukturell. Administrativ.  Die Kultur als Ganzes wird marginalisiert. So werden in den Geisteswissenschaften, bis auf wenige Ausnahmen, nicht nur Stellen, sondern ganze Studienzweige gestrichen. Renommierte Universitäten geben Fakultäten auf, wohingegen in den technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen die Institute geradezu aus dem Boden schießen. Eine Inflation neuer, immer kleinteiliger Studiengänge bricht sich Bahn. Kaum mehr wird dort universelles, übergreifendes Wissen vermittelt, sondern, insbesondere in den Bachelorstudiengängen, extremes und, da wendet sich das System eigendynamisch gegen sich selbst, arbeitsmarktfernes Spezialistenwissen.

Selbst der Wissenschaftsrat beobachtet diese Entwicklung mit Sorge, weil sich hier Bereiche, die eine systemrelevante Bedeutung haben, durch eine schleichende Miniaturisierung ad absurdum führen: Sie produzieren praxisuntaugliche Disziplinen und damit auch ebensolche Prätendenten.

Abschied von den Geisteswissenschaften

In den USA und in Großbritannien führen die Geisteswissenschaften in den Universitäten mehr und mehr ein ihrer eigentlichen Aufgabe enthobenes Dasein: Sie sollen in Zukunft praktisches Wissen statt freies Denken vermitteln. In Japan, so Felix Lill in der ZEIT, geht die Regierung sogar so weit, dass sie bald ganz ohne Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Linguistik auskommen will. Wer nicht unmittelbar praktische, also: ökonomische Relevanz nachweisen und in seine Lehrpläne aufnehmen kann, wird, gemäß des funktionalen Diktats, eliminiert.


Zur Begründung heißt es in einem bildungsministerialen Ukas, es mangele „an Ingenieuren, Informatikern und Mathematikern, die Japans weltweit führende Robotik voranbrächten.Für Keiichi Aizawa, Leiter der germanistischen Fakultät der Universität Tsukuba, fühlt sich dieser Angriff auf die Geisteswissenschaften „an wie eine Aushöhlung der Gesellschaft von innen. Eine Marginalisierung von Kultur, Ideen und Werten.Felix Lill spannt in seinem Artikel den Bogen sogar noch weiter:

Japans Entwicklung mag extrem erscheinen. Ihr liegt jedoch ein Trend zugrunde, der international zu beobachten ist: der Einzug des Effizienzdenkens in die Universität. Quer durch die Industrienationen der Welt lässt sich das Mantra vernehmen: Möglichst kleiner Input bei größtmöglichem Output. Ein betriebswirtschaftliches Konzept für Forschung und Lehre. Egal ob man die großen EU-Strategiepapiere des Lissabon-Vertrags oder des Bologna-Prozesses liest, die Debatten in den USA oder Großbritannien verfolgt: Überall kommen die Begriffe "Globalisierung" und "Wettbewerb" vor. Und häufig bedeutet dies, dass gerade die Geisteswissenschaften unter Legitimationsdruck geraten.

Hinter allem, so Kai Spiekermann, Philosophieprofessor an der britischen London School of Economics (LSE),stehe das neue Ideal der Messbarkeit“. Es geht um das Prinzip der Verwertbarkeit. Der Praxisrelevanz. Des unmittelbaren Nutzens. Der Zweckgebundenheit. Entscheidend ist die „employability, die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt“.

In den USA, wo jährlich die Studiengebühren im gleichen Maße steigen wie die bundessstaatlichen Bildungsausgaben sinken, sind es gerade die zahlreichen Colleges abseits der renommierten Elite-Unis, die die Studienmöglichkeiten der Geisteswissenschaftler zusammenstreichen. Durchaus nachvollziehbar, stehen doch „die hohen Gebühren in einem starken Missverhältnis zu ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt“.  

Ellen Schrecker, Historikerin an der Yeshiva University in New York, befürchtet Schlimmes für eine Gesellschaft, die da nicht massiv gegensteuert:

"All das, was einen informierten und kritischen Bürger ausmacht und zum Verstehen fremder Kulturen befähigt, bekommt man nur durch die Geisteswissenschaften. Wenn diese Art von Bildung zusehends zu einem Luxusgut wird, kommen auf unsere Gesellschaft große Probleme zu."

Ein Befund, der nicht allein für die USA zutrifft. Sondern für alle Länder, die sich dem Diktat der Ökonomie uneingeschränkt verschreiben. So kann der deutsche Wissenschaftsrat noch so sehr mahnen, der „Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland mehr Aufmerksamkeit zu widmen“. Es hilft nichts: Gelingt es den Naturwissenschaften bei der Drittmittelverteilung in Deutschland problemlos, „ihre Budgets um knapp ein Fünftel mit Zusatzbudgets aufzustocken, ... kommen die Geisteswissenschaften auf keine zehn Prozent“.

Von MINT über G8 bis zum Bachelor

Bei G8, der verkürzten gymnasialen Laufzeit in Deutschland, zeigten sich ehedem die gleichen Argumentations- und Denkstrukturen. Mitnichten waren für die Einführung pädagogische Gründe ausschlaggebend. Es waren einzig und allein volkswirtschaftliche Erwägungen, die eine Rolle gespielt haben: Die deutschen Schüler sollten so schnell wie möglich an die Universitäten kommen – so schnell wie der Großteil der Schüler im europäischen Ausland.


Mit G8 sollte das Bildungssystem effizienter und zielgenauer werden“, so 2013 Donate Kluxen-Pyta von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Denn die „Unternehmen wollen jüngere Mitarbeiter“ – was übrigens auch das entscheidende Argument für die Einführung des Bachelors war. Außerdem bringe ein früherer Berufseinstieg der Volkswirtschaft Milliarden. 30, um genau zu sein. So hoch ist, laut Prognose 2013, bei 500.000 Studienanfängern der Wertschöpfungsgewinn.

Wegen des demographischen Wandels müssen die Deutschen länger arbeiten, um ihr Rentensystem zu finanzieren. Und dann sei es doch besser, ein Jahr früher in das Berufsleben einzusteigen, als noch später in Rente zu gehen,“ zitiert
Lisa Becker das Institut der deutschen Wirtschaft in der FAZ. Wobei die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung gerade eben erst verkündet haben, sie gingen davon aus, dass die Kinder von heute bis zum 71. Lebensjahr werden arbeiten müssen. Also nix is’ mit Begrenzung des Renteneintrittsalters: Früher anfangen, später aufhören. Rabotti, rabotti. Bis der Tod uns scheidet.

All überall lauern volkswirtschaftliche Argumentationen. Nirgends ist eine in Sicht, die sich einmal vom Primat der Ökonomie entfernt. Und den Wert der Kultur, der Kunst, der Reflexion auf Augenhöhe sieht. Alles orientiert sich primär am Nutzen. Derart ausgerichtet degeneriert Bildung, dient sie doch nur noch als Mittel zum Zweck. Und wird so zum Büttel der Funktionalität.

Verantwortungslos: der Prozess der unsichtbaren Hand

Das Humboldtforum Berlin, integriert ins Potemkinsche Berliner Stadtschloss, wirkt da in seiner Überdimensionierung wie ein gigantisches administratives Ablenkungsmanöver, das von den massiven Kürzungen der kulturellen Budgets, die wir landauf, landab derzeit erleben müssen, werbewirksam ablenken soll. Ein hauptstädtisches Feigenblatt, von dem die Verantwortlichen allerdings wissen sollte, dass es auf der Oberseite rau ist. Und sich deshalb, dem biblischen Vorbild zum Trotz, nicht sonderlich für die schamhafte Bedeckung der nackten Wahrheit eignet.  

Das eigentlich Dramatische ist aber, dass einem Großteil der Verantwortlichen gar nicht bewusst ist, was sie da anrichten. Sie haben wahrscheinlich sogar durchaus lautere Absichten, bedenken aber nur das, was sie auch intendieren. Nicht aber die unbeabsichtigten Folgen ihres Handelns. Die liegen zwar durchaus auf der Hand, sind aber für sie, da nicht gewollt, auch nicht relevant. Und werden fürderhin ignoriert. Ausgeblendet. Negiert: Was für sie nicht da ist, ist nicht da.

Verantwortlich fühlen sich die Verantwortlichen, wenn überhaupt, nur für die beabsichtigten Folgen. Ergo wird auch niemand für unbeabsichtigte Konsequenzen Verantwortung übernehmen. Der amerikanische Soziologie Robert K. Merton hat dieses Phänomen beschrieben. Als mögliche Ursachen für unbeabsichtigte Folgen nennt er unter anderem menschliche Dummheit, Selbstbetrug oder auch schlicht Ignoranz der menschlichen Natur. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Das von ihm formulierte Gesetz der unbeabsichtigten Folgen geht zurück auf den Prozess der unsichtbaren Hand, den Adam Smith in seinem grundlegenden Werk „Wealth of Nations“ beschrieben hat. Der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Rudi Keller erklärt ihn in einprägsamer Klarheit: Wie entsteht ein Trampelpfad? Jemand nimmt vom Parkplatz aus nicht den Umweg über den Fußweg, sondern den direkten Weg über die Wiese hin zu seinem Ziel. Das tut er nur, weil er zu bequem ist, keinen Umweg gehen und schnellstmöglich ans Ziel kommen will. So denkt und handelt jeder Einzelne, der den direkten Weg nimmt. Das Resultat der Tausenden, die so denken und handeln, ist – ein Trampelpfad. Niemand wollte ihn, aber alle haben ihn geschaffen. Und wer ist schuld? Niemand. Aber alle. Nur: Wer will schon der Gesamtheit die Schuld geben, wenn niemand schuld ist?

So sieht’s dann aus: Keiner ist verantwortlich, niemanden trifft eine Schuld. Also muss sich auch niemand einer Schuld bewusst sein. Alle können sich wunderbar plausibel hinter solchen Argumentationen verstecken. Können ihre Hände in Unschuld waschen. Und sich glaubhaft entrüstet zeigen, sollte jemand mit Fingern auf sie zeigen: Das ist doch nicht meine Schuld! Einerseits. Andererseits heißt nicht verantwortlich zu sein aber noch lange nicht, keine Verantwortung zu tragen:

So wie der Düsseldorfer OB, die Leverkusener Stadtverwaltung, die Arbeitgeberverbände oder das japanische Bildungsministerium denken und handeln weltweit Tausende im Sinne des Primats der Ökonomie und ihrer inhärenten Logik. Tausende, die ja nur auf dem kürzesten Weg von A nach B gehen, aber keinen Trampelpfad entstehen lassen wollen. Kann ich mich nun von der Verantwortung freisprechen, weil ich seine Entstehung ja nicht beabsichtigt habe? Nein. Denn ich muss die Konsequenzen meines Handelns überblicken – auch die unbeabsichtigten Konsequenzen, für die ich nicht persönlich verantwortlich bin, für die ich aber allein durch meine Teilhabe eine Mitverantwortung trage.

So ist die Zivilisation bald perdu

In diesem Sinne argumentierte auch der österreichische Philosoph und Soziologe Karl R. Popper: Ich habe mich selbst – und niemanden sonst! – in die Pflicht zu nehmen. Habe Verantwortung zu übernehmen. Für mich. Mein Handeln. Und damit nicht zuletzt auch für die Geschichte,. Denn ist der Einzelne dazu nicht bereit, verabschieden wir uns aus der Zivilisation. Und laden die Barbarei zur Rückkehr ein.

Der Soziologe Norbert Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet. Doch die ist mühsam, muss sie doch täglich in Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer globalisierten, im Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.

Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern.

Nun sind aber, so Elias, die ‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.

Dies, so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu anstrengend. Da ist es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss eines wie auch immer gearteten "Wir" zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der eigenen Verantwortung zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, in dem es vorgestanzte, für alle verbindliche Werte gibt – im Zweifelsfalle vorgesetzt von einer Autorität, die mir, gleichsam im zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’ kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir absolut und ewig bestehend erscheinen.

Die Individualisierung der Gesellschaft trifft derzeit weltweit mit voller Wucht auf ihr schieres Gegenteil. Eine Gegenbewegung, gekennzeichnet von der Unterordnung der Individuen unter eine Masse, die von Autokraten jedweder Couleur angeführt wird: von Göttern und ihren falschen Propheten, Oligarchen, potentiellen Diktatoren. Oder eben auch von ihrem Substitut: dem ökonomischen Diktat, der reinen Lehre der Funktionalität.

Der schnöde Gott Mammon und seine Hohepriester der neofuturistischen Bewegung. Die sektengleichen Vorreiter des digitalen Zeitalters, die flache Hierarchien predigen, aber streng hierarchisch organisiert sind. Die ihre Jünger vereinnahmen. Aufsaugen. Den ganzen Menschen fordern, ihn seiner Privatheit berauben: 24/7 stehen sie im Dienste seiner Heiligkeit. Werden eins mit dem System: vollständige Entindividualisierung vulgo Kollektivierung ist die Folge. Die Werte des Systems sind auch deine Werte. Entlassung bedeutet horror vacui, denn ohne das System und die dich beherrschenden Strukturen bist du nichts. Ein Niemand. Belanglos. Bedeutungslos.

Dieses Konstrukt einer im Elias’schen Sinne entzivilisierten Gesellschaft setzt für alle und alles absolut gültige Normen. Gibt einen verbindlichen Werterahmen vor. Definiert, was gut und böse, was richtig und falsch, was minderwertig und was förderungswürdig ist.

Aber: Sie gibt dem Menschen da Orientierung, wo das Individuum orientierungslos ist. Sie gibt ihm Sicherheit. Ordnung. Struktur. Die Menschen sind selig, sehnen sie sich doch geradezu nach diesem gesellschaftlich-sozialen, mithin zivilisatorischen Regress: der Rückkehr vom Ungesicherten zum Gesicherten. Sie geben sowohl ihre Eigenverantwortung als auch ihre 'Verantwortung für' leichten Herzens an der Pforte der Gemeinschaft ab, sind fürderhin nicht mehr verantwortlich für ihre Taten. Nachdenken und Reflexion wird obsolet, man übereignet sich dem allseits per se Akzeptierten. Und wird zum gefundenen Fressen für kommende Heilslehrer.

Die Kunst des Ermöglichens

Wer das nicht will, muss Flagge zeigen. Muss die Geisteswissenschaft, muss Kunst und Kultur vom Primat der Logik der Ökonomie, auch von der von Berg zitierten „Eventlogik“, befreien. Muss zulassen, dass ein funktionierendes, individualistisches Gegengewicht in der Gesellschaft bestehen bleibt. Ein Gegengewicht, das potentiell anarchisch und nicht funktional getrieben und zweckorientiert ist. Kunst und Kultur muss nonkonformistisch sein. Subversiv. Diskursiv. Reflexiv. Sie muss Gestalt gewordenes Plädoyer für das Recht auf Nutzlosigkeit, Dysfunktion, Fehler, Missverständnis und all die anderen Quellen der Inspiration und Innovation sein.

Es gibt Umstände, in denen es angemessen ist, der
Logik der Ökonomie zu folgen. Aber unter keinen Umständen darf man sich ihr unterwerfen. Und sie zum allgemein gültigen Prinzip erheben: Es ist diese Form grundsätzlicher Systemverweigerung, die konstituierend ist für das Niveau unserer Gesellschaft.